Cornelius Hartz

Tatort Antike


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bete ich jetzt, und es möge geschehen.“

      Zugleich mit diesen Worten hob er den Becher an die Lippen, und er trank ihn mit gelassener Miene und ohne Zögern aus.

      Die meisten von uns hatten sich bis dahin zusammenreißen können und nicht geweint. Aber als wir nun sahen, wie er den Becher austrank, konnten wir nicht mehr an uns halten, und auch mir liefen die Tränen mit Gewalt, nicht als einzelne Tropfen, und ich musste mich abwenden und heftig weinen – aber nicht seinetwegen, sondern meinetwegen, da ich einen so guten Freund verlor. Kriton hatte sich sogar noch vor mir abgewandt, weil er seine Tränen nicht zurückhalten konnte. Aber Apollodoros, der schon in der Zeit zuvor ununterbrochen geweint hatte, brüllte nun beim Weinen laut los und erschütterte uns alle mit seiner Wut – außer Sokrates.

      Der sagte: „Was tut ihr denn, ihr wundersamen Männer! Aus genau dem Grund habe ich doch die Frauen fortgeschickt, damit sie nicht diesen Fehler machen! Denn ich habe gehört, dass man unter glückverheißenden Worten sterben soll. Also hört auf zu jammern und reißt euch zusammen!“

      Und als wir das hörten, da schämten wir uns und hörten auf zu weinen. Er aber ging umher, und als er sagte, ihm würden die Beine schwer, da legte er sich rücklings auf die Liege – dazu hatte der Mann ihn schließlich angewiesen. Dann berührte der Mann, der ihm das Gift verabreicht hatte, hin und wieder die Füße und die Beine. Er drückte seinen Fuß etwas stärker und fragte ihn, ob er das spüre. Er verneinte es. Danach die Knie, und dann immer höher, und er selbst zeigte uns, wie sein Körper nach und nach kalt und hart wurde. Dann berührte er ihn nochmals und sagte uns, er werde uns verlassen, wenn es ihm bis ans Herz ginge.

      Plat. Phaid. 117a–118a.

      Jacques-Louis David: La Mort de Socrate (1787). Metropolitan Museum, New York.

      Heute gilt der „Fall Sokrates“ oft als Musterbeispiel für die Verurteilung eines Unschuldigen. Gleichwohl konnten die Herrscher Athens damals natürlich kaum ermessen, welche Bedeutung die Lehren des (angeblich) kleinen, stupsnasigen Mannes mit der Glatze und dem langen Bart einmal haben würden. In ihren Augen hatte Sokrates das Gesetz übertreten, und zwar eines der wichtigsten Gesetze überhaupt. Sokrates war damals nun einmal einfach seiner Zeit voraus.

      Der Tod des Sokrates hat mehrfach in der Malerei als Motiv Verwendung gefunden; das wohl eindringlichste Beispiel ist Jacques-Louis Davids Gemälde La Mort de Socrate von 1787, das heute im Metropolitan Museum of Art in New York hängt. Seine Darstellung ist von der zentralen Szene aus Raffaels La scuola di Atene beeinflusst und zeigt Sokrates im Verlies aufrecht auf einer Bettstatt; den Schierlingsbecher ergreift er mit der rechten Hand, die linke zeigt nach oben, in Richtung Himmel (wie Platons rechte Hand bei Raffael). Er ist umringt von seinen wild gestikulierenden Schülern; allein Platon fällt völlig aus dem Rahmen, er ist am linken Ende des Bettes zusammengesunken und sitzt resigniert auf einem Stuhl, dem Geschehen abgewandt. Eine beeindruckende Leistung und ein Bild, das mehr zu sagen vermag als viele Worte. Und dem inzwischen die (zweifelhafte) Ehre zuteil wurde, als Vorlage für zahllose Internet-Memes zu dienen.

      Hetäre vor Gericht: Neaira (ca. 340 v. Chr.)

      „Unsere Hetären haben wir für das besondere Vergnügen, unsere Geliebten für die tägliche Befriedigung des Körperlichen und unsere Ehefrauen, um Kinder zu zeugen und unsere häuslichen Angelegenheiten zu regeln“ (Ps.-Dem. 59.122). Kaum zu glauben: Diese Worte kommen nicht vom Stammtisch in einer Athener Taverne und stehen auch nicht an einer altgriechischen Hauswand. Sie stammen aus der Anklagerede in einer Gerichtsverhandlung. Vor Gericht steht eine alte Dame um die 60 namens Neaira, und sie ist eine ehemalige Hetäre – eine Frau, die für Geld mit Männern schläft. Angeklagt ist sie jedoch nicht aufgrund ihrer früheren Tätigkeit als Prostituierte, sondern weil sie sich das Athener Bürgerrecht erschlichen haben soll.

      Dass wir so viel über den „Fall Neaira“ wissen, rührt daher, dass eine Gerichtsrede erhalten ist, ein Plädoyer des Anklägers Apollodoros, in der ihr Leben detailliert beschrieben ist. Lange dachte man, der berühmteste attische Redner, Demosthenes, habe Apollodoros diese Rede geschrieben, und sie ist auch unter seinen Reden überliefert; allerdings wissen wir heute, dass sie nicht von Demosthenes selbst stammt – daher wird ihr Urheber als „Pseudo-Demosthenes“ bezeichnet.

