Petri folgte ihm gemächlich.
Nach gut zehn Minuten Fußmarsch empfing sie am Rand der Dünen ohrenbetäubender Lärm, als sie sich einer Senke näherten. Vor ihnen flogen wohl zwanzig Vögel auf, drehten eine kleine Runde, nur um sich gleich danach, wütend krächzend ob der Störung, wieder der Nahrung zuzuwenden.
»Edith«, flüsterte Jörg Weber fassungslos und zog sein Handy aus der Tasche.
*
»Michael? Kannst du bitte mal kommen?«
Hauptkommissar Michael Röder schreckte auf, als er die Stimme seiner Frau hörte. Nicht zum ersten Mal dachte er darüber nach, dass es nicht immer von Vorteil war, seinen Arbeitsplatz direkt neben der Wohnung zu haben.
Er hatte sich vor gut einer Stunde in die kleine Wache zurückgezogen. Es war ruhig auf der Insel, so hatte er sich mit Papierkram beschäftigt, im PC herumgeblättert und nachgedacht. Zum Beispiel über ihren großen Einsatz im letzten Sommer. Ein Toter hatte im Rosengarten gelegen und sie hatten die Aufgabe gehabt, den Täter zu finden. Sie – das waren unter anderem sein Freund, Hauptkommissar Arndt Kleemann und Marlene Jelden, Kommissarin aus Esens, gewesen. Marlene. Die Frau, die sein Leben durcheinandergewirbelt hatte und monatelang keinen vernünftigen Gedanken in seinem Hirn zugelassen hatte. Nach dem Einsatz hatte sie die Insel verlassen.
Sie hatten sich danach noch einige Male am Festland getroffen. Besser war’s dadurch nicht geworden. Nach einem schönen Abend, den sie gemeinsam in Papenburg verbracht hatten, hatte er die Beziehung beendet. Er konnte es nicht mehr ertragen. So zwischen den Welten. Marlene hatte nie eine Entscheidung gefordert. Er hatte trotzdem eine getroffen. Zumindest nach außen. Er fuhr nicht mehr öfter als notwendig ans Festland. Erfand keine Ausreden mehr für seine Frau.
Und doch saß er in manchen Stunden an seinem Schreibtisch und fühlte sich in einer völlig fremden Welt. Der Polizist sprach mit keinem darüber. Schon gar nicht mit seinem Freund Arndt. Der war überzeugt davon, dass man Berufliches und Privates nicht miteinander mischen sollte. Wenn der wüsste! – Nee, besser nicht.
Langsam, mit den Monaten, gewann er Abstand. Sein ständiges Mantra, dass so alles besser sei, begann zu wirken. Schließlich war es nicht so, dass er Sandra nicht liebte. Im Gegenteil. Er war eben einfach nur in die Scheißsituation geraten, zwei Frauen zu lieben. Und diese Situation wünschte er seinem ärgsten Feind nicht. Er knallte den Kugelschreiber auf den Schreibtisch. Egal. Was soll’s. Anderes Thema. Heute Nacht würde er wieder einmal losziehen. Sperrstundenkontrolle.
Als das Telefon klingelte, hatte sich seine Laune kaum gebessert. »Polizeistation Baltrum. Röder.«Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Kaum ein Jahr war vergangen, und nun sollte schon wieder eine Leiche auf der Insel liegen?! Beinahe am äußersten östlichen Zipfel. Sollte er erst allein rausfahren und schauen, was sich hinter Jörg Webers Geschichte verbarg? Blödsinn. Der Mann war Jäger. Der wusste, ob er Tote oder Lebende vor sich hatte. Egal, ob bei Mensch oder Tier.
Röder telefonierte mit der Leitstelle in Wittmund, die für Notfälle in beinahe ganz Ostfriesland zuständig war. Es würde auf jeden Fall ein Feuerwehrfahrzeug mit Allradantrieb mit ausrücken müssen. Der Krankenwagen hätte es schwer, falls sie tiefer in die Dünen mussten.
Er zog seine Jacke an, als seine Frau den Kopf durch die Tür steckte.
»Michael, schläfst du? Ich habe dich gerufen. Ich brauche deine Hilfe.«
»Tut mir leid. Ich habe einen Notfall. Kann später werden.«
Sie schaute ihn aufmerksam an. »Was Ernstes?«
Er nickte. »Edith. Sie soll mit einem Loch in der Stirn in den Dünen liegen.« Er konnte es ihr ruhig erzählen. Sie würde nichts weitergeben.
Sandra Röder wurde blass. »Edith Oligs? Wie …«
»Ich muss los.« Er verließ die Wache und schnappte sich sein Fahrrad. Als er am Inselmarkt vorbeifuhr, kam von der Turnhalle her ein metallisches Scheppern. Dann noch eins. Die Kollegen vom Rettungsdienst hatten die Tore geöffnet. Er hörte den Motor des Krankenwagens anspringen. Sie würden vermutlich eher als er auf seinem in die Jahre gekommenen Dienstfahrrad die Einsatzstelle erreichen. Jörg Weber hatte versprochen, Reinhart Petri zum Katastrophenweg zu schicken, um die Einsatzkräfte zum Fundort der Leiche zu dirigieren.
