Ulrike Barow

Baltrumer Bärlauch


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kann dich doch nicht zurückhalten­.« Sie merkte an Fynns Stimme, wie ihn das Thema nervte. »Aber mecker nicht, wenn es schief geht und die hohen Herren vom Kunstverein dir den Stuhl für deinen schöpferischen Popo vor die Tür setzen.«

      »Du kannst einfach sagen, ich wäre krank. Oder ich hätte dringend zu meiner Familie gemusst, falls dich jemand nach mir fragt«, schlug Inga vor, doch Fynn winkte ab. »Außerdem gehören wir zu den letzten Stipendiaten, die hier in diesen Ateliers wohnen. Da werden die sicher ein Auge zudrücken, falls die merken sollten, dass ich mich für kurze Zeit verdrückt habe.«

      »Und wenn die ein Auge zudrücken, wird es genug andere Leute geben, die genau das der Tatsache zuschreiben­, dass dein Vater der Stiefbruder vom Direktor ist.«

      Inga wurde es schlecht bei diesen Worten, die sie seit ihrer Ankunft verfolgten wie eine Herde Schafe. Nun auch noch Fynn. Hörte das denn nie auf? Sie war doch gut. Was konnte sie dafür, dass ihr die Begabung in die Wiege gelegt worden war, wie so vielen anderen Mitgliedern ihrer Familie? Sie hatte sich ganz normal beworben. Ohne Vitamin B oder geheime Absprachen. Sie konnte auch kaum glauben, dass die Juroren sich von etwas anderem als Talent oder Kreativität der Bewerber in ihrer Entscheidung leiten lassen würden. Selbst Hans Heffgen, eines der ältesten Stiftungsmitglieder, hatte vor ein paar Tagen bei der Betrachtung ihrer kleinen Katzen­skulptur beifällig mit dem Kopf genickt und ›weiter so‹ gemurmelt. In ihrem Inneren wusste sie genau, dass sie etwas konnte. Und dass sie nie mehr in ihrem Leben etwas anderes machen wollte, als an ihren Skulpturen aus Holz zu arbeiten. Allerdings wusste sie auch, dass zum Leben das Geldverdienen gehörte. Wann würde der Rest der Welt endlich ihr Talent erkennen und würdigen? Sie stöhnte laut auf, und Fynn zuckte zusammen.

      »Was ist denn nun wieder los? Weißt du was? Komm du erst mal mit dir selbst klar. Dann kannste gerne Bescheid sagen. Bis dahin.« Er hob seine Beine, auf denen die Arbeit an einem großen Acrylgemälde bunte Spuren hinterlassen hatte, aus dem Bett, und im nächsten Moment war er verschwunden.

      Versonnen schaute Inga auf die hinter ihm zugefallene Tür. Komisch, dachte sie, wenn man Fynns Bilder betrachtete, könnte man meinen, dass er trotz seiner jungen Jahre das Leben bis in die tiefsten Abgründe begriffen hätte, aber im wirklichen Leben geht sein Tiefgang nicht über nette Gespräche, Partys und coole Sprüche hinaus.

      Er hatte mal wieder Reißaus genommen, wie immer, wenn etwas bei ihm unter das Stichwort ›Weibergezicke‹ fiel – und das war eine ziemliche Bandbreite. Sollte er doch gehen. Sie würde jedenfalls nach Baltrum reisen. Obwohl er recht hatte. Sie könnte die Sache auch ruhiger angehen. Aber so war sie nun mal. Bei der Arbeit an ihren Tierskulpturen bewies sie unendliche Geduld, wenn es aber ums tägliche Leben ging … Sie lächelte und öffnete die Tür ihres Ateliers. Ihr Blick fiel auf den Barkenhoff, den ehemaligen Wohnsitz des Malers Heinrich Vogeler. Heute war es ein Museum, und schon oft war sie durch die Räume gestreift mit dem Gefühl, die Anwesenheit der großen Maler der Jahrhundertwende dort noch immer spüren zu können.

      Was gäbe ich dafür, hätte ich an einem der Sonntagstreffen oben im weißen Saal teilnehmen dürfen, sinnierte sie. Paula und ihre Freundin Clara Rilke-Westhoff hätten gesungen. Der Rilke seine Gedichte vorgelesen. Die Herren Vogeler und Modersohn ihr Pfeifchen geraucht und intelligent über Malerei gesprochen. Und Hoetger erst, der Mann meiner Skulpturenträume und große Architekt … Er hätte meine Arbeit kritisch und fachkundig begleitet.

      Ob wohl auch Walter Bertelsmann manchmal an diesen Sonntagsvergnügen teilgenommen hatte? Immerhin, er war ein Schüler Hans am Endes gewesen, und der war nachweislich Teil dieser schöpferischen Runde.

      Bertelsmann ließ sie nicht mehr los. Morgen würde sie noch einmal in den Worpsweder Galerien und Museen nach seinen Bildern suchen, die ihr bisher aus unerfindlichen Gründen nie so recht aufgefallen waren.

