kam. Dass es sich um eine Kurzschlussreaktion handelt, zeigt sich daran, dass aus dem Umstand, dass auf dem Video ein schwarzes Opfer und ein weißer Täter zu sehen war, auf Rassismus als einzig mögliches Tatmotiv geschlossen wurde, ohne dass man die Hintergründe kannte oder sich für diese interessierte.
Was sich an dieser Kurzschlussreaktion und den nachfolgenden Ereignissen zeigt, ist, wie wirkmächtig das Opfer-und-Schuld-Narrativ mittlerweile in westlichen Gesellschaften ist. Zur Illustration nur ein Beispiel: Wenn in den USA ein Afroamerikaner bei einem Polizeieinsatz sein Leben verliert und der kanadische Premierminister Justin Trudeau deshalb auf die Knie geht, tut er dies nicht, weil er mit dieser Demutsgeste seine Schuld für eine von ihm begangene Tat ausdrücken möchte, sondern er tut dies einzig und allein aufgrund seiner Hautfarbe und einer vermeintlich daran gekoppelten Kollektivschuld. Eine solche Geste heißt und soll heißen: Alle Weißen sind schuld am Tode George Floyds, denn ohne weißen Rassismus wäre Floyd noch am Leben.
Auch diese Entwicklungen hat Schlesinger in ihren Grundzügen schon vorausgesehen. Ganz sicher hätte er zum Stand der Spaltung der US-Gesellschaft und den aktuellen Vorgängen kluge Analysen beizutragen. Da er nicht mehr unter uns weilt, müssen sozusagen seine intellektuellen Nachfolger diese Aufgabe übernehmen. Schlesingers Analysen werden in einem weiteren Band debattiert, der aus lizenzrechtlichen Gründen separat erscheinen muss. Im Zentrum des Debattenbandes werden die Folgen der Spaltungspolitik stehen, so, wie sie sich tagtäglich in den USA und, inspiriert von den Entwicklungen dort, in sämtlichen westlichen Ländern manifestieren.
Der Debattenband ist für 2021 geplant; Schlesingers Spaltung Amerikas haben wir wegen der Ereignisse des Jahres 2020 terminlich vorgezogen.
Stuttgart, im September 2020
Sandra Kostner
Vorbemerkung des Übersetzers
An einigen Stellen im Buch verwendet Arthur M. Schlesinger (1917–2007) das Wort „race“, dem im deutschen bei wörtlich-etymologischer Übersetzung das verständlicherweise verpönte und gemiedene Wort „Rasse“ entspräche; auch Zusammensetzungen wie „Rassentrennung“ oder Koppelungen wie „rassisch-ethnische Enklaven“ werden damit gebildet. In den USA wird mit Blick auf die Hautfarbe mehr oder minder unreflektiert regelmäßig das Wort „race“ verwendet; selbst für ein Einreisevisum in die USA muss man die „Rasse“ angeben, der man zugehört. Das stellt den Übersetzer insofern vor Schwierigkeiten, als „race“ eben nicht mit „Rasse“ zu übersetzen ist, wenn man Schlesinger gerecht werden will. Sollte stattdessen von der Haplo-Gruppe (so der Terminus der Genetiker) gesprochen werden? Oder von Pigmentiertheit?
Es ist nicht möglich und sinnvoll, hier in der Übersetzung durchgängig genau ein passendes deutsches Wort zu wählen. „Rassentrennung“ oder „rassische Konflikte“ etwa sind stehende und in den USA nicht diskriminierend intendierte Begriffe, sie werden vielmehr zumeist dann gebraucht, wenn es darum geht, Missstände deutlich zu machen. Der Terminus „race“ ist freilich auch im Englischen einer Wandlung des Verständnisses unterworfen; darauf weist Arthur M. Schlesinger selbst hin, wenn er zum ersten Mal Äußerungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert zitiert. Die Übersetzung hat daher überall dort, wo das englische „race“ im Deutschen als „Rasse“ einen Klang von rassistischer oder NS-Terminologie aufscheinen lassen könnte, zu unbelasteten und nicht-diskriminierenden Umschreibungen gegriffen oder solche – wie in der originalen Formulierung „rassisch-ethnische Enklaven“ – für ganz entbehrlich gehalten. An Stellen, an denen „race“ die amerikanische Sprech- und Schreibweise vergangener Jahrhunderte aufgreift und weiterführt, die hier einfach nur allgemein eine Distinktion der Herkunft und nicht der Hautfarbe nach meint (so etwa dort, wo der schwarze Gelehrte W. E. B. Du Bois zitiert wird, der davon spricht, dass „der rassische Blickwinkel viel stärker gegen die Iren ausgerichtet war als gegen mich“), wird der Terminus mit „Rasse“ übersetzt und beibehalten.
