einen luziden Analytiker mit Entsetzen darüber erfüllte, in welchem Ausmaß es die amerikanische Gesellschaft zugelassen hat, dass sich die zerstörerischen Kräfte der Identitätspolitik nahezu ungehindert entfalten konnten. Ein Austausch mit Schlesinger als jemandem, der das Unheil früh heraufziehen sah, über die gegenwärtigen Entwicklungen, wäre sicher sehr erkenntnisreich und gewinnbringend.
Zwei Feldern, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass das Spaltungs- und Zerstörungspotenzial der Identitätspolitik so stark an Fahrt aufnehmen konnte, hat Schlesinger jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet: „Geschichte als Waffe“ und „Der Kampf der Schulen“.
Schlesinger hat anschaulich dargelegt, warum und mit welchen Methoden identitätspolitische Aktivisten versuchen, Geschichte als Waffe einzusetzen. Das sie leitende Motto lautet: Wer die Deutungsmacht über die Vergangenheit hat, kann auch die Gegenwart und Zukunft prägen. Grundsätzlich gilt: Wer Geschichte als identitätspolitische Waffe einsetzt, dem geht es nicht um Fakten. Es geht ihm nicht darum, vergangenes Geschehen möglichst akkurat zu rekonstruieren. Ganz im Gegenteil: Es geht ihm darum, die Vergangenheit in ideologische Narrative zu pressen. Auf der identitätsrechten Seite handelt es sich um weiße Überlegenheitsnarrative, die allerdings nur noch von kleineren Gruppen am gesellschaftlichen Rand offensiv vertreten werden. Auf der identitätslinken Seite geht es um moralisch hochwirksame Opfer- und Schuldnarrative.
Das identitätslinke Narrativ, das inzwischen viele Bildungsinstitutionen dominiert, lautet so: Heute lebende Menschen, die aufgrund ihres Abstammungsmerkmals einer Schuldgruppe zugewiesen werden, müssen anderen heute lebenden Menschen, die einer Opfergruppe zugeteilt werden, Bevorzugungsmöglichkeiten gewähren, um die Schuld ihrer Vorfahren abzutragen. Die enorme Komplexität historischer Vorgänge wird also auf einen einzigen Aspekt reduziert. Begründet wird dies damit, dass dieser aus moralischen Gründen der einzig relevante sei. Diese interessengeleitete Simplifizierung und Moralisierung der Vergangenheit, die Schlesinger bereits in den 1990er-Jahren feststellte, hat im Jahr 2019 mächtig Auftrieb erfahren.
Im August 2019 veröffentlichte das New York Times Magazine eine Initiative namens „1619 Project“. Die Initiatoren erklärten das Jahr 2019 zum 400. Jahrestag der Sklaverei in Amerika und das Jahr 1619 zum eigentlichen Ausgangspunkt der US-Geschichte. Dass es beim Projekt 1619 nicht um Fakten, sondern um eine ideologiekonforme Geschichtsschreibung und somit um die Verfügungsmacht über das nationale Narrativ geht, geben die Initiatoren freimütig zu. Ziel des Projektes ist es, wie die Initiatoren auf der Website des New York Times Magazine schreiben, Sklaverei und den erzwungenen Beitrag der Afroamerikaner zum wirtschaftlichen Erfolg des Landes ins Zentrum der nationalen Erzählung zu rücken.
US-Amerikaner sollen Rassismus als unauslöschliches Kainsmal sehen. Amerikaner sollen davon überzeugt werden, dass nichts so sehr die USA geprägt habe wie Rassismus und dass Rassismus der Wesenskern des Landes sei. Das Opfer-und-Schuld-Narrativ soll politisch, institutionell und gesellschaftlich als einzig gültiges verankert werden – mit dem Ziel, dass sich Afroamerikaner ermächtig fühlen und ihnen die Möglichkeit gegeben wird, unter Verweis auf ihren Opferstatus, dauerhaft Wiedergutmachung einzufordern –, sei es in symbolischer Form, indem sich Weiße zu ihrem Rassismus, ihrem privilegierten Weißsein oder ihrer schuldbehafteten Hautfarbe bekennen, sei es in materieller Form. Unter letztere fallen sowohl Bevorzugungen bei Stellenbesetzungen als auch Reparationszahlungen für die 1865 beendete Sklaverei.
Wie gut der Boden für dieses nationale Narrativ inzwischen in den USA bereitet ist, wird daran ersichtlich, dass es den Initiatoren innerhalb von sechs Monaten gelungen ist zu erreichen, dass rund 3.500 Schulen das Narrativ des Projekts 1619 in ihren Lehrplan übernommen haben. Dies bedeutet nichts anderes, als dass jungen Menschen an diesen Schulen simplifizierende und moralisierende Narrative beigebracht werden anstelle von komplexen und sich Eindeutigkeiten entziehenden Fakten. Überdies spaltet dieses Geschichtsbild die Schülerschaft in Träger von Opfer- und Schuldidentität auf. Die eigentliche Funktion eines nationalen Narrativs, etwas Gemeinsames und Verbindendes zu schaffen, wird damit konterkariert. Und aufgrund dessen, dass diese nationale Erzählung eine Erbsünde festschreibt, kann aus der Geschichte auch zukünftig nichts Verbindendes mehr entstehen.
