Ulrike Barow

Baltrumer Kaninchenkrieg


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Sie musste etwas tun! Die Kaninchen töten! Sonst würden sie die nie wieder loswerden. Was nützte es, wenn sie den Zaun reparierten und die Viecher waren noch drin! Sie rannte zum Gartenhäuschen. Sie brauchte einen Spaten. Damit würde sie die Karnickel erschlagen. Abgeschlossen. Mist. Dann werfe ich sie eben tot, dachte sie wütend. Sie zog ihre Schuhe aus, lief mit bloßen Füßen zurück zum Zaun, holte weit aus …

      »Ingeborg, mach dich nicht lächerlich. Die Viecher sind längst abgehauen.« Hartmut bemühte sich, wenigstens den kleinen Zaun notdürftig wieder aufzustellen.

      »Aber der andere Zaun!«, schrie sie. Wollte der Blödmann es nicht begreifen? »Der muss doch auch … Warum hast du das nicht schon heute Morgen repariert? Als du das bemerkt hast, verdammt noch mal!« Resigniert ließ sie die Arme sinken und zog sich wieder ihre Schuhe über. Es war an diesem Märzmorgen empfindlich kalt.

      Jetzt wurde auch Hartmut laut. »Weil ich mir die Karten legen konnte, ob du stinkiger wärest mit einem Karnickel im Garten oder ohne Frühstück! Noch kann ich nicht alles auf einmal!«

      »Aber die Krokusse … Alles ist weg!« Fassungslos machte sie der Gedanke, der sich immer stärker in ihr Bewusstsein drängte: Die Kaninchen hatten Helfershelfer gehabt. Und das war kein Kinderstreich. Jemand hatte sie an ihrer empfindlichsten Stelle treffen wollen.

      Aber warum? Sie hatten keinem etwas getan! Ihre Nachbarn hatten sich längst an ihre Abschottungstechniken gewöhnt und ließen sie in Ruhe. Hartmut hatte nur ein, zwei Mal laut werden müssen. Vor ein paar Jahren. Seitdem war alles okay. Man grüßte sich sogar wieder.

      Bis auf Melissa natürlich. Melissa Harms wohnte mit ihrem Sohn gegenüber und hatte nie verwunden, dass Hartmut damals das tote Kaninchen vor ihre Haustür gelegt hatte. Seitdem hatte Melissa einige ihrer Fenster direkt gegenüber mit diesen doofen Postern zugekleistert. Wir sind Pflanzenfresser und andere sinnlose Sprüche. Lächerlich. Von dieser kampfbereiten Tierschutzgruppe. PETA. Stand ja ständig in allen Medien, wenn die wieder in einen Hühnerstall eingebrochen waren. Angeblich, um kranke Hühner zu filmen. Dass diese Leute vorher Zäune aufschnitten, Türen aufbrachen und sich an fremdem Eigentum vergriffen, das sollte dann völlig in Ordnung sein? Kein Wunder, dass die Bauern sauer waren.

      Zaun? Wütende Bauern? PETA? Ihr kam ein schrecklicher Verdacht, der sich in Sekundenschnelle zur Gewissheit verdichtete. Natürlich! Das war es! Es konnte gar nicht anders sein! »Hartmut … Ich bin mal eben weg!«

      Ihr Mann reagierte nicht. Mit kräftigen Schlägen versuchte er, einen der Pfähle wieder in der Erde zu verankern. Lächerlich! Die waren hinüber! Sie würden neue bestellen müssen. Und wer die bezahlte, das war klar.

      Aufgebracht klingelte sie bei Melissa Sturm. Sie hätte schwören können, dass sie das Gesicht ihrer Nachbarin hinter der Gardine gesehen hatte, als sie über die Straße gerannt war. Doch Melissa öffnete nicht. Ingeborg wartet noch einen Moment, dann ging sie. Melissa war eine der wenigen Insulaner, die ihr Haus ständig abschlossen. Bei anderen konnte man einfach die Wohnung betreten, nachsehen, ob jemand da war, und bei Misserfolg einfach wieder gehen. Ingeborg hätte zu gern gewusst, was ihre ehemalige Freundin zu verbergen hatte. Vielleicht war Melissa wirklich nicht da, und ihr Sohn, Jonas, würde bestimmt nicht öffnen. Der saß immer nur oben in seinem Zimmer und hatte die Musik auf voller Lautstärke.

      Sie würde wiederkommen!

      Aber vorher würde sie Michael Röder herbeordern. Der sollte sich das Drama ansehen und gleich die Anzeige gegen Unbekannt aufnehmen.

      Montag

      »Meine Güte, was riecht das hier muffig.« Jörg Weber hätte sich liebend gerne die Nase zugehalten, doch um das kleine Holzfenster zu öffnen, brauchte er beide Hände. Es quietschte grässlich, als er den Flügel nach außen schob. Die hereinströmende Luft war zwar kalt, aber wenigstens frisch. »Ist schon eine ganze Weile her, dass wir hier waren«, sagte er zu Reinhart Petri.

