Nicola Schmidt

Der Elternkompass


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konnte nicht bewiesen werden. Eine Studienauswertung von 2004 kam damals auch zu dem Schluss: Wir wissen nicht, ob Koffein das Fehlgeburtsrisiko erhöht, die Studien sind zu schlecht.48 Das ist auch nachvollziehbar, denn wer würde sich für eine Studie melden, in der man per Zufall in die Gruppe der »Acht-Tassen-pro-Tag-Schwangeren« einsortiert würde, um zu sehen, ob man eine Fehlgeburt hat, eine Frühgeburt oder ein zu kleines Baby zur Welt brächte? Wir können bei diesen Themen stets nur fragen und hoffen, dass die Leute die Wahrheit sagen, und dann sehen, was herauskommt.

      Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt denn auch nicht – wie oft fälschlicherweise veröffentlicht –, sechs Tassen am Tag zu trinken, sondern sie rät Frauen mit einem Konsum von mehr als 300 Milligramm (also täglich drei Espresso oder anderthalb große Tassen starken Kaffees), ihre Koffeinaufnahme dringend zu senken, um kein Risiko für ihr Kind einzugehen.49

      Vorsicht ist übrigens auch bei Energydrinks angezeigt: Eine Dose enthält meistens den in Deutschland zulässigen Höchstwert an Koffein für Erfrischungsgetränke, nämlich 32 Milligramm pro 100 Milliliter. Da sind wir mit einer Dose von 250 Millilitern bei etwa 80 Milligramm Koffein, ab mehr als drei Dosen pro Tag sollten Schwangere also laut WHO ihren Bedarf »überdenken«.

       Auch Energydrinks sind im wörtlichen Sinne mit Vorsicht zu genießen. Eine Dose enthält meistens schon den zulässigen Höchstwert an Koffein für Erfrischungsgetränke

      Und ein Gläschen Wein? Das »fetale Alkoholsyndrom« (FAS) ist in Deutschland eine der häufigsten angeborenen Erkrankungen und betrifft bis zu 10 000 Kinder pro Jahr. Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist die häufigste erklärbare Ursache für Entwicklungsverzögerungen im Kindesalter, und sie ist irreversibel – es gibt also keine Therapien!50

      Wenn ein Fötus mit zu viel Alkohol konfrontiert wird, sind die Schäden enorm: Die Babys zeigen Essstörungen, motorische Unruhe und ausgeprägte Schlafstörungen, als Erwachsene werden diese Menschen oft falsch behandelt, sie leiden unter Depressionen, Angststörungen sowie Impulskontrollstörungen. Nur 10 Prozent von ihnen sind jemals in der Lage, ein selbstständiges Leben zu führen.51

      Manche Frauen machen sich nun große Gedanken, weil sie Alkohol getrunken haben, als sie noch nichts von ihrer Schwangerschaft wussten. Das ist aber den Medizinern zufolge erst mal kein Problem. Der Körper verfährt in den ersten vierzehn Tagen nach der Befruchtung nach dem sogenannten Alles-oder-nichts-Prinzip. Das bedeutet, dass sich eine im frühen Stadium schwer geschädigte Eizelle nicht weiter teilt und sich nicht in die Gebärmutter einnistet. Sie wird meistens unbemerkt mit einer »verspäteten« Regelblutung vom Körper wieder abgestoßen.

      Ist die befruchtete Eizelle gesund, so beginnt ihre Einnistung in der Gebärmutter am sechsten Tag nach der Empfängnis und ist am zehnten Tag endgültig abgeschlossen. Von jetzt an wird der Embryo über den Blutkreislauf der Mutter mit Nährstoffen versorgt. Das heißt, erst jetzt kommen auch Giftstoffe beim Kind an – oder schon jetzt. Wenn wir erst in der siebten Woche wissen, dass wir schwanger sind, sind das mehr als fünf Wochen, über die sich viele Frauen Gedanken machen. Aber nicht jeder Alkoholkonsum ist in gleichem Maße schädlich.

      Es ist nicht bekannt, wie viel Alkohol man trinken darf und wann es gefährlich wird. Die Daten über das FAS stammen alle von Kindern, deren Mütter einen hohen chronischen Alkoholkonsum hatten. Als gesichert gilt dennoch, dass 30 Gramm Alkohol pro Tag zu einem milden FAS führen und bei 60 Gramm schwere Formen des FAS entstehen – das heißt: Ein Bier täglich kann das Kind bereits nachhaltig schädigen, ab einem Glas Rotwein regelmäßig am Abend ist der Schwellenwert zur »schweren« Form des FAS überschritten, behauptet die Deutsche Gesellschaft für Ernährung.52

      Nach Zahlen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) trinkt in Deutschland jede fünfte Frau auch während der Schwangerschaft Alkohol, und acht von hundert Schwangeren trinken so viel, dass dies sogar bedenklich wäre, wenn sie nicht schwanger wären.53

       In Deutschland trinkt jede fünfte Frau auch während der Schwangerschaft Alkohol, und 8 Prozent der Schwangeren trinken so viel, dass dies sogar bedenklich wäre, wenn sie nicht schwanger wären.

