Eindruck, dass Inga das Gefühl hatte, sie schon ewig zu kennen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich heiße Inga Tarmstedt.«
»Ich bin Lena Schirrmacher. Sie wollen sicher Urlaub machen.«
Inga nickte. »Ja, und ein bisschen Recherche betreiben. Ich folge den Spuren eines Künstler, der hier gewesen sein soll.«
»Ich besuche meine Großeltern«, erklärte Lena Schirrmacher. »Habe zwei Wochen Urlaub und spontan beschlossen, die Insel könnte mir mal wieder ganz gut tun. Wir vermieten auch. Zimmer mit Frühstück. Oma hat bestimmt was frei. Haben Sie schon ein Zimmer?«
»Ja, ich habe im Ostdorf eine kleine Ferienwohnung gemietet. Im Haus Seegras.«
»Ach, das ist ja super. Das Haus von meinen Großeltern liegt gleich gegenüber. Dann können wir uns morgens beim Zähneputzen zuwinken.« Lena lachte. »Lassen wir doch das blöde ›Sie‹. Ich bin Lena. Sollen wir uns mal auf ’nen Kaffee treffen? Wie wär’s morgen um drei im Kluntje?«
Inga war froh, gleich so eine nette Bekanntschaft gemacht zu haben. »Wenn du mir nun auch noch erklären würdest, wo das Kluntje ist? Bin neu hier.«
»Klar doch, du läufst einfach Richtung Osten, am Friedhof vorbei und dann links über den Deich. Gleich dahinter ist das Café.« Lenas ausgestreckter Arm zeigte eine für Inga undefinierbare Richtung an. Trotzdem versprach Inga: »Ich werde pünktlich da sein.«
Als das Schiff auf Baltrum anlegte, fragte Lena: »Wirst du abgeholt, oder willst du deine Sachen mit bei uns auf die Wippe stellen, ich meine natürlich unsere kleine Transportkarre?«
»Frau Meyer hat gesagt, sie stände mit einer Wippe« – Inga lachte und betonte das Wort ›Wippe‹ deutlich, »und einem Namensschild vor der Brust am Hafen. Lasse mich also überraschen. Bis bald.«
*
Schon als sie die hintere Gangway der Baltrum I herabstieg, sah Lena ihre Großmutter aus der Ferne winken. Sie winkte zurück, und eine große Freude erfasste sie bei dem Gedanken, ihre Oma gleich in die Arme schließen zu können. Opa war natürlich nicht mit zum Hafen gekommen. War wohl zu viel verlangt. Aber er würde schon früh genug ihre neue Frisur missbilligend in Augenschein nehmen, mit seinem typischen verständnislosen Kopfschütteln wieder zum Strand latschen und nach drei Stunden mit einer Karre voll zusammengesuchtem Strandgut wieder auf der Matte stehen.
»Oma, Oma!« Mit ausgebreiteten Armen lief sie auf die wartende Frau zu, sobald sie festen Boden unter den Füßen spürte.
»Mensch, Lena, ist das schön, dass du da bist.«
Lena sah Tränen in den Augen ihrer Großmutter. »Was ist denn mit dir los? So nah am Wasser gebaut kenne ich dich gar nicht. Ist irgendwas? Du siehst müde aus.«
»Ach was, gar nichts ist los. Ich bin nur froh, dass du da bist. Und ein bisschen geschafft von der Saison. Die vielen Monate ohne einen freien Tag, das geht an die Nieren. Aber reden wir nicht davon. Komm, pack deine Sachen in die Wippe. Du weißt ja: Der Weg ins Ostdorf ist lang, aber schön.«
Lena nahm ihren Koffer aus dem Container, schaute sich nach ihrer neuen Freundin um und sah, dass deren Vermieterin zur Stelle war. »Wir können los. Wie geht es meinem muffeligen Großvater?«
»Ach, gut. Wie immer.«
Lena betrachtete sie argwöhnisch. »Oma, was ist los? Du hast doch was.«
»Es ist alles in Ordnung, mein Kind, glaube mir. Hast du gehört, dass neulich ein Film hier gedreht worden ist? Über die Theatergruppe?«
»Nein, erzähl mal.«
Und Gerdje erzählte alles, was sie über die Filmaufnahmen wusste. Trotzdem wurde Lena das Gefühl nicht los, dass ihre Oma ganz andere Dinge auf dem Herzen hatte als das, was sie ihrer Enkelin als aufregende Neuigkeit verkaufen wollte.
