die Sache schiefgehen sollte, käme ich ins Gefängnis, und dieses Risiko war mir dann doch zu groß. Und außerdem und vor allem: Korruption ist was Böses, und sowas darf man nicht machen. Blöderweise kann so eine Aufenthaltsgenehmigung ausschließlich vom Immigration Office des künftigen Wohnortes ausgestellt werden, sonst hätte ich in irgendeiner anderen Stadt mein Glück versuchen können. Allerdings gab es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Beamten dort anders drauf waren.
Punkt vier Uhr war ich im PICA. Ich hoffte, Dr. Konrad Maier zu treffen, dem ich die Affiliation zu verdanken hatte. Im Südasien-Institut in Heidelberg hatte man mir gesagt, dass in Pondicherry seit vielen Jahren ein deutscher Indologe arbeite. Ein echter, einer, der es mit Texten und nicht mit Menschen zu tun hat. Schriftlich hatte ich Kontakt zu Dr. Maier aufgenommen, und er hatte mir freundlicherweise die Affiliation besorgt.
Gleich im Eingangsbereich saß ein weißer, blasser junger Mann hinter Bergen von Büchern und tippte eifrig in eine vorsintflutliche Schreibmaschine.
„Guten Tag“, sagte ich auf Deutsch. „Herr Maier?“
Die schlacksige Gestalt erhob sich, kam mit einem Lächeln auf mich zu und begrüßte mich mit einem kräftigen und angenehmen Händedruck. Als allererstes bedankte ich mich von ganzem, wirklich von ganzem Herzen für die Affiliation, ohne die mein Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht genehmigt worden wäre. Dann erzählte ich ihm in aller Ausführlichkeit von meiner Pleite mit dem verweigerten Stempel. Ich bräuchte dringend die Unterschrift von seinem Chef, Herrn Dr. Murugan. Ja, der sei da. Dr. Maier verschwand in einem Büro drei Treppenstufen höher. Irgendwie erinnerte mich das alles an das Immigration Office. Auch Messingbuchstaben an der Türe, diesmal „Dr. Murugan“. Ich solle kurz warten, der Chef hätte gleich Zeit für mich und würde das Dokument selbstverständlich unterschreiben, richtete mir Dr. Maier aus.
Gegen Abend waren Konrad und ich schon Freunde geworden. Wir erzählten einander aus unserem Leben, und was uns nach Indien getrieben hatte. Kurz vor Feierabend flog die Tür des Chefzimmers auf, und ein kleiner und stark pigmentierter Mann in Militäruniform schwirrte, so tuend, als hätte er mich nicht gesehen, an uns vorbei.
„Ist er das?“, fragte ich schnell Konrad. Der nickte.
Ich sprang auf und lief Dr. Murugan bis auf die Straße nach.
„Kommen Sie morgen wieder. Um zehn“, rief er, als würde er einen lästigen Straßenköter verscheuchen.
„In Indien musst du eines lernen“, tröstete mich Konrad und blickte mich mit seinen sanften, braunen Augen an: „Immer schön die Nerven bewahren. Gleichmut, verstehst du?“ Erst im Nachhinein kann ich einschätzen, welchen Aufwand an Zeit und Nerven es Konrad gekostet haben muss, mir eine Affiliation zu besorgen. Und das für eine Kollegin, die er gar nicht kannte.
Am folgenden Vormittag hatte ich viel Zeit, um erstens Konrad von der Arbeit abzuhalten und ihn zweitens nach einer Wohnung für eine vierköpfige Familie zu fragen. Ja, er wisse was. Er würde mich morgen um elf im Ashram- Gästehaus abholen, die Wohnung sei gleich in der Nähe.
Endlich! Kurz vor zwölf erschien ein Gehilfe. Ich machte mich mit meinen Papieren bereit. Der Chef lasse mir ausrichten, ich solle heute Nachmittag zu ihm nach Hause kommen, da habe er Zeit. Um vier Uhr.
Konrad gegenüber äußerte ich den Verdacht, dass sein Chef ein schikanöser Vollidiot sei. Konrad murmelte was von wissenschaftlicher und persönlicher Null und meinte lapidar, ich solle doch einfach die Hoffnung auf diese Unterschrift aufgeben. Überhaupt die Hoffnung, dass das mit der Aufenthaltsgenehmigung jemals was werden würde. Konrad war nicht erst seit zwei Tagen in Indien.
„Na, du bist ja gut. Und was dann? Soll ich wieder nach Hause fahren und sagen, ich war leider nicht in der Lage meine Aufenthaltsgenehmigung abstempeln zu lassen, und das ist der Grund, warum ich mein gesamtes Forschungsvorhaben, so leid es mir tut, aufgeben muss?“
Pünktlich fand ich mich bei der angegebenen Adresse ein. Eine freundliche junge Frau öffnete mir die Türe und bat mich, im Innenhof des Hauses Platz zu nehmen. Nach einer halben Stunde brachte man mir einen Tee.
Ob Dr. Murugan da sei?
