von der Norm zu zeigen sowie einen interkulturellen Dialog zu führen und so die kulturellen Besonderheiten beider Seiten kontrastiv herauszuarbeiten.
Der seit Generationen erhobenen Forderung, über die Umstände, Bedingungen, Konflikte während der Arbeit vor Ort zu berichten, wird nicht zuletzt wegen der Persönlichkeitsrechte und wegen des Arbeitsaufwandes sehr selten entsprochen, und wer es dennoch getan hat oder tut, gibt unvermeidlich viel Persönliches preis. Diese Offenheit macht sichtbar, wie sehr die Daten in der Ethnologie – und wohlgemerkt in den meisten kulturwissenschaftlichen, um nicht zu sagen wissenschaftlichen Disziplinen schlechthin – einen momentanen Kenntnisstand wiedergeben und sich eher auf der Ebene von augenblicklichen Impressionen als auf der von dauerhaften, festen Fakten bewegen. Mit dem doppelsinnigen Titel „Indisches Drama“ kommt Hilde Link hier der Forderung nach, offenzulegen, wie sie an die Daten gekommen ist.
Eine Besonderheit einer ethnologischen Feldforschung liegt darin, dass diese meist in einer kulturell fremden und in vielen Teilen überhaupt nicht vertrauten Welt durchgeführt wird. Die forschende Person muss erst einmal die fremden kulturellen Selbstverständlichkeiten und Besonderheiten lernen und hat ständig mit Situationen zu tun, die für sie Premieren sind. Wer sich heraus begibt aus der eigenen Kultur, befindet sich als erwachsener Mensch in einer Rolle, die innerhalb der Gesellschaft in der Regel nur Kinder durchlaufen, an die selbstverständlich andere Erwartungen gestellt werden als an einen Erwachsenen, auch wenn er ein Fremder ist.
Aufschlussreich, mitunter dramatisch, wird es dort, wo diese indische Welt mit dem Wertekanon einer Mitteleuropäerin zusammenstößt: konfliktträchtige Diskrepanzen bei zentralen Fragen des Lebens, bei dem, was als Recht und als Unrecht gilt, bei der unterschiedlichen Wertung von Symptomen, etwa als Anzeichen von Krankheit auf der einen Seite, als religiösvirtuoser Zustand auf der anderen. Oder herausfordernde Aufgaben beziehungsweise Gegebenheiten, etwa wenn jemand zum Spielball zwischen Kasten wird, wenn man sich fragen muss, wie jemand vor Gesichtsverlust bewahrt werden kann, wie man sich in einem ethischen Dilemma verhält oder wie man unversehens zu einer indischen Tochter kommt. Das zwingt zu Auseinandersetzungen, welche Divergenzen zwischen der eigenen und der fremden Einstellung zum Leben offenlegen und die unlösbare Verflechtung der ethischen Normen mit der jeweiligen kulturellen Tradition vor Augen führen.
Dieses Lernen der Eigenheiten und Techniken der anderen Kultur ist gleichzeitig eine hocheffiziente Diagnosehilfe. So ist es Fremden möglich, Fragen zu stellen, Präzisierungen zu erbitten, die ein Angehöriger der eigenen Kultur üblicherweise übergeht aus der Befürchtung, sich zu kompromittieren oder weil ihm die Mehrdeutigkeit einer Aussage nicht so bewusst vor Augen geführt wird, wie wenn man sie in eine andere Sprache bzw. Kultur übertragen will.
Hilde Link eröffnet Einblicke und zeichnet Impressionen, die das Leben in Tamilnadu und Züge aus der Tamilkultur ganz unmittelbar vermitteln und erklären. Man müsste sich durch umfangreiche wissenschaftliche Ethnographien, Abhandlungen und Diskussionen arbeiten und würde dennoch manches nicht erfahren. Darin liegt der besondere Wert eines solchen erzählenden Berichtes.
Wer das dörfliche Tamilnadu im Jahr 2020 vor Augen hat, stellt fest, wie aktuell das ist, was Hilde Link beschreibt, wie wenig sich geändert hat in den mehr als dreißig Jahren seit ihrer Feldforschung. Freilich ist der Zustand der großen Verbindungsstraßen unvergleichlich besser geworden, doch kaum biegt man von diesen ab, führen Schlaglochpisten und Staubwege zu den Dörfern und Slums. Der Straßenverkehr ist wesentlich dichter geworden und strapaziert die Nerven wie eh und je. Allerdings ist der ‚König der indischen Straße‘, der Ambassador, 2014 von Hindustan Motors aus der Produktion genommen, heute weitgehend von modernen Autos verdrängt, und wer früher per Fahrrad oder Moped vom Typ TVS 50 unterwegs war, fährt heute ein Auto, beliebter Anteil der Mitgift, einen Roller oder ein Motorrad.