Tatsächlich, als er den Friedhof erreicht hatte, wurde er vom Krankenwagen überholt. Maik Bernhard, der Fahrer, bremste neben ihm, fuhr ganz langsam weiter und ließ sich von Michael Röder die neuesten Informationen geben. »Sollen wir dich mitnehmen?«, fragte Bernhard zum Schluss. »Dann lass dein Rad hier stehen und steig ein.«
Der Inselpolizist war versucht, das Angebot anzunehmen. Besser schlecht gefahren als gut gestrampelt. Aber dann winkte er ab. »Wer weiß, wo ich das Rad brauche. Und wenn ihr einen weiteren Einsatz habt, darf ich womöglich zu Fuß zurücklaufen. Nein, vielen Dank. Fahrt los. Ich bin gleich da.« Er wusste, dass das mit dem ›gleich da‹ ziemlich übertrieben klang, aber irgendwie musste er sich Mut machen. Außerdem hatte er es gar nicht so eilig, an den Einsatzort zu kommen. Er hatte bereits einmal erlebt, was Möwen und Krähen mit einem Toten anrichten können.
Er fuhr am BK-Heim vorbei, dann am Gelände des Niedersächsischen Turnerbundes. Als er auf den Katastrophenweg einbog, registrierte er zufrieden, dass der fest und leicht befahrbar war. Jahre zuvor hatte diese Zuwegung zum Osten der Insel ihrem Namen alle Ehre gemacht. Ausgekolkt und hügelig war sie eine Herausforderung für Mensch und Maschine gewesen.
Ganz am Ende sah er den Krankenwagen. Er legte noch einen Tritt zu. Hinter ihm wurde das Brummen des Feuerwehrfahrzeuges lauter. Er oder ich, dachte Röder. Für zwei reicht die Breite hier kaum. Doch kurz bevor der Landrover ihn eingeholt hatte, sah er Reinhart Petri am Wegesrand stehen.
Michael Röder schnaufte, als er vom Fahrrad stieg. War doch ganz schön anstrengend.
»Sie liegt da vorne.« Petri zeigte auf etwas, das ungefähr hundert Meter vom Katastrophenweg entfernt sein musste. Genau dort, wo Röder auch Ellen Neubert in einer Senke verschwinden sah. Er atmete noch einmal tief durch, dann rannte er los. Er musste aufpassen, überall hatten Kaninchen ihre Höhleneingänge ins Erdreich gebuddelt. Manche Löcher waren sehr offensichtlich, mit einem Haufen Erde davor, manche mit den Jahren bereits überwachsen und leicht zu übersehen.
»Michael, hierher!« Jörg Weber winkte. Er wirkte angespannt. »Sie ist erschossen worden.«Die Tote sah nicht so schlimm aus, wie Röder befürchtet hatte. Die Vögel hatten natürlich ihre Spuren an Gesicht und Händen hinterlassen, trotzdem war das Einschussloch in der Stirn noch gut zu erkennen.
»Nun geht der Krieg in eine neue Runde.«
Röder drehte sich um und sah Gemeindebrandmeister Axel Meinders mit seinen Leuten ankommen. »Was willst du uns damit sagen?«, fragte der Inselpolizist.
»Na, hör mal, das dürfte doch an dir nicht vorbeigegangen sein, was sich in den letzten Wochen, nein, Monaten auf Baltrum aufgebaut hat. Wer sich da mit wem beharkt. Und Edith war eine der Schlimmsten«, erklärte der Gemeindebrandmeister.
»Das ist wohl wahr«, bestätigte der Jagdpächter eifrig. »Da ist sie jemandem zu sehr auf den Schlips getreten.«
»Hallo, Leute, ein bisschen mehr Respekt bitte. Noch wissen wir gar nichts«, versuchte Röder sie zu beruhigen. Aber auch er glaubte nicht, dass Edith Oligs sich selbst erschossen haben könnte.
Dr. Neubert hob den Kopf der Toten an. »Schau mal, Michael. Dort ist das Geschoss wieder ausgetreten.« Sie zeigte auf eine blutverschmierte Stelle am Hinterkopf. »Das Projektil könnte hier noch irgendwo rumliegen, wenn es der Schütze nicht mitgenommen hat.«
»Wir werden uns gleich das Gelände näher ansehen. Die Kollegen von der Feuerwehr helfen sicher.« Michael Röder sah Axel Meinders nicken. »Aber zuerst spreche ich mit Aurich. Dann können die Kollegen dort schon mal ihre Köfferchen packen. Und natürlich muss Ediths Tochter in Hamburg benachrichtigt werden. Scheißaufgabe.«
*
Tino Middelborg schaute fassungslos