„Yes, yes. Coming.“
Irgendwann nach geraumer Zeit schlurfte ein Mann im Lunghi, im Beinkleid, heran, fläzte sich auf einen bequemen Stuhl und gähnte so ausgiebig, dass ich in Ruhe seinen verfaulten Backenzahn unten rechts betrachten konnte. Mundgeruch wehte zu mir herüber, und ich ignorierte die leichte Übelkeit, die in mir aufstieg. Ich hatte Dr. Murugan ja nur kurz im Institut zu Gesicht bekommen, und so wollte ich kaum glauben, dass ich mich hier mit ihm persönlich ganz offensichtlich in einer dienstlichen Besprechung befand. Eine freundliche ältere Dame im einfachen dunkelblauen Sari mit feiner Goldborte reichte dem Herrn mit unterwürfigem Gesichtsausdruck Kaffee. Dr. Murugan musste nach dem ersten Schluck rülpsen, es roch nach angedautem, nicht-vegetarischem Reisgericht. Er begann zu erzählen, dass er gerade dabei sei, seinen Sohn zu verheiraten, dass dieser aber die Braut, die er, der Vater, ausgesucht habe, undankbarerweise nicht haben wolle und dass seine Tochter, die mich hereingelassen hatte, Business Administration studiere. Und wie es mir denn so in Indien gefalle. Mit einem „Gut“ brachte ich die Antwort rasch hinter mich und, endlich zu Wort gekommen, trug ich mein Anliegen vor. Ich reichte ihm meine Affiliation zum Unterschreiben und einen Kugelschreiber. Er nahm beides, erkannte seine Unterschrift und gab mir das Papier zurück.
„Waren Sie bei diesem brahmanischen Bhagavad-Gita-Herumfuchtler, bei Mr. Patil? Hat er gesagt, ich solle hier noch einmal unterschreiben, obwohl ich schon unterschrieben habe?“
„Also, ja, Mr. Patil meinte, das hier sei ja nur eine Kopie, und vielleicht könnten Sie...“
„Sagen Sie Herrn Patil, wenn er eine Unterschrift von mir will, dann soll er gefälligst selber kommen. Good bye.“
Unversehens war ich in einen allgegenwärtigen Konflikt zwischen Brahmanen und Nicht-Brahmanen geraten, der bei jeder Gelegenheit hochkocht. Dr. Murugan war kein Brahmane, Mr. Patil hingegen schon. Wer stand zwischen den Fronten? Ich, das Opfer.
Schnurstracks fuhr ich zu Konrad ins Institut und suchte bei ihm Trost. Er riet mir zu Gelassenheit. Ich war aber erst seit ein paar Stunden in Indien, und das Schicksal hatte mir nicht wie ihm das Glück zuteilwerden lassen, mir neun lange Jahre lang diese beneidenswerte Gemütsverfassung aneignen zu können.
Mir war klar, dass Konrad Recht hatte und ich diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Ich musste das Risiko eingehen, mich zwei Jahre lang ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung im Land aufzuhalten. Dieser Gedanke fühlte sich ausgesprochen ungemütlich an. Und was würde dann bei der Ausreise passieren? Gott sei Dank würde es mit Manuels Visum keine Probleme geben. Beim DAAD kümmert sich das Auswärtige Amt um alles.
Der Dämon der Unwissenheit lässt mich hoffentlich nicht los
Gegen Abend, es war noch nicht dunkel, ging ich ins „Seagull“, allgemein bekannt als „Sigl“. Das Sigl ist ein Lokal direkt am Meer neben dem Ashram- Gästehaus, von wo aus man schön auf die Möwen und den Sonnenuntergang schauen kann. Im Sigl verkehrt der hochkastige und gepflegte Alkoholiker, wie ich später erfuhr: Ärzte aus den umliegenden Krankenhäusern, Universitätsprofessoren, unter Garantie auch mein Peiniger, Herr Patil. Ich setzte mich draußen an einen der Sperrholztische und versuchte, mich beim Auflehnen nicht zu verletzen. Die Meeresluft hatte das einst schön aufgeklebte braune Plastik-Holzimitat der Tischoberfläche in kleine Splitterpfeile verwandelt, die hartnäckig versuchen, Hände und Unterarme des Hungrigen aufzuspießen.
Kaum hatte ich mich hingesetzt, kamen fünf junge Männer in roter Uniform an meinen Tisch gestürmt. Die Kellner. Als ginge es um eine Hinrichtung, zeigten alle gleichzeitig, die rechten Hände zur Pistole geformt, auf meinen Oberkörper und riefen im Chor: „Comefrom!!!“ Auf meine Antwort „Germany“ hin wurde mir die Speisekarte ausgehändigt. Der Einband mag einmal, so vermutete ich, aus rotem Samt gewesen sein. Ich nahm das speckig- dunkelbraune Büchlein mit den roten Rändern, schlug die drei ersten Seiten auf und tippte auf einen dunklen Fleck, wie viele, viele andere schon vor mir. Den Namen des Gerichtes konnte man nicht mehr