Hilde Link

Indisches Drama


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wann ein Drama stattfinde und wo und ob ich kommen dürfe. Hier im Dorf fänden keine Dramen statt, entgegnete mein Gegenüber. Im Nachbardorf auch nicht, überhaupt in der ganzen Gegend nicht. Ich schrieb alles schön auf. Er, Mr. Raman, sei doch Schauspieler, nicht wahr? Ob ich vielleicht einmal seine Kostüme sehen dürfte. Aber ja doch, natürlich, gerne, selbstverständlich. Ich machte mich zum Aufstehen bereit. Die Kostüme sind in einer Kiste. Aha, interessant. Ich schrieb das auf. Und diese Kiste steht im Dorf seines Bruders. Soso, aha. Ach so ist das. Und wo ist dieses Dorf? Da hinten, weit, weit weg, ganz weit. Wie heißt das Dorf? Vergessen. Vergessen? Ja, vergessen. Na gut, kann ja mal vorkommen, dass man vergisst, wo der Bruder wohnt. Ich vergesse auch so manches. Ob Kostüme wohl grundsätzlich in Kisten im Dorf des Bruders eines Schauspielers gelagert werden? Dieser Frage wollte ich bei anderen Gelegenheiten nachgehen, und so notierte ich sie, damit ich sie nicht vergaß. Tja. Was sonst noch? – Darf ich wiederkommen? Aber ja doch, jederzeit!

      Inzwischen war es dunkel geworden, und das zweistündige Sitzen auf der feuchten Erde – es hatte zuvor geregnet – hinterließ nicht nur einen riesigen braunen Fleck auf meinem nagelneuen Sari, sondern ich spürte auch ein extremes Unwohlsein in meinem Bauch, das sich in den nächsten Tagen zu massiven Bauchschmerzen steigerte. Ich verabschiedete mich mit überschwänglichem Dank und wurde das Gefühl nicht los, dass Herr Raman mir nichts sagen wollte. Unterliegen diese Schauspieler einem Geheimhaltungsgebot? Würde mich nicht wundern, schließlich hatten sie es mit sakralen Texten zu tun. Oder gibt es Voraussetzungen, dass sie sprechen, die ich nicht erfülle? Vielleicht weil ich eine Frau bin? Na, das ging ja schon mal gut an. Später brachte ich in Erfahrung, dass mein Gefühl mich getrogen hatte und meine Befürchtungen unbegründet waren. Herr Raman hatte mit Straßentheater nämlich rein gar nichts zu tun. Er war Riksha-Fahrer, wie sein Freund, Aayas Mann, auch. Mal Besuch bekommen von einer Europäerin, das ist schon was und fördert das eigene Prestige in der Dorfgemeinschaft. Konnte doch kein Mensch ahnen, dass die Gute Witwe ist.

      Entmutigt machte ich mich auf den Heimweg. Mein Sari war inzwischen etwas verrutscht. Aus Versehen trat ich mit einem Pedal in den Saum und stand mit abgewickeltem Stoff in meinem engen Oberteil, das wie ein BH mit kurzen Ärmeln gearbeitet ist, und meinem Unterrock am Straßenrand. Keiner scherte sich darum. Für jeden, der vorbeikam, schien es ein alltäglicher Anblick zu sein, eine Europäerin in Unterwäsche mit ihrem Fahrrad und der Kleidung um die Knöchel am Straßenrand stehen zu sehen. Ich drapierte die sieben Meter Stoff irgendwie um meinen Körper, so dass ich wenigstens weiterfahren konnte. Abends donnern durch die Cuddalore Road mit ohrenbetäubendem Hupen, vergleichbar mit einer Schiffssirene, die in höchster Seenot „Feuer auf Elbe 1“ meldet, ein Lastwagen und ein Bus nach dem anderen. Bei Gegenverkehr wird voll aufgeblendet. Einer der beiden Fahrer, der mit den schwächeren Nerven, weicht aus, reißt das Steuer herum und lenkt seinen Mehrtonner auf den Sandstreifen neben der Fahrbahn. Da fuhr ich mit meinem Hero-Fahrrad. Ich weiß noch heute nicht, wie ich heil nach Hause gekommen bin.

      Am nächsten Tag war ich krank. Ich brauchte keinen Arzt, um zu wissen, was mir fehlte. Das war ganz eindeutig: Ich hatte mich verkühlt. Waldorf- Muttis rennen nicht gleich bei jeder Gelegenheit zum Arzt und schlucken Antibiotika. Sie greifen zu alternativen Heilmethoden. Eine Wärmflasche oder etwas Entsprechendes war in ganz Pondicherry nicht aufzutreiben. Also schnappte ich mir Anjimaniku, die dicke, träge Katze und legte sie mir auf den Bauch. In der Zeit meines Leidens auf dem Sofa mit Anjimaniku auf dem Bauch ergriff Schwermut mein Gemüt. Zumal ausgerechnet da auch noch alle Ventilatoren ausgefallen waren und die stickige Hitze mir den Rest gab. Ein Mann vom Elektrizitätswerk war nämlich an diesem Morgen gekommen, weil er was im Elektrokasten überprüfen musste, wie er sagte. Nachdem er weg war, ging kein einziger Ventilator mehr. Das fehlte gerade noch, dass ich mich jetzt zusammen mit Anjimaniku auch noch zu Tode schwitzen musste. Genau genommen ging doch schon vom ersten Augenblick an alles schief, angefangen mit meiner Aufenthaltsgenehmigung, die jetzt als wertloser Papierfetzen vom Schutzengel bewacht wurde. Ganz zu schweigen von meiner Forschung, die schon zu Ende war, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

