was ich fürs Erste brauchte. Ray ging hinter mir her und versuchte in der Schneise zu bleiben, die ich durch die Menschenmassen bahnte. Sein jahrelanges Schwimmtraining hatte seine Muskeln so weit gestählt, dass sie mühelos meinem Großeinkauf gewachsen waren. Allerdings nahm sein Gesicht mehr und mehr gequälte Züge an, die er schnell mit einem tapferen Lächeln zu vertuschen suchte, wenn ich mich nach ihm umdrehte, um zu sehen, ob er noch da war. Am Ende der Nehrustreet, da wo es keine Läden mehr gibt, nahmen wir eine Riksha zurück zum Gästehaus. Ray ließ sich auf die Bank plumpsen und stapelte alle Tüten auf seinen und meinen Schoß. Der Rikshafahrer war ein alter Mann, und ich kam mir unendlich dämlich vor, mich von ihm fahren zu lassen. Beim Aussteigen bezahlte ich ihm freiwillig einen Preis, der prozentual zu meinem schlechten Gewissen stand und der mich in der wohligen Gewissheit zurückließ, eine mindestens zehnköpfige Familie für viele Tage vor dem Verhungern gerettet zu haben.
Im Gästehaus wollte Ray mich durch ein fröhliches „Da sind wir ja“ glauben machen, dass er die Treppen mit frischer, nicht etwa mit letzter Kraft bewerkstelligt hatte. Wir stellten alles im Zimmer ab, und Ray verschwand nach meinem herzlichen Dank mit einem nun doch leicht erschöpft klingenden: „Bis morgen.“
Nach einer Nacht mit unruhigem Schlaf und zahlreichen Alpträumen wollte ich am frühen Morgen irgendwo in der Stadt frühstücken. Ray sollte nicht Opfer meiner schlechten Laune werden, auch wenn alles Leben Yoga ist. In dem Moment, als ich mich an der Rezeption vorbeidrücken wollte, um der redseligen Ashramitin am Empfang zu entkommen, hörte ich eine sanfte Stimme:
„Dr. Link?“
„Ja?“, antwortete ich mit scheinheiliger Freundlichkeit.
„Haben Sie gut geschlafen?“
Ich hielt diese Frage für eine rhetorische und antwortete ebenso rhetorisch: „Danke der Nachfrage. Ja.“ Ich wollte weitergehen.
Der Blick von Mrs. Maheshvari verriet Argwohn.
„Wirklich? Sie haben in diesem Zimmer gut geschlafen? Welches Bett haben sie denn benutzt?“
„Das am Fenster.“
„Merkwürdig, in der Tat“, sagte sie leise vor sich hin.
„Warum?“ Mrs. Maheshvari hatte es geschafft, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
„Wo doch letzte Woche in dem Bett am Fenster eine junge Frau ermordet worden ist.“ Ich glaubte einen hämischen Blick in den Augen der grauhaarigen Dame zu erkennen.
„Soso“, sagte ich lässig, als wäre ich jeden Tag mit Morden in meinem Bett konfrontiert. „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch“, wünschte ich Mrs. Maheshvari. Den Gefallen tat ich ihr jetzt nicht, an Ort und Stelle auszuflippen.
Puh. Diese Nachricht wollte erst mal verarbeitet werden.
Ich ging zurück zum Frühstücksraum und war froh, Ray dort anzutreffen. Jetzt brauchte ich einen Gesprächspartner. Zusammen gingen wir schnellen Schrittes in mein Zimmer. Ein unsägliches Grauen stieg in mir auf, als ich auf mein Bett schaute. Meine paar Habseligkeiten stopfte ich eilig in meinen Rucksack und deponierte ihn zusammen mit dem Einkauf von gestern in Rays Zimmer.
Ich musste umgehend diesen Ort verlassen, verabschiedete mich von Ray und eilte in die Rue La Bourdonnais. Hoffentlich war Rebecca nicht wieder im Verwandlungs-Yoga versunken. Ich klopfte, wie gestern Konrad, mit dem Vorhängeschloss an das Gittertor. Diesmal kam nicht Aaya, sondern eine jugendlich wirkende, schön geschminkte Frau mit zurückgebundenen Haaren, weißer Hose und weißem ärmellosen T-Shirt ans Tor.
„Forever young! I want to be forever young! Do you really want to live forever, forever, forever young...“, trällerte die tänzelnd daherkommende Rebecca und schwang den Schlüssel über dem Kopf.
Ohne irgendwelche Höflichkeitsfloskeln bat ich nach einer Begrüßung, bei der mich Rebecca wie ihre liebste Freundin in die Arme schloss, dass wir doch bitte gleich zu Herrn Marcel gehen sollten wegen des Vertrages, und fragte, ob ich schon diese Nacht hier schlafen könne. Rebecca bestand auf einer Tasse Tee und der gemeinsamen Besichtigung des Hauses. Mir war alles recht, Hauptsache ich musste nicht noch eine Nacht in diesem Gästehaus zubringen. Das mit dem Tee war eine gute Idee. So hatte ich Gelegenheit, Rebecca von dem Mord in meinem Zimmer zu erzählen. Ach Gott ja, Morde kämen hier in Pondicherry ständig vor. Erst vor ein paar Tagen sei der Sohn vom Copyshop-Besitzer ein paar Häuser weiter umgebracht worden, tja, Gewalt an allen Ecken und Enden hier in Indien, aber die Seele sei ja zum Glück unsterblich. Rebecca wusste aufgebrachte Gemüter zu besänftigen.
