Hilde Link

Indisches Drama


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denen man ja gerne mal greift, wenn alles andere nichts mehr nützt. Als die großen Meisterpädagogen hatten wir schon gleich zu Beginn unseres Indienaufenthaltes versagt. Bereitwillig ließen wir uns, hilflos, von unseren Kindern in die Ecke drängen. Wir riefen uns Rudis pädagogisches Konzept des „latenten Reifungsprozesses“ ins Gedächtnis, mit dem schon Generationen besorgter Waldorf-Eltern ruhiggestellt worden sind, wenn ihre Kinder faul, unmotiviert oder gelangweilt waren. Wir brauchen uns doch gar nicht zu verkrampfen, auch Johanna und Lena werden irgendwann mal, wenn sie reif genug sind, das drängende Bedürfnis nach Wissen entwickeln. Ganz von selbst, ganz von alleine, ganz spielerisch. Auf diesen Moment müssten wir eben vertrauensvoll warten. Jetzt bloß nicht aufregen, ganz ruhig bleiben und die Kinder nicht verunsichern. Empathie ist angesagt: Haben denn die Armen nicht schon genug unter dem gewaltigen Kulturschock zu leiden? Waren nicht wir diejenigen, die sie herausgerissen haben aus allem Vertrauten, aus allem, was ihnen lieb war? Weg von Oma und Opa, den Legosteinen, dem Halma- Spiel und den Schlagern der Fünfzigerjahre; weg von ihren Freundinnen und Freunden; weg von ihrem Zimmer in unserer engen Bude mit dem fleckigen, einst gelben Flauschteppich, auf dem schon viele Saftgläser und Kakaobecher umgekippt sind; weg von Johannas Super-Lehrerin und der geliebten Schule, in der die Böden so gemütlich nach Bienenwachs und die Toilettenanlagen nach nichtionischen Tensiden auf pflanzlicher Basis, Duftnote Zitrus, rochen; weg von Lenas Kindergarten, in dem schon in aller Früh die zarten Klänge der Kantele ertönten, wo sie Brot backen und Apfelmus kochen durfte. Von Fix und Foxi ganz zu schweigen, den beiden Wüstenrennmäusen mit den vom vielen Streicheln fettigen Fellchen, die sich selbständig ihr Nestchen in meinem linken Skistiefel gebaut hatten. – Alles weg von einem Tag auf den anderen, alles verloren. Und mitten hinein in diese Tragödie, da sollen wir auch noch die Kinder zum Lernen antreiben? Wir ruderten zurück, ließen die Kinder spielen und konzentrierten uns auf unsere Arbeit.

      Ein Spinnennetz: Jeder Knoten eine Aufführung

      Meine Erfahrung in Murukambakkam lehrte mich, dass ich einen Dolmetscher brauchte, der bereit war, mit mir auf die Dörfer zu fahren. Konrad, ohne den ich in diesem Land gar nicht lebensfähig gewesen wäre, kannte einen geeigneten Menschen an der Pondicherry University: Shivanandan. Dieser hatte in den USA seinen Doktor erworben, sprach also perfekt Englisch, und war Professor am Institut für Tamil-Studien, welches am Ende der Rue La Bourdonnais lag. Nichts wie hin. Konrad stellte mich vor. Herr Shivanandan, der einfach Shivan genannt werden wollte, war Anfang vierzig, ein freundlicher, charmanter und offensichtlich kompetenter Mann. Er war sofort bereit, mir zu helfen, nicht ahnend, was diese Zusage bedeuten würde: dreiundvierzig Nächte mit einer überforderten Europäerin auf einer Reisstrohmatte in Indiens Dörfern zubringen. Aber auch Shivan wusste nicht, wo Schauspieler zu finden waren. Ich machte den Vorschlag, doch einfach mal irgendwohin raus auf irgendein Dorf zu fahren und dort zu fragen, ob jemand was weiß. Die Idee fand Shivan gut. Wir verabredeten uns gleich für den übernächsten Tag, er wollte ein Taxi besorgen, Mietautos gibt es im Süden Indiens nicht, und mich abholen kommen.

      Endlich! Shivan war, wie vereinbart, um zehn Uhr vormittags da, eilte mit einem kurzen Gruß auf die Veranda, und dann kam gleich die Überraschung: Der Taxifahrer stammte aus einem Dorf, ganz in der Nähe von Pondicherry, und dort wohnten Schauspieler. Meine Freude war verhalten, nach dem, was ich in Murukambakkam erlebt hatte. Für die große Reise hatte ich Wasser, Obst und Nüsse eingepackt und einen bunten Punjabi Dress angezogen, das ist eine Hose mit einem Kleid darüber und einem Schal. Von Saris hatte ich vorerst genug. Man lernt dazu.

      Shivan war mit einer uralten, zerbeulten Schrottkarre gekommen, einem Hindustan Ambassador. Diese Autos werden in Indien nach der Vorlage des Morris Oxford Series III in Lizenz gebaut.

