Hilde Link

Indisches Drama


Скачать книгу

die Hühnchen sind aber klein hier in Indien, was für winzige Knöchelchen. Konrad klärte mich später auf, dass das keine Hühner, sondern Krähen sind, die sich von Aas und den Stoffwechsel-Endprodukten ernähren, die Fischer am Strand in ihrer Open-Air-Toilette hinterlassen. Indischen Gästen ist das egal, ob Krähe oder Huhn, Hauptsache gut gewürzt. Gerade als ich das erste Stück des köstlichen Gerichtes gegessen hatte, trat ein athletischer junger Mann an meinen Tisch und fragte, ob er sich zu mir gesellen dürfte.

      „Bitte, gern.“

      „Ich bin Ray“, sagte der blond gelockte Schöne.

      „Ray, wie X-ray?“, fragte ich und fühlte mich originell.

      „Ray wie – sunray.“

      Der Sonnenstrahl bestellte auch kurz entschlossen das abgetippte Gericht, also „chicken 65“, nachdem ich ihm versichert hatte, wie lecker das schmeckt. Ray war Banker aus dem United Kingdom und hatte gerade einen überaus erfolgreichen Geschäftsabschluss in Bombay mit einer indischen Bank hinter sich. Die Geschäfte habe er unerwartet zügig abgewickelt, jetzt wolle er in Pondicherry Urlaub machen. Mir gegenüber saß der personifizierte Erfolg, ein Held der Londoner Lombard Street. Und was hatte ich Versagerin vorzuweisen? Meine Pleite mit der Aufenthaltsgenehmigung und ein Forschungsprojekt, das ich noch gar nicht kannte. Ich mochte gar nicht dran denken, machte einen auf coole Ethnologin und gab wenigstens mit meiner Doktorarbeit an: eine Studie über Mikronesien. Wo Mikronesien ist, wusste Ray nicht und überspielte seine Unkenntnis mit:

      „Ich kenne nur Millionesien. Von Dagobert Duck.“

      Gott, wie einfallsreich und witzig dieser Mann doch war. Ich lachte amüsiert und erklärte ihm, wo die Inselgruppe ist, nämlich im Pazifik.

      „Dann bist du also Pazifistin“, bemerkte Ray, wieder so einfallsreich und witzig wie vorhin.

      Ich bejahte, ja, ich bin Pazifistin, genau.

      Während des Essens sahen wir ein Kind am Strand, wie es von den Wellen hin und her geschubst wurde und wie der Sand anfing, es zu bedecken. Ray sprang auf und sprintete quer durchs Lokal ans Meer. Schade, dass er nicht noch ein paar Tische umgerissen hat, das hätte mir gefallen. Ich hechtete hinterher, so schnell ich konnte, und kam an, da war das Kind schon gerettet. Allerdings nicht von Ray. Der Junge hatte nur „Ich bin ertrunken“ gespielt. Seine Freunde lachten, als Ray es hochriss, mit dem Kopf nach unten über sein linkes Knie legte und ihm auf den Rücken klopfte. Dieser Mann war ein Held, nicht nur in London, sondern auch in Pondicherry: entschlossen und selbstlos, jederzeit bereit, Menschenleben zu retten. Zurück bei unseren inzwischen kalt gewordenen vermeintlichen Hühnchen, erwähnte der Verehrenswerte, wo wir schon mal beim Thema waren, dass er eine Woche zuvor in Bombay eine ganze Schulklasse samt Lehrerin aus den Fluten gerettet habe. Er sei nämlich Rettungsschwimmer. Donnerwetter! Held auch noch in Bombay.

      Auch Ray wohnte im Ashram-Gästehaus. Nebeneinander gingen wir die Treppen zum ersten Stock hoch. Sein Zimmer war links von der Treppe, meines rechts. Obwohl ich ihm erzählt hatte, dass ich verheiratet bin, nahm er bei der vorletzten Stufe meine Hand und zog mich nach links. Oben angelangt ging ich ohne jeden Kommentar nach rechts. So ein einsames Herz war ich nun auch wieder nicht.

      Gegen neun Uhr – in Deutschland war es jetzt halb fünf Uhr morgens – betrat ich den Frühstücksraum des Gästehauses. Auf jedem Tisch stand ein Plastikschildchen mit weisen Zitaten der Mutter oder Sri Aurobindos. Sowas wie: „Die Ewigkeit ist unendlich“ oder „Gnade.“ Ray hatte sich für „Alles Leben ist Yoga“ entschieden und wartete seit sieben Uhr morgens auf mich. Er habe nicht schlafen können, denn Abgewiesen-Werden sei für ihn ganz was Schlimmes, das sei er ja so gar nicht gewöhnt. Das Porridge in seiner Schale war angetrocknet, und auf dem Tisch standen fünf leere Tassen, auf deren Grund sich Reste von Kaffee, Zucker und Milch zu bizarren Landschaften formiert hatten. Ideal zum Kaffeesatzlesen. Konnten wir aber zum Glück nicht, sonst hätte ich da schon gewusst, dass die nächsten eineinhalb Jahre kein Ethno-Ringelrein auf dem Abenteuerspielplatz Indien werden würden, sondern das blanke Martyrium. Ich holte mir einen Knoblauchtoast und drei Tassen Tee. Knoblauch ist nämlich gesund und macht fit. Bei der Wahl meines Sitzplatzes achtete ich darauf, nicht den Park im Blickfeld haben zu müssen. Schon nach den ersten Bissen lehnte Ray sich in seinem Stuhl zurück. Ich erzählte ihm, dass ich gleich von einem Kollegen abgeholt werde, um eine Wohnung zu besichtigen, in der ich mit meiner Familie zwei Jahre lang zu leben gedachte. Ray wünschte mir von ganzem Herzen viel Glück und beteuerte mir, dass er für mich da sei, und fragte, ob wir uns zum Mittagessen wieder hier bei „Alles Leben ist Yoga“ treffen wollten. Ich sagte: „Warum nicht“. Da hatte Ray schon beschlossen, seinen Urlaub mit mir zu verbringen.

