all den Jahren?
In den Anfangsjahren ihrer Ehe, als Hinrich ein ganz anderer Mensch gewesen war, da war er mit seinen Kindern stundenlang draußen am Wasser gewesen, so oft es seine knapp bemessene Freizeit erlaubt hatte. Damals war er beim Amt für Küstenschutz für den Buhnenbau und die Inselsicherung zuständig gewesen. Hatte mit seinen Kollegen Strandhafer in den Randdünen angepflanzt und Sandschutzzäune aus Birkenreisern aufgestellt. Nach Feierabend hatte er all die Dinge erledigt, die rund ums eigene Haus zu tun waren. Eine Arbeit, die nie ein Ende zu nehmen schien. Bis zu dem Tag, als seine Bandscheibe das ewige Bücken nicht mehr mitmachen wollte. Eine Operation wurde fällig, dann die nächste und nach einem Jahr des Krankseins folgte der Status, den er nie verwunden hatte: Frührentner.
Das hat ihn kaputt gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Gerdje, aber andere stehen wieder auf. Machen das Beste draus. Er eben nicht. Hat seine ganze Familie verurteilt, sein Frührentnerselbstmitleid zu ertragen, und wundert sich, wenn die dagegen aufbegehrt.
Nur sie selbst hatte eigentlich noch nie so recht aufbegehrt. Mal ein paar Worte, das schon, aber die hatten alles nur schlimmer gemacht. So hatte sie wieder geschwiegen und sich um ihren Garten gekümmert. Dort hatte sie ihre Ruhe.
»Aber erst werden Hausaufgaben gemacht, dann könnt ihr ins Watt.« Gerdje versuchte, Fröhlichkeit in ihre Stimme zu legen, aber so ganz wollte es ihr nicht gelingen. »Das Wasser fällt langsam wieder. Also, was habt ihr auf?«
»Heute nur lesen«, sagte Benni. »Und ein Gedicht auswendig lernen. Die ersten sechs Strophen. Stell dir das mal vor, Tante Gerdje, sechs Strophen! Wenigstens ist es spannend, glaube ich. Es handelt von einem Schiff, das untergeht, mit Menschen drauf. Das heißt Nils Rannda oder so ähnlich.«
»Nis Randers«, verbesserte ihn Eva sofort. Sie war die Bessere in Deutsch, wogegen ihr Bruder in allen Mathefragen zu Hause war. »Krachen und Heulen und berstende Nacht, Dunkel und Flammen in rasender Jagd – ein Schrei durch die Brandung«, Eva hatte sich auf die Eckbank gestellt und deklamierte mit lauter Stimme.
»Aus, Schluss!« Benni hielt sich die Ohren zu. »Lass uns lieber in den Garten gehen und Tante Gerdje helfen«.
Die aber schüttelte den Kopf. »Nichts da, ihr macht Hausaufgaben, ich klare die Küche auf, dann höre ich euch ab, und dann könnt ihr mit Onkel Hinnerk ins Watt. Mein Unkraut gehört mir, da hat kein anderer was dran zu zupfen.«
Benni lachte: »Ist doch klar, wir wollten dich auch nur ein bisschen ärgern. Jeder weiß, dass man in deinen Garten nicht rein darf.«
»Genau so ist das. Mein Garten – mein Heiligtum. Bis auf die Liegewiese. Die ist für alle da. Sogar für unsere Gäste.« Nun musste sie doch lachen, besonders wenn sie an ihre Lieblingswerbung im Baltrum-Prospekt dachte. ›Sonnige Liegewiese‹ stand da immer wieder, und stets fragte sie sich, was der Vermieter wohl machte, wenn die Sonne gar nicht schien, der Gast aber ebendiese ›sonnige Liegewiese‹ einforderte. Solarien aufstellen vielleicht?
»Aber erst einmal werde ich gleich eure Mutter besuchen. Ich muss noch eine Kleinigkeit einkaufen. Also dann, an die Arbeit.« Sie stand auf und räumte das Geschirr vom Tisch auf die dunkelbraune Arbeitsplatte, der man die vielen Jahre des Gebrauchs ansehen konnte. Immerhin hatte Hinrich trotz seines Geizes kapituliert, nachdem Gerdje das Abwaschen des morgendlich anfallenden Geschirrs der Frühstücksgäste von ihm verlangt hatte. »Falls es dein Rücken zulässt«, hatte sie sanft gesagt. Eine Woche später hatte er die Spülmaschine einbauen lassen und konnte wieder seine Rückenschmerzen pflegen.
Nachdem sie ihre Küche so gut es ging auf Hochglanz gebracht hatte, schnappte sich Gerdje ihr Fahrrad, um ihren Einkauf zu erledigen.
Auf der Höhe des Deichschartes beim Haus Oase kam ihr Olga Nammen entgegen. Gerdje stöhnte innerlich auf. Das konnte eine lange Viertelstunde werden.
»Hallo Gerdje, na wo geiht?«, tönte Olgas lautes Organ über den Hellerweg. »Willst einkaufen?«
»Nee, den Hund ausführen«, rief ihr Gerdje entgegen, was Olga abrupt vom Fahrrad springen ließ.
