sollte oder nicht, ist eine sehr persönliche Entscheidung. Aber dass sie auf ihre persönliche Art und Weise gebären kann (und das kann auch heißen, einen Kaiserschnitt durchführen zu lassen), ist enorm wichtig dafür, wie sich die Frau mit diesem »einschneidenden« Ereignis in ihrem Leben fühlt und wie sich die Beziehung zu ihrem Kind entwickeln kann. Eltern sollten sich also gut über den Geburtsort informieren, sich darüber im Klaren sein, was sie selbst brauchen und wo sie dies bekommen können. Viele »Routine«-Praktiken wie Zeitdruck in der Eröffnungsphase, das ständige Tasten des Muttermundes während der Geburt oder schnelles Abnabeln des Neugeborenen stören die Intimsphäre der Gebärenden, sind unnötig oder sogar schädlich und brauchen von niemandem akzeptiert zu werden.
Um ihrer Familie einen gesunden Start zu ermöglichen, müssen Eltern ihre Bedürfnisse kennen und gegebenenfalls in einem überlasteten, auf Sicherheit und Routine aufgebauten Gesundheitssystem durchsetzen.
UNSERE BABYS SIND FRÜHGEBORENE – UND ZWAR ALLE
Die meisten Säugetiere kommen mit 90 Prozent ihres späteren Gehirnvolumens zur Welt. Schimpansen, unsere engsten Verwandten unter den Menschenaffen, legen zum Beispiel ein rasantes Gehirnwachstum kurz vor der Geburt hin, danach verlangsamt es sich.64 Ein Menschenbaby wird mit 25 Prozent seines späteren Gehirnvolumens geboren und zeigt ein ungewöhnlich schnelles Gehirnwachstum auch noch nach der Geburt bis ins zweite Lebensjahr hinein. Es gibt daher Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass unsere Babys eigentlich noch viele Monate im Bauch bleiben müssten, um »reif« geboren zu werden – aber dann würden sie nicht mehr durch unsere engen Becken passen, die sich an den aufrechten Gang angepasst haben. Daher müssen sie früher raus. Und es ist erstaunlich, wie gut sie diese »physiologische Frühgeburt« meistern.
Eine Homo-sapiens-Geburt hat theoretisch verschiedene Phasen: die Eröffnungs-, die Übergangs-, die Austritts- und die Nachgeburtsphase. So sagt man in Deutschland, international spricht man oft von drei Phasen. Und damit fängt die Unsicherheit an: Geburtsstadien an sich sind eine Erfindung des Industriezeitalters, und frühe Wehen gehörten lange gar nicht dazu.65 Wann die ersten »effektiven Wehen« starten, ist eigentlich nicht so wichtig. Nur für diejenigen, die den Geburtsprozess überwachen müssen oder wollen, spielt es eine Rolle. Gleichzeitig ist es leider schwer zu sagen, wann sie beginnen, weil es keine biologischen Marker gibt, an denen man es festmachen könnte. Wissenschaftler ziehen sich daher darauf zurück, dass es eine fünfwöchige Phase rund um den errechneten Termin (der selbst sehr unsicher ist) gibt, in der eine Geburt »normal« ist. Das Problem: Die Forschung zeigt, dass die Interventionsrate steigt, wenn Gebärende zu früh ins Krankenhaus gehen.66 Die WHO hat in diesem Wirrwarr für sich entschieden, dass die aktive Geburt beginnt, wenn der Muttermund 5 Zentimeter eröffnet ist. Andere empfehlen sogar, die Geburt erst ab 6 Zentimetern Eröffnung als begonnen anzusehen, um die Kaiserschnittraten deutlich zu senken.67 Wenn sie es möchte, kann jede Frau auch selbst die Eröffnung ihres Muttermundes mit zwei Fingern prüfen. Es gibt keinen Grund, dass Fremde in die Intimsphäre der Gebärenden greifen, was vor allem die Gefahr der Keimübertragung erhöht. Forscher halten vaginales Tasten des Muttermundes im Übrigen eh für überholt: »Es ist überraschend, dass diese Intervention ohne zuverlässigen Nachweis der Wirksamkeit so weit verbreitet ist, insbesondere angesichts der Sensibilität des Verfahrens für die Frauen, die es erhalten, und des Potenzials für nachteilige Folgen in einigen Situationen.«68
Bei vielen Erstgebärenden ist die Eröffnungsphase sehr lang, und sie gehen zu früh ins Krankenhaus, was sie dann einer klinischen Routine unterwirft, die ihnen eine bestimmte »Zeit« für die Eröffnungsphase zuschreibt. Doch der »vorgeschriebene« 1 Zentimeter pro Stunde, der oftmals gilt, stammt aus sechzig Jahre alten Studien,69 die die »ideale Wehentätigkeit« beschreiben sollten, aber mittlerweile durch neue Beobachtungen infrage gestellt werden. In einer Studie von 1996 hatten bis zu 20 Prozent aller Frauen nach den alten Daten »zu langsame« Eröffnungen, ohne dass dies negative Effekte für Mutter oder Kind gehabt hätte. Eine andere Studie stellte fest, dass die Eröffnung von 4 auf 6 Zentimeter bis zu neun Stunden dauern kann, ohne dass es zu Komplikationen kommt.70 Wie schnell sich ein Muttermund öffnet, scheint von Frau zu Frau völlig unterschiedlich zu sein. Eltern sollten also vorher nachfragen, ob an ihrem Geburtsort noch die alte Regel »1 Zentimeter pro Stunde« gilt. Das britische NICE (National Institute for Health and Care Excellence) hat denn auch 2017 festgehalten, dass für Erstgebärende die Eröffnungsphase der Geburt bis zu achtzehn Stunden und für Mehrgebärende bis zu zwölf Stunden dauern kann, ohne dass es nötig wäre, die Geburt künstlich zu beschleunigen.71
Alles, was eine Frau stresst, also der Wechsel der Hebamme, helles Licht, plötzliche laute Geräusche, sollten während der Eröffnungsphase möglichst unterbleiben.