      Sie schaute auf die Uhr. Halb sieben. Fynn hatte sich offensichtlich für den Rest des Tages beurlaubt. Schade, sie hätte gerne den Abend mit ihm verbracht. Fynn hatte zur gleichen Zeit wie sie sein Stipendium angetreten. Ausgewählt aus Hunderten von Bewerbern, war er aus Kokhave gekommen, einem kleinen Ort in Dänemark. Es hatte zwischen ihnen ziemlich schnell gefunkt. Das hatte sie zumindest am Beginn ihrer Beziehung geglaubt. Inzwischen dachte sie allerdings immer öfter darüber nach, ob er vielleicht nur versuchte, über sie an ihren Stiefonkel heranzukommen.

      Schon wieder ein Grund mehr, Worpswede für ein paar Tage den Rücken zu kehren. Außerdem war sie sich sicher, dass ihre Zukunftsplanung viel einfacher sein würde, wenn ihr ein frischer Nordseewind den Kopf frei geweht hatte.

      Hunger hatte sie noch nicht, also öffnete sie eine Flasche Rotwein und gab in ihren Laptop das Stichwort ›Baltrum‹ ein. Nach etwa zwei Stunden versunkenen Suchens und Lesens wusste sie es ganz sicher: Da wollte sie hin. Und zwar so schnell wie möglich.

      Mittwoch

      Gerdjedine Claassen zuckte zusammen. Ein scharfer Pfiff hatte sie in die Wirklichkeit zurückgeholt. »Mensch, Gerdje, bist du vor deiner Wäscheleine eingeschlafen oder was?« Auf dem Nachbargrundstück stand ihre beste Freundin Heidi und schüttete sich aus vor Lachen.

      Gerdje war überhaupt nicht nach Lachen zumute. Sie steckte immer noch halb in Gedanken, und es waren keine guten Gedanken, die sie hier beim Abnehmen der Wäsche eingeholt hatten. »Entschuldige, war ganz weggetreten«, murmelte sie und begann, die restlichen Laken und Bettbezüge von der Leine zu holen. Zu ihrem Leidwesen hatte wieder einmal eine Möwe große schwarz-braune Flecken darauf hinterlassen. Immer dasselbe Spiel, dachte sie, die Hälfte muss wieder in die Waschmaschine. Und wieder aufgehängt werden. Und von wem? Natürlich von mir! Wäre das schön, wenn ich die Sachen einfach in einen Trockner stecken könnte, so wie Heidi.

      Ihre beste Freundin hatte es da ein ganzes Stück leichter. Aber Hinnerk, ihr Hinnerk, wollte einfach nicht. ›Das war immer so, und das bleibt immer so.‹ Unter diesem Motto stand sein ganzes Leben.

      Dabei waren sie beide nicht mehr die Jüngsten. Über fünfzig Jahre vermieteten sie schon ihr Haus. Ihre Eltern hatten es kurz nach dem Krieg gebaut, als der Tourismus wieder erwachte. Als sie bald darauf starben, hatten Gerdje und Hinnerk es mit einem großen Schulden­berg übernommen.

      Ihre Kinder Enno und Ingrid lebten längst am Festland. Die Zeit verging in stetig gleichem Rhythmus. Im Winter warteten sie auf die Buchungen der Gäste, im Sommer wurde vermietet. Mal waren die Zeiten gut, mal schlechter, und bis vor drei Jahren hatte ihnen der Kredit für das große Haus im Nacken gelegen. Da war für andere Dinge nichts übrig gewesen. Erst jetzt, wo die Bankschulden endlich abbezahlt waren, konnten sie etwas aufatmen.

      »Jetzt können wir auch mal richtig renovieren«, hatte sie zu Hinnerk gesagt.

      Aber der hatte abgewinkt. »Bisher hat sich keiner beschwert. Unsere Stammgäste kennen und lieben es so. Das Geld bleibt auf der Bank!«

      Das Dumme war nur, dass die Stammgäste aus den letzten Jahrzehnten mit ihnen älter wurden und langsam wegstarben. In der letzten Zeit kam öfter mal eine Karte im schwarz umrandeten Umschlag, und das bedeutete: wieder eine Buchung weniger.

      Neue Gäste kamen kaum, und Heidi lag ihr seit Jahren in den Ohren, Zimmer mit Frühstück seien ›out‹. »Fast jeder auf der Insel hat doch sein Haus in Ferienwohnungen­ umgebaut! Wer will denn heute noch Zimmer mit Toilette auf dem Flur?«

      Aber was sollte Gerdje machen, wenn Hinnerk partout nicht wollte? »Kommst du mit rein, Heidi? Ich setz’ eben Teewasser auf.«

      »Nee, lass man, ich hab gleich Sitzung vom Heimatverein. Außerdem hockt dein Grummelkopp von Ehemann bestimmt wieder in der Küche.«

      »Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin ja nur froh, dass der immer noch seine langen Strandrunden dreht. So ist er wenigstens mal ein paar Stunden vor der Tür und ich habe meine Ruhe. Weißt du eigentlich, dass der Mann schon seit einem Jahr nicht ein einziges Mal ans Festland gefahren ist? Ach, was sage ich, du kennst ihn ja.« Gerdjedine nahm den Korb mit der weißen Leinenbettwäsche hoch. Zwei Stunden langweiligen Mangelns lagen vor ihr. Bei der spätsommerlichen Wärme keine angenehme Arbeit.

      »Dem müsste man mal so richtig auf