Das Dach hängt durch, keine Iso-Fenster, und wer weiß, wie es da drinnen aussieht.«
Stahnke nickte. »Frau Janssen war von ihrem Erbanteil auch sehr enttäuscht.« Auf Kramers fragenden Blick hin erläuterte er: »Verwitwete Globisch. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie ihren Mädchennamen wieder angenommen. Ihr Sohn, so heißt es, soll ihr das sehr übel genommen haben.«
Kramer nickte langsam. Hinter seiner Stirn arbeitete es sichtlich.
»Eigentlich hatte Frau Janssen sowieso damit gerechnet, den gesamten Immobilienbesitz ihrer Mutter überschrieben zu bekommen. Auf jeden Fall aber fand sie, ihr stehe das bessere Haus zu. Das Testament war jedoch eindeutig und nicht anfechtbar, eine Klage sinnlos. Also hat sie ihrem Ärger auf andere Art Luft gemacht, nämlich mit Schikane.«
Stahnke machte eine Pause, lauschte auf das Tuck, tuck, tuck von Globischs Hammer und dem Quietschen der Schubkarre vom Vordergrundstück. Als Kramer ihm nicht den Gefallen tat nachzufragen, seufzte der Hauptkommissar und fuhr ohne dies fort.
»Sie fand nämlich heraus, dass die Teilung der ursprünglichen Parzelle niemals ins Grundbuch eingetragen worden war. Erschien ja auch unnötig, da beide Grundstücke der alten Frau Janssen gehörten. Eine Eintragung hätte nur unnötige Kosten verursacht, glaubte man. Erst, nachdem die Grundstücke vererbt worden waren, wurde das zum Problem. Beziehungsweise zur Chance, Ärger zu machen.«
Kramers Gesicht blieb steinern, trotzdem hatte Stahnke das deutliche Gefühl, dass sein gewöhnlich so scharfsinniger Kollege nicht darauf kam, wo der Hase im Pfeffer lag. Das freute ihn diebisch. Einige Sekunden lang weidete er sich daran, dann stampfte er mit dem Fuß auf. »Hier liegt das Problem. Wir stehen drauf! Es ist diese Auffahrt hier.«
»Klar«, sagte Kramer. »Das Überwegungsrecht. Wird ein Grundstück geteilt und der hintere Teil bebaut, muss das Überwegungsrecht von der Straße nach hinten ins Grundbuch eingetragen werden. Geschieht dies nicht, hängt es vom Besitzer oder Mieter des vorderen Teils ab, ob er dem sogenannten Hintersassen eine Überquerung gestattet. Oder eben nicht.«
Die Miene des Oberkommissars blieb unbewegt, trotzdem fühlte sich Stahnke seines kleinen Triumphs beraubt. Seine breiten Schultern sanken ein wenig herab. »Richtig«, bestätigte er. »Beide Häuser waren zum Zeitpunkt des Erbfalles vermietet, aber Mutter Janssen kannte den Mieter des Hauses, das sie erbte, recht gut. Der Typ ist Tiefbauarbeiter, im Kopf eher schlicht, aber dafür streitsüchtig. War wohl nicht weiter schwer, den so weit aufzustacheln, dass er anfing, seinen Nachbarn vom Hintergrundstück, mit dem er bis dahin recht gut ausgekommen war, zu schikanieren und ihm das Leben schwer zu machen.«
»Ostfriesischer Volkssport«, repetierte Kramer. »Nachbarn ärgern.«
»Ärgern und verklagen«, korrigierte Stahnke. »Der Hintersasse spielte das Spiel nämlich mit und übernahm den Klagepart. Sein frischgebackener Vermieter, der Herr Globisch, sprang ihm bei, weil er sich von seiner Mutter nicht alles bieten lassen wollte, beide erwirkten zusammen eine Einstweilige Verfügung auf freie Überfahrt, und so konnte Frau Janssen nicht anders, als Gegenklage zu erheben. So standen sich denn Mutter und Sohn vor Gericht gegenüber.«
»Klassisch«, sagte Kramer.
»Ein gefundenes Fressen für die ganze Siedlung«, bestätigte Stahnke. »Um es mal abzukürzen, Globisch gewann, bekam das Überwegungsrecht für den jeweiligen Hausbewohner zuerkannt, wenn auch unter Auflagen, wie eben gehört. Mutter Janssen schäumte und versprach noch im Gerichtsgebäude, dass das nicht das letzte Wort gewesen sei. Sie werde sich schon noch etwas einfallen lassen.«
»Und dann?«, fragte Kramer.
»Dann«, antwortete Stahnke mit funkelnden Augen, »dann war die alte Ziege weg.«
»Äh … wieso?« Der Oberkommissar schaute jetzt doch verwirrt. »Gehörte etwa auch eine, äh, alte Ziege zum Erbe?« Noch während er sprach, schien er endlich zu begreifen.