      Herr Shubash, der Gute, hatte von Aaya gehört, dass es mir nicht gut ging. Er stattete mir einen Krankenbesuch ab und brachte mir zur Aufmunterung Cashewnuss-Süßigkeiten mit. Beiläufig erwähnte er, dass für ihn eine Odyssee ein unerwartetes Ende genommen habe: Wochenlang habe er darum gekämpft, dass jemand vom Elektrizitätswerk kommt, um seine Ventilatoren zu reparieren. Heute Vormittag nun sei endlich jemand da gewesen. Erst wollte der Mechaniker wieder gehen, weil ihm ein Ersatzteil fehlte. Aber er hatte dann doch ganz schnell eines bereit. Ich erzählte vom Elektriker, der in meiner Anlage etwas überprüfen musste, und dass seitdem bei uns kein Ventilator mehr läuft. Herr Shubash fühlte sich schuldig. Nachdem er weg war, setzte sich Manuel an mein Bett. Er wusste nicht, wie er die Leichtigkeit des Seins der ersten Tage zurück in meine verzagte Seele bringen sollte.

      „Ich weiß jetzt, was zu tun ist, Manuel“, sagte ich matt. „Ich schreibe einen Brief an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in dem steht, dass ich meiner Aufgabe weder psychisch noch physisch noch wissenschaftlich gewachsen bin.“ Schon nach kürzester Zeit war ich völlig zermürbt und konnte mir nicht vorstellen, wie das hier die nächsten zwei Jahre lang weitergehen sollte.

      Im Grunde meines Herzens erwartete ich natürlich aufmunternde Worte. Sowas wie: „Das wird schon“ oder „Jetzt sei doch nicht so entmutigt“ oder gar: „Du, das sind nur die üblichen Anfangsschwierigkeiten.“

      Manuel jedoch meinte ganz sachlich, das sei eine gute Idee, und ich solle das so machen. Er schreibe parallel zu meinem Brief an den Deutschen Akademischen Austauschdienst mit einem vergleichbaren Text. Wir waren uns wieder einmal einig. Bevor wir die Briefe schrieben, zögerten wir dann doch etwas. Manuel kaufte an einem Stand vor dem Tempel, als Alternative zu den Briefen, ein buntes Papierbildchen des elefantenköpfigen Gottes Ganesh, des Beseitigers aller Hindernisse, und hängte es gegenüber dem Schutzengel auf – zur Beförderung eines interreligiösen Dialogs sozusagen.

      Die Idee mit dem Ganesh-Bildchen als letzten Ausweg aus unserer seelischen Misere fand ich gut. Tröstlich, dass die indische Kultur für so jemanden wie uns eine eigene Gottheit bereithält. Da ist das Christentum nicht so praktisch und lebensnah. Nichts gegen den Grundgütigen. Aber ich finde, er macht es einem manchmal nicht ganz einfach. Da ist man in Not und soll sich an einen Schmerzensmann wenden, an einen, der selber in eine ausweglose Situation geraten ist, der hilflos am Kreuz hängt, mit Nägeln in Händen und Füßen, und nicht mehr kann. Das eigene Anliegen ist dann immer lächerlich. Man könnte natürlich einwenden, dass es ja noch Gottvater gibt. Der hängt an keinem Kreuz, sondern sitzt auf seinem Thron im Himmel und hat ein offenes Ohr für jeden, der ihn braucht. Aber war nicht er derjenige, der seinen Sohn verlassen hat, so sehr dieser auch Rettung von ihm erhofft hatte? Und dieser Gott, der seinem eigenen Sohn, als es um Leben und Tod ging, jede Hilfe verweigert hat, ausgerechnet der soll jetzt dafür sorgen, dass Manuel sein Symposion auf die Reihe bekommt und ich einen Schauspieler finde? Also mir leuchtet das ein, dass ein dicker Elefantengott mit seinen vier Armen, wie er da so neben seinen Zuckerbällchen sitzt und fidel in die Welt schaut, in der Lage ist, alle Hindernisse aus dem Weg zu schaffen.

      Ob nun Ganesh in unser Leben eingetreten war, das sei dahingestellt. Jedenfalls ging es mit uns allen aufwärts:

      Herr Shubash, der Gute, war persönlich zum Elektrizitätswerk gefahren und tauchte schon bald mit einem Mechaniker bei uns auf, der die Ventilatoren wieder zum Laufen brachte.

      Manuel hatte einen Steinmetz gefunden, mit dem zusammen er draußen vor der Gartenmauer an einem Kunstwerk arbeitete, das er auf seinem Symposion auszustellen gedachte. Der Garten war für die Kinder, die Pflanzen und die Tiere reserviert. Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, dass auf dem Gehweg ein tonnenschwerer Granitblock lag, an dem immerzu herumgehämmert wurde, was ja nicht gerade leise ist. Außerdem korrespondierte Manuel frischen Mutes mit dem Deutschen Generalkonsulat. Bald kam ein Brief mit der Einladung zu einer Vernissage im Hause des britischen Konsuls in Madras. Wir hatten dem Briefträger einen Crash-Kurs im Lesen unseres Namens und unserer Adresse verpasst, zusammen mit einer kleinen Zuwendung für seine Kinder. Die Post kam an.

      Dank meiner Katzentherapie wurde ich bald wieder gesund, arbeitete in der Bibliothek oder lernte Tamil.

      Die Kinder waren mit ihren neuen Freundinnen und den Tieren