      Es ist tatsächlich als eine unwiderlegbare Wahrheit festzuhalten, dass es auf diesem gesamten Globus nichts Unappetitlicheres gibt als ein indisches Taxi. Ich stieg ein und nahm auf der Rückbank Platz. Vorne saßen schon der Fahrer, Ganeshan, und ein junger Mann, dessen Aufgabe darin bestand, an Kreuzungen auszusteigen und regelnd in den chaotischen Verkehr einzugreifen. Abgestandener Schweißgeruch schlug mir entgegen. Die Rückbank war feucht. Dank des Drucks meines Körpergewichtes konnte sich der angestaute Uringeruch, der auf diesen Augenblick schon gewartet hatte, entfalten wie der freigelassene Flaschengeist. Der mit dunklem blumengemustertem Samt bezogene Sitz ließ nicht sofort erkennen, dass wohl schon so mancher Fahrgast, so vermutete ich mit meinem westlichen kulturellen Hintergrund, sich im Angesicht des Todes wähnend, sich vor Schreck in die Hose gemacht hatte. Im ersten Impuls wollte ich aufspringen und laut protestierend rufen, dass ich keinen Meter in diesem Gefährt zurücklegen werde. Aber da war Shivan schon eingestiegen, und der Geruch intensivierte sich. Soll doch er was sagen, schließlich hatte er das Taxi organisiert. Und außerdem wollte ich nicht gleich zum Auftakt unserer Zusammenarbeit die überkandidelte Zicke geben. Shivan sagte dem Fahrer, er könne losfahren. Vorsichtig fragte ich: „Riechst du das?“ Shivan bejahte und gab mir gleich die erste Lektion in indischer Kulturkunde:

      „Wenn die indische Frau auf Reisen geht, dann trinkt sie vorher nichts, damit sie nicht den Fahrer bitten muss, mitten auf der Strecke anzuhalten. Das ist unanständig. Es geht einfach nicht, dass eine Frau sich in die Büsche schlägt. Lokale gibt es so gut wie keine am Straßenrand, und wenn, dann haben sie keine Toilette. Jetzt kommt es bei langen Reisen aber dennoch vor, dass auch eine indische Frau irgendwann mal muss. Und dann, naja...“

      Schon wieder was gelernt.

      „Was meinst du wohl“, ergänzte Shivan, „warum hier alles mit dickem Samtstoff bezogen ist.“

      Ich verriet nicht, dass ich ganz ohne Arg dachte, das würde der indische Fahrgast vielleicht schön finden.

      Wir fuhren also los, und ich bestand mit Nachdruck darauf, dass alle Fenster offenblieben. In der Nähe der ersten Kreuzung bückte sich Ganeshan, um die Handbremse mit einem Ruck anzuziehen. Instinktiv, eine Vollbremsung erwartend, hielt ich mich an der Rückenlehne des Vordersitzes fest, da, wo der Samt abgewetzt war. Aber nichts passierte. Das heißt, doch, der Wagen verlangsamte sich etwas, bis er schließlich genau an der Kreuzung ausrollte. Die Zehen von Ganeshans linkem Fuß, er fuhr ohne Schuhe, wie alle Taxifahrer, umklammerten das Kupplungspedal, während er dieses drückte, der rechte Fuß stand ruhig auf der Fußmatte.

      „Shivan, das Auto hat keine Bremsen!“, rief ich erschrocken. Mein Mitreisender beruhigte mich:

      „Keine Sorge, Ganeshan hat viel Erfahrung mit diesem Auto, er weiß genau, was er tut.“

      „Und die Beulen?“, warf ich ein.

      „Kleine Karambolagen, nichts weiter, das siehst du doch. Und außerdem: schau da.“

      Shivan zeigte auf eine kleine Figur auf dem Armaturenbrett: Maria auf der Mondsichel. Sie stand direkt neben dem beigefarbenen Plastik-Elefantengott Ganesh. Eine Hibiskusblüte klemmte unter einem seiner vier Arme und welkte erwürgt vor sich hin. Eines der Blütenblätter verdeckte halb das Gesicht des Propheten, dessen Abbild zu den Füßen des Gottes klebte. Etwas abseits der Götterwelt gab eine orangefarbene Duft-Chemikalie, die in einem geriffelten Flakon vor sich hin schaukelte, mit ihrem beißenden Dampf ihr Bestes. Ich hielt den Schal vor Nase und Mund. Als Shivan mich irritiert anschaute, entfernte ich mein Schutzschild kurz, nickte lächelnd und sagte so überzeugend wie möglich: „Der Fahrtwind.“ Von der Landschaft bekam ich rein gar nichts mit. Vornübergebeugt, die Fingernägel in die Rücklehne des Vordersitzes gekrallt, beobachtete ich angestrengt die Straße mit all ihren Ochsenkarren, Hunden, Kühen, Enten, Hühnern, Fahrrädern, Menschen, Lastwagen und den anderen Ambassadors. Meine Mitreisenden nervte ich mit angstvollen „Careful!!! Careful!!!“ - Zwischenrufen. Immer dann, wenn ich die Situation als ganz besonders gefährlich einstufte, schickte ich nach „Careful!!!“ ein Stoßgebet zum Himmel. Eine Klosterschule geht nicht spurlos an einem vorüber, und Mater Ancilla, eine Nonne des Ordens der „Englischen Fräulein“, in München-Nymphenburg, und treue Magd des Herrn, meine Lateinlehrerin, hat immer gesagt, Stoßgebete sind die allerwirksamsten Gebete überhaupt, da kann nicht mal ein kompletter Rosenkranz mithalten, und im Krieg seien viele Soldaten wegen ihrer Stoßgebete gerettet worden. In der Gewissheit, dass meine Gebete, von wem auch immer, erhört werden, lehnte ich mich irgendwann zurück und schloss die Augen. Fahrgast sein in einem indischen Taxi ist anstrengend.