      Punkt, wirklich punkt elf stand Konrad am Eingang des Frühstücksraums und winkte. Ich verabschiedete mich von Ray und freute mich aufrichtig, dass Konrad gekommen war.

      Wir gingen die Uferpromenade entlang, ohne viel zu reden. Konrad ist nicht gesprächig. Wenn er was sagt, dann Essentielles. Und Essentielles gab es gerade nicht zu besprechen. Wir bogen von der Avenue Goubert in die Rue du Bazar Saint Laurent ab und gelangten schließlich zur Rue La Bourdonnais. La Bourdonnais war im 18. Jahrhundert der Gouverneur von Mauritius. Auf dieser Insel sollte ich später einmal arbeiten. Es ging um indische Tempel als politische und wirtschaftliche Machtzentren. Diese Forschung hatte ich beantragt, weil meine Kinder, inzwischen in der Pubertät, gesagt hatten: „Mama, in diese Zumutung von Indien kannst du künftig alleine fahren. Andere Mütter sind auch Ethnologinnen, und die arbeiten in der Karibik oder irgendwo sonst auf der Welt, wo es schön ist. Wir bleiben zu Hause, schließen uns kriminellen Banden an und werden drogenabhängig, während du in Indien bist.“ Also hatte ich mir überlegt, wo es schön ist auf der Welt und wo sonst noch Inder sind, und kam auf Mauritius. Die Kinder waren einverstanden. Ich stellte einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, und als dieser bewilligt worden war, flogen wir alle miteinander nach Mauritius. Meine Töchter belegten Tauchkurse und flirteten mit den örtlichen Beach Boys, während ich im Landesinneren, da wo sonst niemand hinkommt, eifrig nach indischen Tempeln Ausschau hielt und die Priester befragte, was sie außer religiösen Zeremonien noch so alles treiben. Wirtschaftlich und politisch gesehen. Abends ließen wir uns dann gemeinsam mit den anderen Urlaubern den weißen Rum schmecken, feierten Grillpartys und schauten aufs Meer. Dieses Projekt bescherte uns sogar noch eine Kongressreise nach Japan. In Kyoto und Osaka hat es uns auch gut gefallen. Wären wir sonst ja nie hingekommen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist eine wunderbare Einrichtung. Kleiner Tipp: Drohungen von pubertierenden Kindern unbedingt ernst nehmen.

      Die Rue La Bourdonnais Nummer zwei war keine Wohnung, sondern ein französischer Kolonialbau mit verschnörkelten Gittern an den hohen Fenstern. Das Haus war von zwei Parteien bewohnt: von Rebecca Gottlieb und von Mr. Shubash, beide Ashramiten. Nach mehrmaligem Klopfen mit dem Vorhängeschloss an das hohe, weiß gestrichene Gittertor vernahm ich ein langgezogenes „Muuuuhh“. Die violetten Bougainvilleen wucherten über die Mauer und bildeten über Konrad und mir eine Laube.

      Eine Kuh im Garten dieser Villa?

      „Rebecca, mach auf!“ Konrad war ungeduldig.

      Eine ältere Frau im abgewetzten Sari kam mit einem Schlüssel in der Hand herbeigeeilt und öffnete das Tor.

      „Vanakkamaaya“, (Tamil: Willkommen, Großmutter) sagte Konrad höflich.

      „Vanakkamaya“, (Tamil: Willkommen, gnädiger Herr) antwortete die Großmutter. Mir schenkte sie ein freundliches Lächeln.

      Auch ich sagte „vanakkamaaya“, schließlich hatte ich nicht umsonst Tamil gelernt.

      Die Aaya ging langsam mit wiegendem Schritt voraus und führte uns einen kleinen Weg entlang durch den Garten zu einer von Fächerpalmen gesäumten Terrasse, deren Decke von zwei dorisch nachempfundenen Säulen getragen wurde.

      Wir sollten doch auf den Rattansesseln einstweilen Platz nehmen, ob wir einen Tee wollten. Nein, danke.

      Wieder ein tiefes „Muuuuh“, das aus dem Haus zu kommen schien.

      Die ratlos dreinblickende Aaya führte uns durch ein hohes Holztor, hinein in einen fast doppelt so hohen Raum. In einer Ecke dieser Halle lag eine füllige Gestalt,