der einzige Spielkamerad und baute mit ihnen im Garten Erdburgen, spielte Fangen, soweit es seine Puste zuließ, oder Verstecken. Ich tat etwas für die Bildung, erwarb das gesamte große Epos Mahabharata, da geht es um einen Erbfolgekrieg, und das Ramayana, eine Liebesgeschichte, als mehrbändige Kinderbücher mit grell-farbigen Abbildungen. Als Gute-Nacht-Geschichten las ich den Kindern in englischer Sprache einzelne Episoden vor und erklärte, was sie nicht verstanden hatten. Noch heute kennen sie die beiden Epen in- und auswendig. Johanna, die später Indologie, Ethnologie und Vergleichende Religionswissenschaften studierte, hatte noch in ihrer Studienzeit die bunten Bilder vor Augen. Allerdings hatten sich zwischen Manuel und mir Meinungsverschiedenheiten aufgetan. Er fand nämlich, dass das Mahabharata zu grausam ist für zarte Kinderseelchen. Vor allem die Geschichte von Hidimba, dem Dämon, der gerne Blut trank und Menschenfleisch verzehrte und der mit blutigen Fangzähnen abgebildet war, sollte ich unter keinen Umständen vorlesen, schon gleich gar nicht die entsprechende Abbildung zeigen. Das würde Albträume auslösen, an deren Folgen die Kinder für immer ein Trauma davontragen würden. Künstler sind sensibel. Ich hingegen war der Ansicht, das Mahabharata ist, wie es ist, und da kommt eben Hidimba drin vor, und man darf nicht eigenmächtig an jahrtausendealten indischen Traditionen herummurksen, indem man einfach das weglässt, was man aus ethnozentristischer Sicht für didaktisch unpassend hält. Ich würde schließlich auch nicht sagen, dass das Fangen-Spielen bei den Kindern einen Erschöpfungszustand hervorruft, der im Alter dann die Ursache für einen Herzinfarkt ist.
Manuel und ich versuchten verzweifelt, in diesem Land beruflich irgendwie Fuß zu fassen. Zwar hatte Manuel begonnen, alle möglichen Künstler- Kollegen anzuschreiben, weil er vorhatte, ein internationales Symposion zu organisieren, auch zum Deutschen Generalkonsulat hatte er Kontakt wegen einer Finanzierung aufgenommen, aber bisher hatte noch niemand geantwortet. Kein Wunder, der Briefträger konnte nicht lesen und stellte, wenn überhaupt, nur zu, was schön und deutlich auf Tamil aufgemalt war. Ach, wären wir doch nie hierhergekommen. Ich fragte Aaya, ob sie mir helfen könne, wen zu finden, der etwas mit Straßentheater zu tun hat. Sie versprach, sich umzuhören.
Um mich theoretisch auf meine Aufgabe vorzubereiten, ging ich in die École Française d’Extrème-Orient in der Rue Dumas. Das im französischen Kolonialstil gebaute Gebäude ist inzwischen Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Für einen Wissenschaftler ist diese Institution ein Traum. Kein Buch zu meinem Forschungsvorhaben, das nicht da war. Ich traute meinen Augen nicht, welche Raritäten sich vor mir auftaten. Als Erstes wies mir der Direktor, dem ich mich vorgestellt hatte, einen eigenen Arbeitsplatz zu. Auf einem riesigen Teakholztisch fanden sich schon am nächsten Tag alle bestellten Bücher, die der Bibliothekar für mich herausgesucht hatte. Kopien wurden selbstverständlich gemacht, ich brauchte nur die entsprechenden Seitenzahlen zu notieren. Das ist nicht so wie in der Bayerischen Staatsbibliothek, wo man mehr mit Suchen, Bestellen, Kopieren und Abholen beschäftigt ist als mit Lesen. Ich liebte es, mich in der Stille meines Arbeitsraumes aufzuhalten. Der Duft von Neem-Öl, mit dem die alten Palmblatt-Handschriften eingelassen werden, um sie zu konservieren, verursachte in mir fast ein Gefühl der Andacht. Erst einmal war ich damit beschäftigt, in diesem Eldorado all das zu lesen und mir zu erarbeiten, was ich für meine praktische Arbeit auf den Dörfern brauchen würde.
Die Kinder fingen an, sich zu langweilen. Manuel meinte, man müsse für sie Tiere anschaffen. Für bunte Fische wurde ein Aquarium auf der Terrasse platziert, für Trick und Track, zwei Enten, ein Teich im Garten angelegt. Die dicke Katze Anjimaniku, die zum Haus dazu gehörte, hatte Gesellschaft. Der Name der Katze bedeutet „um fünf Uhr“. Zu dieser Uhrzeit war sie damals bei Rebecca eines schönen Tages aufgetaucht. So etwas wie Alltag war eingezogen. Manuel und ich wechselten uns mit der Kinderbetreuung ab. Bald hatte sich in der Straße herumgesprochen, dass zwei weiße Mädchen hergezogen waren, und Johanna und Lena bekamen regelmäßig Besuch von indischen Kindern aus der Nachbarschaft. Eines der Mädchen war Rani, „die Königin“. Rani tauchte schon am frühen Morgen vor der Schule auf, weil es bei uns Reisbrei mit Milch zum Frühstück gab. Nach der Schule kam sie zum Mittagessen und blieb bis zum Abend, außer sie hatte am Nachmittag Unterricht. Ganz unbemerkt wurde Rani Teil unserer Familie.