*
Inga hatte ihrer Vermieterin kurzerhand das Fahrrad mit der Wippe aus der Hand genommen und gesagt: »Sie zeigen mir den Weg und ich schiebe das Rad. Sind schließlich meine Koffer hintendrauf.«
Frau Meyer hatte daraufhin erfreut genickt. »Manche Gäste kämen gar nicht auf den Gedanken, mir die Arbeit abzunehmen. Aber ich will mich nicht beklagen«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Die meisten sind nett und zuvorkommend. Wie Sie.«
Im Haus wurde Inga gleich von der hellen und freundlichen Atmosphäre gefangen genommen. Alles war so dekoriert, wie Inga sich immer ›nordischen Stil‹ vorgestellt hatte. Auf den Kiefernmöbeln lagen blaue Deckchen und neben einigen typischen maritimen Holzschnitzereien fanden sich ein paar außergewöhnliche Arbeiten, die Ingas Aufmerksamkeit fesselten.
»Mein Mann«, erklärte Frau Meyer. »Er macht solche Dinge. In seiner Freizeit. Sie können ihn nachher ruhig in seiner Laube besuchen. Er wird sich freuen. Aber erst zeige ich Ihnen Ihre Wohnung.«
Inga nickte erfreut. Das ging ja gut los. Kaum auf der Insel und schon ein Gleichgesinnter. Wenn die Chemie stimmte, würde daraus sicher die eine oder andere Fachsimpelei entstehen. Möglicherweise konnte der Mann ihr einige Türen öffnen.
Von ihrer neuen Bleibe war Inga begeistert. Große Fenster gaben auf der einen Seite die Aussicht auf die Dünen und auf der anderen Seite zu den Häusern und Gärten des Ostdorfes frei. Als Frau Meyer die Tür zum Schlafzimmer öffnete, fiel Ingas Blick auf eine riesige bunte Patchworkdecke, die das große Bett einhüllte. »Was für eine großartige Arbeit«, sagte sie beeindruckt.
»Die habe ich geschneidert. An langen dunklen Winterabenden«, erklärte ihre Vermieterin. »Ich sitze an der Nähmaschine, wenn mein Mann sein Schnitzmesser schwingt.«
Auch die blitzblanke Küche und das von einer gemütlich aussehenden blauen Couchgarnitur dominierte Wohnzimmer überzeugten Inga. »Hier werde ich es problemlos die erste Woche aushalten, und vielleicht bleibe ich noch länger. Mal sehen.«
Frau Meyer nickte. »Die Wohnung ist frei. Sagen Sie nur Bescheid.«
Inga ließ sich den Weg zu den Einkaufsmöglichkeiten beschreiben und packte dann ihre wie immer viel zu reichlich mitgenommene Kleidung in den Schrank. Schließlich weiß man nie, was an der Nordsee für ein Wetter herrscht, versuchte sie sich einzureden. Das wechselt doch ständig.
Im Moment brauchte sie für einen Strandspaziergang nur ein T-Shirt und eine leichte Hose. Der Spätsommer zeigte sich von seiner schönsten Seite. Aber zuerst musste sie einkaufen. Sie wusste nur zu gut, dass ein leerer Kühlschrank bei ihr das Gefühl von Verlorenheit wachrief. Ein guter Tag begann für Inga immer mit einem ausgedehnten Frühstück.
Als sie aus dem Haus trat, sah sie in der Tür gegenüber Lena mit ihrer Oma. Sie winkte fröhlich, erhielt aber keine Antwort. Dann eben nicht, dachte sie, und hatte das Gefühl, dass die beiden sich gerade in einer nicht angenehmen Unterhaltung befanden.
Sie lief an der Aussichtsdüne vorbei und sah links einen kleinen Park, versteckt in einem Dünental. Sie bog ab, um einen Blick hineinzuwerfen. Die schwere Tür quietschte beim Öffnen. Sie wunderte sich, dass dieser hübsche Garten mit den muschelbedeckten Wegen so hoch eingezäunt war. Ein kleines, blaues Schild wies sogar darauf hin, dass die Tür wieder zu schließen sei. Seltsam.
»Das ist wegen der Karnickel und der Rehe«, hörte sie plötzlich eine Stimme. Auf einer der Bänke saß ein Mann in den Fünfzigern, neben sich ein aufgeschlagenes Buch und eine Flasche Wasser. »Entschuldigung, aber Sie sahen so ratlos aus. Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu nahe getreten.«
»Nein, genau diese Frage habe ich mir gerade gestellt. Gibt es denn auf der Insel so viele davon?«
»Jede Menge. Darum ist auch das Friedhofstor so stabil angelegt. Müssen Sie mal drauf achten, wenn Sie dort einen Besuch abstatten sollten.«
Inga bedankte sich und ging weiter, am Kinderspielhaus und am Schwimmbad vorbei. Rund um den Marktplatz herrschte reges Treiben. Kleine Kinder spielten auf einem blauen Ungetüm, das Inga nach langer Betrachtung als einen Wal erkennen konnte. Sie fragte sich, ob aus dem Loch im Kopf des Monstrums