Es kann wie gesagt klug sein, vor allem die erste Phase der Geburt weitgehend in einer vertrauten Umgebung zu verbringen, zum Beispiel zu Hause, weil das Wehenhormon sich sonst schnell zurückzieht. Wenn wir starke Mütter und starke Kinder wollen, sollten wir Frauen auch unterstützen, die Geburt aktiv zu erleben, was daheim oder in einer nichtklinischen Situation deutlich einfacher zu sein scheint. In einer kleinen Beobachtungsstudie zeigte sich, dass Frauen im Krankenhaus sich eher wie Patienten verhalten, sie reagieren passiv auf das Geschehen und das Personal. Frauen in Geburtshäusern oder zu Hause sind deutlich aktiver – besonders aktiv und entspannt sind sie übrigens unter der Dusche, wo sie sich freier bewegen als anderswo.72
Die erste sensible Geburtsphase wird vom Oxytocin gesteuert, und Hebammen wissen, dass alles, was die gebärende Frau stresst, diesen Prozess stört. Dies könnte auch der Wechsel des Betreuungspersonals auslösen, weil die Frau anfängt, Stresshormone auszuschütten, die die körpereigenen Wehenhormone hemmen.
Die Übergangsphase ist der Moment, in dem das Kind sich im Becken einstellt. Sie ist oft kurz und heftig, und viele Mütter haben jetzt das Gefühl, dass sie es wirklich nicht mehr aushalten können. Sie schreien und weinen, rufen nach Hilfe oder erklären, man könne jetzt getrost ohne sie weitermachen – was vollkommen okay ist, denn jetzt ist das Kind gleich da.
In der Austrittsphase wird das Kind geboren, der Kopf ist bereits an den Eingang des Beckens gerutscht, und das Kind wird jetzt von der Kraft der Mutter herausgedrückt oder – wie der renommierte Arzt und Geburtshelfer Michel Odent sagt – per »Ausscheidungsreflex geboren«. Das Kind drückt in dieser Phase auf den Enddarm der Mutter, was sich so anfühlen kann, als müsse sie zur Toilette. Es ist gut, das vorher zu wissen, denn statt sich für ihren Darmdrang zu schämen, kann sie sich jetzt darauf freuen, dass es gleich geschafft ist.
In der Austrittsphase drückt das Baby auf den Enddarm der Mutter. Sie sollte das vorher wissen, denn statt sich für ihren Darmdrang zu schämen, kann sie sich jetzt freuen, dass es gleich geschafft ist.
Ist das Baby da, kommt die Nachgeburtsphase, in der die Plazenta geboren wird. Auch hier gibt es keinen Zeitdruck – es kann zehn bis zwanzig Minuten, aber manchmal auch eine Stunde dauern, bis die Plazenta da ist. Wenn die Mutter mit dem Baby jetzt sofort Haut an Haut kuscheln kann, geht es leichter und schneller mit geringen oder ohne Blutungen.
Auch wenn man bei uns immer wieder Frauen auf dem Rücken liegen und Kinder gebären sieht: Es gibt kaum eine unpraktischere Geburtsposition als diese – rein physiologisch betrachtet –, weil das Baby dann im Becken »nach oben« geboren werden muss (Geburtshelfer witzeln oft, noch unpraktischer sei eigentlich nur der Kopfstand). Bei der Geburt im Stehen, auf allen vieren oder im Hocken hilft die Schwerkraft mit, es geht dann zwar statistisch nur ein paar Minuten schneller, aber es gibt weniger Dammschnitte und Zangen- oder Saugglockengeburten.73
ATMEN UND HECHELN – MUSS DAS SEIN?
So mancher gestresste Zeitgenosse fragt sich vielleicht: Lohnt sich der Geburtsvorbereitungskurs? Eine randomisierte Studie untersuchte 176 Erstgebärende in Australien, von denen man per Zufall ausgesuchte Paare vor der Geburt in sechs evidenzbasiert hilfreichen Techniken unterrichtete: Akupressur, Entspannungstechniken, Atmung, Massage, Yoga und Unterstützung durch den Partner. Das Ergebnis: Die Gebärenden mit Kurs brauchten deutlich seltener Schmerzmittel,