Ferner wurde „Rasse“ überall auch dort – meist in Anführungszeichen – stehengelassen, wo der Autor auf einen durchaus rassistisch aufgeladenen Zusammenhang rekurriert oder einen solchen kritisch referiert.
Die Fußnoten stammen sämtlich vom Übersetzer; in ihnen werden Persönlichkeiten oder Begebenheiten der US-amerikanischen Geschichte oder andere bedeutsame, hierzulande eher unbekannte Figuren der Geschichte sowie solche der bei Abfassung des Buches aktuellen Tagespolitik erläutert (es ließen sich entsprechende Informationen gleichwohl nicht zu allen vorkommenden Namen oder Ereignissen mit vertretbarem Aufwand recherchieren). Quelle ist hier überwiegend Wikipedia.
Hamburg, im September 2020
Paul Nellen
Vorbemerkung zur amerikanischen zweiten Ausgabe
Das vorliegende Buch wurde erstmals 1991 von Whittle Books in der Reihe Die größere Agenda (Larger Agenda) als Debattenbeitrag über das neue Phänomen des Multikulturalismus veröffentlicht. 1992 brachte der Verlag W. W. Norton eine leicht überarbeitete Ausgabe für den Buchhandel heraus.
Diese zweite Norton-Version bringt den Text auf den neuesten Stand. Sie erweitert eine Reihe von Punkten, identifiziert neue Themen und fügt einen Epilog hinzu, in welchem die Auswirkungen einerseits des Multikulturalismus auf Seiten der Linken und andererseits des Monokulturalismus auf der rechten Seite des Spektrums im Hinblick auf die Bill of Rights diskutiert werden.
In einem neu hinzugefügten Anhang stellt der Autor eine kommentierte Liste der Bücher bereit, die nach seiner Einschätzung unentbehrlich sind, will man die amerikanische Erfahrung genauer beleuchten.
Arthur M. Schlesinger Jr.
Vorwort
Mit dem Ende des Kalten Krieges ging gleichzeitig auch die Ära der ideologischen Konfrontation zu Ende. Das Ende der Geschichte wurde damit freilich nicht eingeleitet, wie eigentlich versprochen – vielmehr wird ein altes Hass-System durch ein neues abgelöst. Während vor unseren Augen die Decke ideologischer Repression über Osteuropa weggezogen wird, treten ethnische Antagonismen zutage, die tief in der Erfahrung und im Gedächtnis der Menschen wurzeln. Mit dem Verlöschen des ideologischen Wettbewerbs nunmehr auch in der Dritten Welt lässt dort zugleich die Eindämmung nationaler und tribalistischer Konfrontationen durch die Supermächte nach.
Die Ära der ideologischen Konflikte läuft inzwischen aus. Damit tritt die Menschheit jedoch ein – vielmehr: aufs Neue tritt sie ein – in eine vielleicht noch gefährlichere Epoche ethnischer, herkunftsbezogener Animositäten.
Feindseligkeiten der eigenen Ethnie einer anderen gegenüber gehören zu den am meisten instinktgesteuerten menschlichen Reaktionen. Dennoch war die Geschichte unseres Planeten zu weiten Teilen die Geschichte der Vermischung von Völkern. Von Anbeginn an haben Massenmigrationsbewegungen Massenfeindseligkeiten hervorgerufen.
Heute, da das 20. Jahrhundert sich dem Ende zuneigt, kommt hier eine Vielzahl von Faktoren zusammen. Weit bedeutsamer noch als die Verflüchtigung des Kalten Krieges wirkt sich die Entwicklung schnellerer Kommunikations- und Verkehrsmittel aus, die Beschleunigung des Bevölkerungswachstums, der Zusammenbruch traditioneller sozialer Strukturen, die Flucht vor Tyrannei, vor Armut, vor Hungersnöten, vor ökologischen Katastrophen, der Traum vom besseren Leben irgendwo anders. All dies treibt Menschen über nationale Grenzen hinweg.
Die Welt schrumpft zusammen, ihre Bevölkerung ist heute durchmischt wie nie zuvor. Die Schrumpfung unterwirft die Welt einer Art Schrotsäge, die sie in entgegengesetzte Richtungen reißt – intensiver Druck in Richtung Globalisierung einerseits, in Richtung Fragmentierung andererseits. Der Weltmarkt, die elektronischen Technologien, die Sofortkommunikation, E-Mail, CNN – all dies untergräbt den Nationalstaat und entwickelt eine Welt ohne Grenzen. Gleichzeitig treiben genau diese internationalisierenden Kräfte die normalen Menschen dazu, Zuflucht vor unerbittlichen globalen Strömungen zu suchen, die sich ihrer Kontrolle und ihrem Verständnis entziehen. Je mehr Menschen das Gefühl haben, in einem riesigen, unpersönlichen, anonymen Meer zu treiben, desto verzweifelter schwimmen sie auf irgendein vertrautes, verständliches und schützendes Rettungsfloß zu;