In den Großstädten herrscht nach wie vor ein Wettbewerb im Zur-Schau- Stellen von Wohlstand oder Reichtum. Und da jeder besser dastehen möchte, als er es sich leisten kann, blüht das Hypothekar- und Kredit-Geschäft. Eine Verlockung, die viele Menschen in die fatale Schuldenfalle treibt. Zur optischen Modernisierung der Großstädte tragen die riesigen Investitionen von internationalen und indischen Großkonzernen bei, aber die Infrastruktur hinkt erheblich hinterher.
Heute bleibt man im Indian Coffee House vor Wanzenstichen verschont. Man findet Bioprodukte, Aufrufe zur Schonung der Umwelt; die Grünflächen in den Siedlungen und die umliegenden Felder sind mit weniger Plastikmüll übersät als zuvor, nachdem die indische Regierung im Jahr 2020 Plastiktüten verboten hat. Dafür wachsen an versteckten Stellen gigantische Berge von kompakt gepresstem Müll empor, seit Indien ein Großabnehmer vorwiegend toxischer europäischer Abfallstoffe geworden ist.
Rinnsale von Modernisierungsströmen erreichen auch die Dörfer. Doch obwohl Fernsehen und Internet auch dorthin vorgedrungen sind, hat sich wenig grundlegend geändert. Nach wie vor herrschen weitgehend die gleichen hygienischen Bedingungen. Der Alkoholmissbrauch lässt viele Familien zerbrechen, die Gewalt von Männern gegenüber Frauen und Kindern und das Gefälle zwischen den Geschlechtern sind geblieben, und das Kastensystem, offiziell seit der indischen Unabhängigkeit abgeschafft, besteht ungebrochen fort.
Der Einfluss von Fernsehen und Presse schürt gegenwärtig zwei gegenläufige Tendenzen. Einerseits gelangen sozialkritische und die Liberalisierung der Gesellschaft anmahnende Stimmen bis in die Dörfer, andererseits nehmen nationalistisch-hinduistische Strömungen in den letzten Jahren deutlich zu. Das fördert konservative Einstellungen auch und gerade auf dem Land. So kann man gegenwärtig eine Verschärfung der Abgrenzungen der einzelnen religiösen Gruppierungen voneinander sehen, die häufig eine Stigmatisierung der andersgläubigen Minderheiten zur Folge haben. Im Zuge dieser Rückbesinnung werden traditionelles Brauchtum und religiöse Riten beflissen beachtet, mitunter sogar ausgeschmückt und neu inszeniert. ‚Tradition‘ wird neu erfunden und als uralt oder wieder aufgefunden ausgegeben.
Die Kommerzialisierung alter Traditionen hat neben dem traditionellen indischen Tanz auch das Terukkuttu-Drama erfasst. Es wird in zunehmendem Maße zur Folklore zurechtgestutzt und für Touristen in Hotels oder auf großen indischen und internationalen Folklorefestivals aufgeführt, u.a. auch in Europa. Die Darsteller, oft junge Männer, die mit der Tradition keinerlei Verbindung haben, stecken in überladenen, bunten und karnevalesken Kostümen. Von entsprechendem Wert sind auch die Aufführungen. Auf den Dörfern abseits von Touristenströmen lebt jedoch die Terukkuttu-Tradition weiter wie ehedem.
Gerade unter dem Gesichtspunkt des Wandels wäre eine erneute Untersuchung der kultischen Dramen in höchstem Maße lohnend.
„Indisches Drama“ folgt chronologisch dem Weg der Forschung in Indien. Hilde Link führt die einzelnen Schritte, die Situationen und Personen plastisch vor Augen und zeigt eine indische Welt von damals und heute abseits der Metropolen, die sich dem Touristen oder dem Indian-Traveller zumeist verschließt, die in keinem Reiseführer zu finden ist, in wissenschaftlichen Publikationen ausgespart wird, selbst Städtern in Indien verborgen bleibt und die doch für weit mehr als die Hälfte der indischen Bevölkerung Lebenswirklichkeit ist.
Matthias Samuel Laubscher*
*Matthias Samuel Laubscher hatte 1986 als Vorstand des Instituts für Völkerkunde und Afrikanistik der Ludwig-Maximilians-Universität München das Projekt „Terukkuttu“ bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft beantragt.
Zur Schreibweise der Tamil- und Sanskrit-Begriffe
Wie schon bei „Mannfrau“ (Heidelberg: Draupadi Verlag, 2015) habe ich mich auch in diesem Buch entschieden, für die Tamil- und Sanskrit-Begriffe, die Namen der Götter eingeschlossen, die gebräuchlichste Schreibweise zu verwenden und ohne Diakritika zu arbeiten. Die Begriffe sind in etwa so geschrieben, wie man sie spricht. Zwar mögen Indologen, speziell Tamilisten, jetzt aufschreien. Aber irgendwer schreit bei Umschriften immer auf. Ich halte es so wie der große Historiker Eduard Meyer. In seiner „Geschichte des Altertums“ sieht er den Ausweg darin, „ganz prinzipienlos zu verfahren“.
Indische Bürokratie
„Einfach dann innerhalb von 48 Stunden in Indien ins Immigration Office gehen