Eingedenk der unsterblichen Seele zeigte mir Rebecca das Haus. Alle Räume weiß, die Halle weiß, der Schlafraum weiß, das Bad weiß, die Veranda weiß, die Küche weiß, das Arbeitszimmer weiß. Sogar die Fußböden waren weiß lackiert, alle Möbel weiß gestrichen. Weiß, weiß, weiß, wohin man schaute. Allein der kleine mit Ziegelsteinen bepflasterte Hof war nicht weiß, die Bananenstaude dort auch nicht.
Ich konnte gar nicht fassen, dass ich das alles für umgerechnet zweihundert Mark im Monat mieten konnte. Plötzlich beschlich mich die Angst, Rebecca könnte sich mit den Geistern im Haus versöhnt haben und nun doch nicht ausziehen, Vertrag hin oder her. Ich drängelte, dass wir gleich zum Vermieter gehen sollten. Monsieur Marcel, ein Indo-Franzose, hatte ein Reisebüro am Ende unserer Straße gegenüber einer Dependance der Pondicherry University. Er war nicht schlecht erstaunt über unseren eigenmächtig abgeschlossenen Vertrag, war aber froh, dass wieder eine deutsche Frau das Haus übernehmen würde. Deutsche sind sauber und fleißig, das wisse er, weil er zwanzig Jahre lang in Paris gelebt hatte und auch schon mal in Deutschland gewesen ist. Ich bezahlte die Kaution und drei Monatsmieten. Wie gut, dass mir die Universitäts-Amtskasse in München einen ordentlichen Vorschuss in bar ausbezahlt hatte. Monsieur Marcel steckte das Geld in seine Brieftasche, stand auf und wünschte mir in dem Haus viel Glück. Vor Freude hätte ich am liebsten, stellvertretend für die ganze Welt, meinen neuen Vermieter umarmt.
Noch am selben Tag konnte ich mit Rays tatkräftiger Hilfe in das Haus einziehen. Er montierte Lampen, befestigte die Moskitonetze über den Betten, spannte die Leintücher über die Matratzen, die er zuvor ins Haus geschleppt hatte, während ich die Töpfe und das Geschirr einräumte. In kürzester Zeit war alles fertig. Wenn alles gut ging, sollten Manuel und die Kinder in drei Tagen da sein. Bis dahin kauften Ray und ich gemeinsam ein, ich kochte, er deckte den Tisch und wusch das Geschirr ab. Aaya hatte ein paar Tage frei genommen. Allein die Tatsache, dass Ray nach dem Abendessen in das Gästehaus ging, unterschied uns von einem Ehepaar, das seit dreißig Jahren verheiratet ist.
Der Tag kam, an dem Manuel und unsere beiden Töchter eintrafen. Ray und ich saßen gerade beim Abendessen. Ganz schwindelig vor Glück umarmte ich als Erstes die Kinder. Derweil machten sich der Hausherr und der Eindringling miteinander bekannt. Ray steuerte im allgemeinen Tumult der Wiedersehensfreude dem Tor zu, um einfach zu verschwinden. Ich eilte ihm hinterher und konnte wegen meiner eigenen Gemütsverfassung gar nicht nachempfinden, dass Ray traurig war, so traurig, dass er weinte. Wir umarmten uns kurz, und ich flüsterte ihm ins Ohr: „Danke für alles. Lass die Sonne nicht untergehen, Sunray.“
Der Beseitiger aller Hindernisse
Wie das so ist, wenn man sich eine Weile nicht gesehen hat, sind die ersten vier Tage und Nächte immer voll des reinen Glücks. Zwar waren Manuel, die Kinder und ich nur insgesamt zehn Tage voneinander getrennt, aber trotzdem. Es waren uns vier Tage vergönnt, in denen alles, aber auch alles, wunderbar war.
Die Kinder tanzten in der großen Halle herum und sangen dazu Lieder, die man ihnen in der Waldorfschule reichlich beigebracht hatte, sie bastelten mit Naturmaterialien, die sie im Garten fanden. Entzückend! Manuel und ich tranken Unmengen von Tee und wurden nicht müde, die kleinen Kunstwerke unserer Töchter und das herrliche Haus zu bewundern und unserem Gott zu danken, dass er alles so wunderbar gefügt hatte.
Zwischen zwei Teepausen präsentierten wir uns unserem Nachbarn, Herrn Shubash, als die nette Familie von nebenan. „Shubash“ heißt auf Sanskrit „der Gute“. Nomen est Omen, und deshalb würde ich persönlich so nicht heißen wollen, denn immerzu gut sein müssen wäre mir zu