Eines Tages machte mir Aaya klar, dass sie fündig geworden sei. Ein Freund von ihrem Mann, auch ein Riksha-Fahrer, kannte einen Schauspieler in einem Dorf. „Going native“ ist unter Ethnologen verpönt, aber Aaya wollte mir den Ort nur verraten, wenn ich bereit wäre, beim Besuch einen Sari zu tragen. Also zog ich los und erstand einen für meine Begriffe wunderschönen weißen Baumwollsari mit zarter taubenblauer, fast grauer Blütenborte. Ich hatte an was Dezentes gedacht, an sowas wie in unserer Kultur das „kleine Schwarze“. Am Nachmittag, bevor ich mich mit meinem neu angeschafften Fahrrad auf den Weg machen wollte, bat ich Aaya, mir beim Ankleiden zu helfen. Einen Sari anziehen ist nicht ganz einfach. Ohne einen für mich ersichtlichen Grund war Aaya entsetzt und sträubte sich, mir zur Hand zu gehen. Sie wiederholte mehrere Male ein Wort, das ich noch nicht kannte. Das war mir, ehrlich gesagt, auch egal, ich wollte ja den Sari anziehen und nicht Tamil lernen. Das Wort hieß „Witwe“.
In Indien bringen Witwen anderen Menschen Unglück. Und zwar deshalb, weil es die Schuld der Frau ist, wenn der Ehemann stirbt. Ganz einfach. Hätte sie sich ausreichend gekümmert, wäre der Mann ja wohl noch am Leben. Bis vor noch nicht allzu langer Zeit hat man auf den Dörfern in Südindien zur Verbrennung des Leichnams eines Ehemannes eine Grube ausgehoben. Sobald das Feuer loderte, stieß man die Ehefrau hinein. Die meisten Frauen wollten nämlich nicht freiwillig ihrem Mann in die nächste Wiedergeburt oder in die endgültige Befreiung, Moksha, folgen. Heutzutage müssen Witwen wenigstens kenntlich gemacht werden, damit man sich vor ihnen in Acht nehmen kann, nicht dass einem noch was Schlimmes widerfährt. Zwar kannte ich die Bedeutung des weißen Saris, aber ich kam wegen der schönen Borte nicht auf die Idee, dass dieses Kleidungstück dennoch für Witwen gemacht war. Zu allem Überfluss trug ich, außer meinem Ehering, keinerlei Schmuck. Witwen dürfen sich nicht schmücken, und die Symbolik eines Eherings kennt ein indischer Mensch auf dem Dorf nicht. Ich war also, wenn man so will, mit weißem Sari und Ehering ein interkultureller Widerspruch.
Aaya hatte mir versichert, dass das Dorf Murukambakkam in Fußnähe zur Rue La Bourdonnais liege. Es gab keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sie die Unwahrheit sprach. Ich solle einfach auf die Hauptstraße Richtung Cuddalore fahren, dann komme es gleich. Also brach ich gemütlich am Nachmittag mit meinem Fahrrad auf und strampelte los in die Richtung, die mir Aaya beschrieben hatte. Nun ist es aber so, dass ich damals eine sehr wichtige Erfahrung noch nicht gemacht hatte. Nämlich dass „Fußnähe“ oder „walking distance“ für einen verweichlichten Europäer etwas anderes bedeutet als für einen strammen Inder. Nach etwa einer halben Stunde hatte ich die Hauptstraße nach Cuddalore erreicht. Ich fuhr und fuhr und fuhr immerzu, aber der Ort kam und kam nicht. Jeder, den ich fragte, versicherte mir, dass ich auf dem richtigen Weg sei und dass es nur noch wenige Minuten dauere, dann sei ich da. Wie der Esel, dem man die Karotte vorhält, damit er weiterläuft, so trat ich im Vertrauen auf die Informationen der Menschen am Wegrand in die Pedale, bis ich wegen der Schweißbäche, die mir in die Augen liefen, anhalten musste, weil ich nichts mehr sah. Ein indisches Hero-Fahrrad ist vergleichbar mit einem Fitnessgerät, auf dem man bei einem EKG das Herz zu voller Leistung bringen will. Widerstand so eingestellt, dass sich die Pedale kaum noch bewegen lassen. Ich hatte zwar mein Notizbuch und Stifte dabei, aber kein Wasser. Als ich in Murukambakkam vom Fahrrad stieg, hatte ich den Wunsch, man möge mich stützen. Stattdessen versammelte sich eine Menge aufgeregter Kinder um mich herum, die schnellstens von ihren Müttern in die Hütten dirigiert wurden. Hilfe! Eine Witwe! Ein ernst dreinblickender Mann kam auf mich zu. Was ich wolle. Dank Konrads Unterricht konnte ich mich bereits rudimentär verständigen und nannte immer wieder, Mantra-artig, den Namen meines Informanten, Mr. Raman, und das Wort „kuttukaran“, Schauspieler. Man ließ mich auf einem freien Platz, fernab der Hütten, auf dem Boden Platz nehmen. Nach geraumer Zeit teilte man mir dann mit, Mr. Raman sei leider nicht da. Aber Germaine-Aaya hätte mich doch über ihren Mann, den Riksha-Fahrer, angemeldet. Ach so, ja. Mein Gesprächspartner verschwand und kam ewig nicht wieder. Ich wollte schon aufstehen und gehen, da schlurfte ein älterer, ausgemergelter Herr im Lunghi, dem Beinkleid, heran. Es war tatsächlich der erhoffte Herr Raman. Ich stand auf, faltete die Hände vor der Brust und gab ein paar Höflichkeitsfloskeln von mir, die mir Konrad eingetrichtert hatte. Wir setzten uns. Ich atmete tief durch, konzentrierte