»Hund?«, rief sie und schaute sich verwirrt um. »Ich seh’ keinen Hund. Weiß Hinrich das?«
»Erstens: War’n Scherz. Zweitens: Is mir völlig egal. Sonst noch was?«
Olga Nammen atmete erleichtert aus. »Gott sei Dank, hatte schon Angst … Wieso, völlig egal? Dann ist dir wohl auch plötzlich egal, dass du deinen heiß geliebten Bunker wieder an die Gemeinde zurückgeben musst?«
Gerdje merkte förmlich, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Kurz meinte sie, ohnmächtig zu werden. Gleichzeitig sah sie ein hämisches Grinsen in Olgas Gesicht aufleuchten.
»Bunker? Was soll das? Außerdem ist das kein Bunker, sondern ein alter ausgedienter Flakstand aus dem letzten Krieg.«
»Nun tu man nicht so gelehrt, Gerdje, das weiß ich auch. Aber wir haben da ja immer Bunker zu gesagt. Und ändern tut das auch nichts an der Sache, oder?«
Gerdje bemühte sich verzweifelt um Fassung. Olga mochte eine Tratschtante sein, aber meistens steckte ein wahrer Kern in ihren Sprüchen. Jetzt nur keine Schwäche zeigen. Nur keine Neugier.
»Wenn du gar nicht wissen willst, wieso ich das weiß, dann ist es dir ja wohl wirklich egal, oder?« Olga Nammen schaukelte fröhlich mit ihrem Oberkörper hin und her.
Noch einmal ›oder‹ und ich brech ihr das Genick, dachte Gerdje.
»Also, das war so. Dein Hinrich war am Strand. Wie jeden Tag. Und mein Okko auch. Auch wie jeden Tag. Irgendwann kamen die beiden ins Gespräch – wie jeden Tag …«
Gerdje verdrehte die Augen.
»Und dann hat dein Hinrich meinem Okko erzählt, dass er beschlossen hat, den Pachtvertrag mit der Gemeinde über den Flakstand« – das letzte Wort betonte Olga deutlich – »nicht mehr zu verlängern. ›Ihre drei Schaufeln kann Gerdje bei uns in den Keller stellen. Kostet all’ns bloot Geld.‹ Hat er zu Okko gesagt. Und dass er zum nächsten Ersten kündigen will. Da hab ich aber gleich zu Okko gesagt: ›Wenn das man Gerdje recht ist. Die hängt da doch so dran. An dem Flakstand und ihrem Garten, wo sie doch extra die Tür von dem Unterstand so bunt angemalt hat.‹«
Gerdje war wie vor den Kopf geschlagen. Kaum hörte sie noch die Worte, die unablässig aus Olgas Mund zu sprudeln schienen. »Gerdje, Gerdje, alles klar mit dir? Du süchst ja richtig krank ut. Mach doch wohl all’ns nicht stimmen. Vielleicht habe ich das auch nur verkehrt verstanden. Mensch, Gerdje, nun warte doch eben.«
Aber Gerdje hatte sich auf ihr Fahrrad gesetzt und sauste wie von Furien gehetzt los, immer die Hellerstraße entlang, am Spielteich vorbei bis kurz vor das Hotel Fresena. Im scharfen Bogen lenkte sie ihr Rad durch das Deichschart geradeaus bis zur Schule und ohne rechts oder links zu schauen direkt über die Kreuzung bis zum Insel-Markt. Dann weiter auf den Weg, der unterhalb der Randdünen entlang führte. Zwei Mal war sie knapp davor, einen der Fußgänger zu überfahren, die auf dem Weg zum Strand waren.
Plötzlich versagten ihr die Beine. Gerade schaffte sie es noch, das Fahrrad in die dichten Büsche zu werfen, die den Weg einrahmten, und zu Willys Utkiek hoch zu laufen. Schwer atmend fiel sie auf eine der hölzernen Bänke. Sie presste beide Hände zur Faust geballt auf ihre Brust. Seitenstiche drohten ihr den Atem zu nehmen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Würde er das wirklich tun? Ohne sie zu fragen? Er wusste es doch. So vernagelt konnte er nicht sein. Selbst wenn er sich die letzten Jahre für nichts mehr interessiert hatte, was seine Frau anging. Er konnte es einfach nicht vergessen haben. Er wusste, wie sehr sie ihren Garten unterhalb der großen Düne liebte. Ihr Garten, der genau an die hohe Düne grenzte, in die die Flakstation damals kurz vor dem Zweiten Weltkrieg eingebaut worden war.
Nach dem Krieg hatte der Raum jahrelang leer gestanden, bis ihre Eltern ihn gepachtet hatten, um Gartengeräte unterzubringen und alles, was sie gerade nicht benötigten. Als dann an Stelle des alten Insulanerhauses das neue gebaut wurde und Gerdje und Hinrich es irgendwann mitsamt den Gästen übernahmen, war der Pachtvertrag einfach weitergelaufen. Jahr für Jahr hatte Gerdje zwischen dem Haus