      Die Wahrscheinlichkeit für riskanten Alkoholkonsum steigt übrigens mit einem hohen sozioökonomischen Status: Bis zu 30 Prozent der dieser Gruppe zugeordneten Frauen haben nach der DHS einen riskanten Konsum.54 Die DHS empfiehlt denn auch, Schwangere sollten schlicht nüchtern sein und bleiben: »Alle alkoholbedingten Folgeschäden bei Neugeborenen sind zu 100 Prozent vermeidbar!« Das kann man nicht von allen Behinderungen sagen. Es gibt zwar Studien, die behaupten, dass ein niedriger oder moderater Konsum unschädlich ist; aber was genau »moderat« und »sicher« ist, sagt einem niemand. Daher empfiehlt auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) null Promille.55

      In Großbritannien sieht man das übrigens anders: Hier wird für moderates Trinken geworben statt für »null Toleranz«,56 und eine britische Studie unter mehr als 10 000 Kindern, die vom dritten Lebensmonat bis zum siebten Lebensjahr beobachtet wurden, ergab, dass die Kinder moderat trinkender Mütter nach Angaben ihrer Lehrer und nach Mathe-Tests keine Verhaltensprobleme zeigten. »Moderat« hieß in dieser Studie, dass die Mütter maximal den Alkoholgehalt von einem Glas Wodka oder einem halben Liter Bier pro Woche oder pro angegebenes Event tranken.57

      Was heißt das für uns?

      Vorsorge mit Augenmaß – Eltern sollten sich ausführlich aufklären lassen und bewusst entscheiden, welche Tests sie machen lassen und welche nicht. Auch die vermeintlich korrekten Daten, die sie über ihr Baby erhalten, sollten immer mit Vorsicht behandelt werden.

      Die Schwangerschaft kann eine Zeit sein, in der wir unsere eigene Familie besser kennen lernen – das macht uns selbst stärker, wirkt aber auch langfristig positiv auf unsere Kinder. Es lohnt sich, einmal darüber nachzudenken – oder nachzufragen, falls wir es noch nicht aus den Erzählungen unserer »Altvorderen« kennen –, was die eigene Mutter in und vor der Schwangerschaft erlebt hat. Oder sogar die eigene Großmutter. Vielleicht tragen wir ein Erbe in uns, das uns den eigenen Umgang mit Stress besser erklären kann. Wenn das Kind erst geboren ist, können uns diese Informationen im Alltag sehr helfen.

      Falls wir in unserem Leben auf immer wiederkehrende Probleme stoßen, lohnt es sich herauszufinden, ob unsere Groß- oder Urgroßeltern dauerhaft großen Stress hatten (Krieg, Vertreibung, Hunger oder auch Trennung, finanzielle Unsicherheit oder Gewalt). Vielleicht bringt uns ein untröstlich weinendes Baby schon nach kurzer Zeit an den Rand des Wahnsinns – was nicht hilfreich ist, aber eine alte vererbte Stressantwort sein könnte. Wenn wir wissen, dass es nicht »an uns« liegt, dass wir nicht einfach »nicht gut genug« sind und uns nicht einfach nur »mehr anstrengen« müssen, sondern dass wir wirklich Hilfe brauchen, dann können wir durch Meditation, emotionelle erste Hilfe und Training vieles verändern. Schon wenige Sitzungen bei einem speziell ausgebildeten Therapeuten können Eltern helfen, ihr weinendes Baby durch tiefes Atmen und eigene Entspannung richtig zu regulieren und besser zu beruhigen. So können wir vermeiden, dass wir unseren Stress eins zu eins auf das Baby übertragen, und auch sein Stresssystem »mit beruhigen«. Ich wünschte mir oft, ich hätte all das früher gewusst!

      Erfreulich ist auch, dass wir unseren Stress nicht übertragen müssen, ja, dass unsere Kinder völlig frei davon sein können: Denken wir an die umsorgten Rattenbabys, die wieder auf »sichere Umgebung« umschalten konnten. Vielleicht tun auch wir damit in den ersten Lebensmonaten unserer Kinder schon den Enkelkindern einen Gefallen – denn die Ratten benahmen sich später bei ihren eigenen Kindern wiederum nicht gemäß ihrer epigenetischen Prägung, sondern wie von Anfang an »umsorgte« Tiere. In jedem Fall sollte das Wissen um diese Mechanismen zu mehr Wohlwollen uns selbst gegenüber und Selbstfürsorge führen; denn wir sind »gut genug«, nur manchmal macht es uns unser Erbe einfach schwer, und daran können wir gezielt arbeiten.

      Schwangere brauchen jede Unterstützung, die die Gesellschaft anbieten kann, damit sie nicht unter chronischem Stress stehen. Als Gesellschaft tun wir gut daran, unsere Schwangeren zu schützen: Sie sollten weder von Armut bedroht noch in unsicheren sozialen