Stahnke bot alle Selbstbeherrschung auf, die ihm zu Gebote stand, um nicht loszubrüllen vor Lachen. »Du fluchst nicht oft, nicht wahr?«, fragte er scheinheilig. »Man merkt’s.«
»Stimmt«, antwortete Kramer mit drohendem Unterton. »Aber ich weiß durchaus, wie das geht. Also bitte.«
»Alte Ziege ist eine sehr verbreitete Bezeichnung für Frau Janssen«, fuhr Stahnke eilig fort. Er war froh, den stets bestens informierten Kramer endlich einmal vorgeführt zu haben, wollte es aber nicht ernstlich mit ihm verderben. »Hier in der Siedlung, meine ich, wo man sie kennt. Die Kollegen haben mal rumgefragt und wenig Schmeichelhaftes zu hören bekommen. Die Dame scheint sich mit fast jedem angelegt zu haben, immer wegen Kleinigkeiten, und pflegte sich dabei schnell im Ton zu vergreifen. Freunde hat sie sich auf diese Art kaum gemacht. Halbwegs ausgekommen ist sie nur mit Becker, ihrem Mieter. Der soll ihr charakterlich recht ähnlich sein.«
»Becker. Ist das der Mann, der da vorne im Garten arbeitet?«
»Das ist sein Vater. Becker junior ist bei der Arbeit, außerdem hat er mit Gartenarbeit nichts im Sinn, spielt lieber Fußball und Skat. Der Senior war früher Steuerberater, ist jedoch frühpensioniert und kümmert sich seitdem hier um den Garten und alles andere.«
»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Kramer, den Blick auf die Zaunlücke gerichtet. Als Stahnke sich umwandte, war bereits nur noch das sich entfernende Quietschen der Schubkarre zu hören.
Tuck, tuck, tuck ertönte es von der anderen Seite. Das Geräusch schien von den Häuserwänden widerzuhallen. Vielleicht aber waren das auch nur andere Nachbarn, die ebenfalls pflasterten.
»Frau Janssen ist also als vermisst gemeldet«, nahm Kramer den Faden wieder auf. »Wie lange noch gleich?«
»Seit über einer Woche«, sagte Stahnke. »Auto, Pass, Handy, Koffer, Kleidung – alles noch da, in ihrer Wohnung. Sehr unwahrscheinlich, dass sie einfach nur verreist ist.«
»Du meinst, jemand hat sie verschwinden lassen?«
»Das meine nicht nur ich«, antwortete Stahnke.
»Und der Hauptverdächtige ist der mit dem stärksten Motiv.« Kramer machte eine Kopfbewegung über die Schulter, dorthin, wo es weiterhin tuck, tuck, tuck machte. »Also der Sohn, Ortwin Globisch.« Er fixierte seinen Vorgesetzten. »Meinst du, dass er sie hier …?« Vorsicht tippte er mit der Fußspitze auf das frisch verlegte Pflaster, dessen Fugen noch nicht einmal verschlämmt waren. »Hier? Auf seinem eigenen Grund und Boden?«
Stahnke zuckte die Achseln. »Warum nicht? Wenn er doch sowieso gerade pflastert … Was könnte unauffälliger sein?«
»Aber dann hätte er das Grab seiner Mutter doch stets und ständig vor Augen!« Kramer breitete seine Arme aus: »Er würde sogar förmlich … darauf herumtrampeln!«
Stahnke schmunzelte. »So, wie ich Globisch und sein Verhältnis zu seiner Mutter einschätze, würde ihn das nicht weiter stören.«
Kramer schüttelte nur den Kopf.
Endlich einmal entgleisen ihm seine Gesichtszüge, freute sich Stahnke innerlich. Endlich einmal kann man von seiner Miene etwas ablesen. Und wenn es auch nur Verständnislosigkeit ist.
»Sagtest du nicht, Globisch hätte sein geerbtes Haus vermietet?«, fragte Kramer nach einer Pause.
Stahnke nickte. »Er hatte. Aber sein Mieter hat inzwischen gekündigt. Kann man ja auch verstehen nach dem ganzen Ärger. Zwar haben Globisch und er vor Gericht gesiegt, aber das Verhältnis zu seinem direkten Nachbarn war danach natürlich zerstört. Wer will schon neben solch einem Streithammel wohnen?«
Kramer blickte sich demonstrativ um. »Tja, ganz schön ländlich, die Gegend. Ziegen gibt es hier. Und jetzt auch noch Hammel!« Der Oberkommissar fixierte seinen Vorgesetzten: »Fehlt nur noch ein Hund.«
Jetzt war es an Stahnke, ratlos zu gucken: »Hä?«
Kramer lächelte zufrieden. »Ein Leichenspürhund natürlich, was sonst? Anscheinend bis du dir deiner Sache ja schon sicher und hast mich nur mit hierher geschleift, um Globisch nach vollendeter Überführung einzusacken.