      »Kein Wunder. Die Jagdsaison ist seit zwei Monaten vorbei. Was sollten wir also hier?«

      Vielleicht mal lüften, dachte der Pächter der Baltrumer Jagd und schaute sich in der Jagdhütte um. Das feuchte Frühjahr hatte seine Spuren hinterlassen. In den Ecken hatten dicke Spinnen Schutz vor dem Winter gesucht und in einem Glas, das auf dem Tisch vergessen worden war, klebten vertrocknete Schimmel­reste. An der Wand stand eine Waffentasche aus Kunststoff. Hatte einer seiner Jagdkollegen bei der letzten Jagd sein Gewehr hier vergessen? Das hätte ihm doch auffallen müssen. Er war der letzte gewesen, der den Raum am fünfzehnten Januar verlassen hatte, an Hasensilvester. Er nahm die Tasche hoch. Sie fühlte sich leicht an. Das kleine Schloss ließ sich ohne Probleme öffnen. Reinhart Petri schaute ihm neugierig über die Schultern, als er sie aufklappte. Sie war leer. Seltsam. Wer war, ohne seine Waffe zu schützen, mit ihr nach Hause gefahren? Seine Jagdkollegen von der Insel waren normalerweise sehr gewissenhaft, was ihre Gewehre anbelangte.

      Er schaute genauer hin. Ein Namensschild war nicht zu sehen. Doch oben in der Ecke fand er zwei verwischte Zeichen, mit Faserstift geschrieben. Er meinte ein W und ein A zu entziffern, war sich aber nicht sicher. Er klappte die Tasche wieder zu. »Ich werde mal rumtelefonieren. Wie schaut’s aus? Holst du die Leiter?«

      Ein Gast, der vor einigen Tagen durch die Dünen gewandert war, hatte ihm berichtet, dass ein paar Dachpfannen verrutscht wären. Jörg Weber hatte umgehend seinen Jagdkollegen angerufen. Der kannte sich mit so etwas aus. Ein geborener Handwerker. Petri war bei der Gemeindeverwaltung beschäftigt und hatte sich sofort bereit erklärt, sich um die Ziegel zu kümmern. Zumal er selbst Jäger war.

      Die kleine Hütte am Ostende der Insel in den Dünen war ein beliebter Anlaufpunkt. Ob es die Hundezüchter mit ihren Weimaranern, die Falkner oder ganz normale Jagdgesellschaften waren, alle empfanden die Herbstjagden auf der Insel als etwas Besonderes.

      Reinhart Petri nickte nur. Er war ein Stiller. Nicht reden – machen. Nach dieser Devise lebte und handelte er. Sehr zur Freude seiner Jagdfreunde. Jörg Weber erinnerte sich noch gut an den Tag, als die Tür der Jagdhütte dem Alter erlegen war und sich aus den Angeln gelöst hatte. Sofort war Reinhart zur Stelle gewesen, um zu helfen. Man kannte seine Einstellung zum Leben und nahm sie hin. Dass der Mann, wenn er sich tatsächlich mal zu einer Meinung hinreißen ließ, nicht immer auf positives Echo stieß, damit konnte der leben. »Du gehst aufs Dach?«

      Reinhart Petri holte die Leiter aus dem Schuppen, stellte sie an der Regenrinne an und stieg hinauf. Dann schob er die Pfannen wieder an den richtigen Platz.

      »Sind alle Pfannen in Ordnung? Oder müssen wir kaputte austauschen?«

      Jörg Weber bekam keine Antwort. Reinhart hielt seine rechte Hand als Schutz vor der Sonne über die Augen und starrte in die Ferne.

      »Hallo, Kollege, was ist mit dir?« Langsam wurde Jörg Weber ungeduldig. Außerdem war ihm kalt.

      »Gib mal ein Fernglas.«

      Der Jagdpächter wusste, dass es keinen Zweck hatte, zu fragen, warum Reinhart Petri es brauchte. Er ging zurück in die Hütte und holte das alte Zeiss, das noch von seinem Großvater stammte, aus dem Schrank. »Hier. Bin gespannt, was du mir berichten wirst.«

      Reinhart Petri nahm das Fernglas und richtete seine Aufmerksamkeit auf ein Ziel vor den letzten Dünen am Ostende. Zumindest deutete der Jagdpächter diese Richtung so, wenn er dessen Blicken folgte.

      »Da liegt was Größeres. Und Möwen und Krähen kreisen darüber. Schätze, das sollten wir uns mal ansehen«, sagte Reinhard Petri bedächtig.

      »Ein Reh? Konntest du nichts Genaues erkennen?«

      Reinhart Petri schüttelte den Kopf. »Kein Reh. Es sei denn, es wäre ein Reh mit Klamotten an.« Seelenruhig stieg er die Leiter herunter.

      »Was sagst du da?!« Das durfte nicht wahr sein. »Nun sag schon, was ist los?« Jörg Weber war versucht, seinen Kumpel an der Jacke die letzten Stufen nach unten zu ziehen. Wie konnte der Mann nur so ruhig bleiben, während womöglich jemand in den Dünen lag und Hilfe brauchte? Um diese Jahreszeit würde es sich bestimmt nicht um ein verliebtes Pärchen handeln, das Freiluftübungen machte.