      Woher Neaira stammt, ist heute nicht mehr festzustellen. Zur Welt kommt sie etwa um das Jahr 400 v. Chr. Vielleicht ist sie eine Waise, vielleicht auch von ihrer Mutter ausgesetzt worden – auf jeden Fall wird sie im Alter von etwa zehn Jahren von einer Frau namens Nikarete gekauft, einer Bordellwirtin aus Korinth, einer Stadt, die als Handelsknotenpunkt berühmt-berüchtigt ist für ihr Rotlichtviertel. Schon bald muss Neaira ebenfalls anschaffen gehen, wohl noch bevor sie in die Pubertät kommt. Das Etablissement von Nikarete ist von der Qualität höherwertig, und Nikarete stellt den Kunden Neaira als ihre eigene Tochter vor – natürlich aus wirtschaftlichen Gründen: Der Verkehr mit freigeborenen Frauen erzielt nämlich bei den Freiern höhere Preise als der mit einem Sklavenmädchen.

      Der griechische Begriff „Hetäre“ (hetaíra) schließt streng genommen alle Varianten der käuflichen Liebe ein – von der billigen Straßenhure bis zur Edelprostituierten (vgl. Davidson, 96 f.). Im Falle von Neaira haben wir es wohl mit letzterer Ausprägung zu tun: Mädchen, die wie sie in einem hochwertigen Bordellbetrieb, manchmal auch auf eigene Rechnung, arbeiten, sind nicht besonders zahlreich im klassischen Griechenland, aber dafür wird von ihnen auch einiges erwartet. Sie begleiten oft sehr hochgestellte, zumindest reiche Männer und auch Intellektuelle zu sogenannten Symposien, wo man sich mit mehreren trifft, um zu speisen, zu trinken (bzw. sich zu betrinken), gehaltvolle Gespräche zu führen und anschließend oder währenddessen Sex zu haben. Und auch von der Hetäre kann unter Umständen erwartet werden, dass sie sich an solchen Gesprächen beteiligt – also muss sie nicht nur körperliche Voraussetzungen erfüllen, sondern auch intellektuelle Fähigkeiten besitzen. Sie soll sich in Literatur, Kunst und Musik auskennen, was man von den gewöhnlichen griechischen Frauen damals im Allgemeinen nicht erwartet (vgl. Ps.-Dem. 59.22).

      Wie bereits erwähnt, ist es nicht gerade billig, eine solche Hetäre zu „mieten“. Die berühmteste Hetäre der Antike, Rhodopis, von geradezu legendärer Schönheit, ruiniert Herodot zufolge mehrere Männer, die ihr ganzes Vermögen an sie verlieren (vgl. Hdt. 2.134 ff). Dass Neaira ebenfalls einen höheren Status hat, geht daraus hervor, dass nicht nur Neaira, sondern auch andere Mädchen der Nikarete damals weithin namentlich bekannt sind; sie tauchen in verschiedenen literarischen Werken auf – dies ist in der Regel nur bei besonders bekannten und mithin besonders teuren Hetären der Fall. Zu Neairas Kunden zählen bekannte Politiker, Philosophen, Sportler, Dichter und Schauspieler (vgl. Athen. deipn. 13.567c, 586e). Allerdings muss man in Betracht ziehen, dass sie trotz allem eine Sklavin ist, einen solch hohen gesellschaftlichen Status wie Rhodopis also nicht erreichen kann.

      Mit etwa 16 Jahren besucht Neaira zum ersten Mal Athen, als Begleitung einer Kollegin, deren Stammkunde, der bekannte Redner Lysias, die Reisekosten übernimmt. Ein paar Jahre später, 378 v. Chr., besucht sie die Stadt ein zweites Mal, diesmal in Begleitung eines anderen Kunden, der sie regelmäßig bucht: des Thessaliers Sinos (vgl. Ps.-Dem. 59.24). Es ist kurz nach dieser Reise, dass der Korinther Timanoridas und der Leukadier Eukrates Neaira kaufen. Sie sind ebenfalls Stammkunden bei Neaira und haben sich offenbar ausgerechnet, dass es für sie auf lange Sicht zu teuer ist, Neaira zu besuchen. So beschließen sie, die Sklavin zu kaufen, auch wenn sie dies eine ganze Stange Geld kostet – nämlich 3000 Drachmen (vgl. Reinsberg, 89).

      Etwa ein Jahr lang geht dieses Arrangement gut, dann will einer der beiden noch ledigen Männer heiraten; vielleicht sogar beide. Und nun zeigt sich wieder, dass Neaira eine hochklassige Prostituierte ist – allerdings ein wenig zu ihrem eigenen Nachteil: Timanoridas und Eukrates können oder wollen es sich nicht mehr leisten, sie zu unterhalten, und so bieten sie ihr an, sich freizukaufen – für 2000 Drachmen. Danach jedoch, so ihre Bedingung, müsse sie Korinth verlassen und dürfe nie wiederkommen (vielleicht wollen sie sichergehen, dass ihnen das ehemalige Objekt ihrer Begierde später nicht zufällig