Hinzu kommt, dass, wer jungen Menschen beibringt, ihr Land sei auf rassistischem Unrecht gegründet und seine ganze Geschichte sei nur davon geprägt, die Identifikation mit diesem Land erschwert. Insofern ist es kein Wunder, dass immer mehr junge Menschen ihr Land als nichts anderes als einen rassistischen Unrechtsstaat sehen, dessen Systeme auf Rassismus gründen und daher sozusagen „unheilbar“ an Rassismus erkrankt sind. Sie glauben, dass Sklaverei und Rassismus konstituierend für die USA sind, nicht individuelle Freiheitsrechte. Dabei sind es diese bereits 1787 verfassungsrechtlich abgesicherten Freiheitsrechte, welche die USA zu dem Land gemacht haben, das sie heute sind.
Sklaverei und Rassismus sind Teil der Geschichte der USA und müssen daher auch einen Platz im nationalen Narrativ haben. Nur: Sklaverei und Rassismus sind weitverbreitete, sich durch erhebliche Teile der Menschheitsgeschichte ziehende Phänomene. Die Gründung eines Staates auf individuellen Freiheitsrechten, zu deren Absicherung ein demokratischer Rechtsstaat etabliert wurde, stellt hingegen historisch betrachtet eine Ausnahme dar. Umso fataler ist es, wenn jungen Amerikanern in Schule und Universität ein nationales Narrativ vermittelt wird, in dem die eigentlich für die USA konstitutiven Freiheitsrechte entweder unberücksichtigt bleiben oder als so befleckt von der rassistischen Erbsünde dargestellt werden, dass Menschen dazu verleitet werden, die Eckpfeiler ihrer Gesellschaft abzulehnen. Zumal es sich dabei um genau die Eckpfeiler handelt, die letztendlich das Unrecht der Sklaverei (1865) und später die Jim-Crow-Gesetzgebung in den Südstaaten (1964) unhaltbar machten und so überhaupt erst zur Abschaffung dieser Unrechtsstrukturen führten.
Die Initiatoren des Projektes 1619 folgen der Maxime „catch ’em young“, um sicherzustellen, dass die nächste Generation in den ideologisch gewünschten Bahnen denkt. Die Bildungsinstitutionen sind dafür, wie auch Schlesinger schrieb, der ideale Indoktrinationsort. Was er für die 1990er-Jahre feststellte, trifft hinsichtlich der Ziele und Methoden eins zu eins auch 2020 zu – einzig die Intensität hat sich verstärkt.
Und wie vor bald einem Vierteljahrhundert bilden Universitäten die Speerspitze der identitätspolitischen Bewegung. In ihnen werden die Konzepte und Begrifflichkeiten entwickelt und wird Studierenden das identitätspolitische Programm als wissenschaftliche Erkenntnis vermittelt. Wie schon in den 1990er-Jahren stehen „westliche“ Bildungsinhalte unter einem rassistischen, sexistischen, transphoben oder islamophoben Generalverdacht. Es erschallt der Ruf nach einer „Dekolonialisierung des Curriculums“, wobei dies im Grunde nur ein neuer Begriff für die Forderung nach einer Überwindung des eurozentrischen Curriculums ist, deren Manifestationen in Schulen und Universitäten bereits Schlesinger kritisch beleuchtete. Neu hinzugekommen ist die Sprache der Gewalt, die zur moralischen Untermauerung der curricularen Neuausrichtung herangezogen wird. So wird neuerdings behauptet, dass es ein Akt von „epistemischer Gewalt“ sei, wenn Menschen mit einem nicht-westlichen Abstammungsmerkmal an westlichen Bildungseinrichtungen westliche Bildungsinhalte aufgezwungen würden. Sie müssten die Möglichkeit erhalten, „ihr“ Wissen, das sie aus „ihren“ Traditionen ableiten, als gleichberechtigt im Curriculum wiederzufinden. Setzen sich diejenigen durch, die dies verlangen, gibt es bald keinen gemeinsamen Lehrplan mehr, was die Spaltung der Gesellschaft, nun nach Wissensbeständen, noch einmal erheblich weiter vertiefen würde.
Wie leicht entflammbar eine in der Gesellschaft tief etablierte Opferkultur ist, führten die Ereignisse in den USA infolge des durch einen Polizeieinsatz herbeigeführten Todes von George Floyd im Mai 2020 vor Augen. Schlesinger warnte vor dieser leichten Entflammbarkeit, die nun schon seit Monaten in den USA zu beobachten ist und in den umfangreichsten und militantesten Unruhen seit den 1960er-Jahren ihren Ausdruck findet. Interessant ist, dass das identitätspolitische Pulver auf beiden Seiten zündet: also aufseiten der Afroamerikaner, die sich als Opfer sehen, und aufseiten der Weißen, die von ihrem Schuldstatus aufgrund ihrer Hautfarbe überzeugt sind. Beide sehen, angeheizt von der BLM-Bewegung, den Tod Floyds als stellvertretend für den ungebrochenen Rassismus, der in ihrer Wahrnehmung in den USA grassiert. Erstere sehen sich in ihrem Opferstatus, letztere in ihrem Schuldstatus bestätigt.
Aufschlussreich ist zudem, dass es, ausgelöst von einer