Name ist Ole Tiedemann, ich bin Kriminalkommissar beim LKA Hamburg. Kann ich bei Ihnen einen Michael Baumann erreichen?«
Stille.
»Frau Baumann? Kann ich bitte mit Michael Baumann sprechen?«
Der Hörer wurde aufgelegt.
Tiedemann warf Fricke einen irritierten Blick zu und wählte ein weiteres Mal. Niemand hob ab.
»Bleib da dran, Ole.« Fricke sah Andresen an. »Wie weit seit ihr mit der Sichtung von Wenningers Unterlagen?«
Andresen zwirbelte an seinem Schnauzer. »Wir sind so gut wie durch. Alles nur Versicherungskram oder Unterlagen, die sein Haus oder die Praxis betreffen. Nichts Persönliches. Keine Kinderfotos, keine Briefe, keine Zeugnisse, nicht ein einziges Dokument von vor 1990. Als hätte es Kurt Wenninger da noch nicht gegeben.«
»Das ist doch nicht normal.« Frickes Kiefermuskeln malmten.
»Wenninger wollte offenbar nicht, dass jemand etwas findet«, erwiderte Malin. »Der Mann hatte etwas zu verbergen.«
Fricke musterte seine Mitarbeiter grimmig. »Dann fangt an zu graben, und zwar so tief ihr könnt.«
Nach dem sie zwei Stunden lang ergebnislos sämtliche Suchmaschinen im Internet mit Kurt Wenningers Namen gefüttert hatte, beschloss Malin, Stefan Biedermann aufzusuchen. Das merkwürdige Verhalten des Postboten während der ersten Befragung war ihr im Gedächtnis geblieben. Sie rief bei seiner Dienststelle an und erfuhr, dass er bereits Feierabend gemacht hatte und vermutlich in seinem Schrebergarten anzutreffen war.
Das Navi in ihrem Mini führte Malin zu einer weitläufigen Kleingartenkolonie in Langenhorn. Alte Bäume, halbhohe grüne Hecken und prächtige Blütenbüsche säumten die Wege. Auf den Grundstücken standen Häuser in Miniaturformat.
Vor einem dunkelrot gestrichenen Holzhaus hockte ein Mann mit Pferdeschwanz auf einer überschaubaren Rasenfläche und beförderte mit einem Unkrautstecher Löwenzahn aus dem Gras.
Malin öffnete das Gartentor. »Hallo, Herr Biedermann.«
Der Postbote sah kurz auf. »Hallo.« Ungerührt zupfte er das Unkraut von seinem Hilfsgerät umd warf es in den neben ihm stehenden Eimer.
»Ich würde mit Ihnen gerne noch mal über Kurt Wenninger sprechen.« Malin trat näher.
Stefan Biedermann sah zum Himmel, an dem sich dunkle Wolken auftürmten. »Eigentlich wollte ich den Rasen fertig machen. Ich muss noch mähen und hinterher düngen, und zwar bevor der Regen kommt.« Er widmete sich dem nächsten Löwenzahn.
Malin nahm den Faden auf. »Jemand hat etwas in Herrn Wenningers Rasen gemäht.« Sie beobachtete, wie Stefan Biedermann mitten in der Bewegung innehielt. »Zahlen oder Buchstaben, es ist schwer zu erkennen.«
Biedermann erhob sich aus der Hocke. »In Wenningers Rasen? In sein Heiligtum?« Er streifte Malin mit einem eigentümlichen Blick.
»Wissen Sie etwas darüber?«
»Der Doktor hätte das niemals zugelassen«, murmelte Stefan Biedermann, während er den Unkrautstecher von einem verbliebenen Rest Löwenzahn befreite.
»Herr Biedermann? Wissen Sie etwas darüber?«
»Nein.« Er hob den Blick und sah ihr direkt in die Augen.
»Bei unserem letzten Gespräch haben Sie erwähnt, dass Herr Wenninger mit Ihnen über seine Arbeit als Psychiater gesprochen hat. Was genau hat er erzählt?«
Stefan Biedermann runzelte die Stirn. »Streng genommen hat er es nicht von sich aus erzählt. Ich habe ihn gefragt, wofür der Doktortitel auf seinem Briefkasten steht.« Er ließ sein Gartenwerkzeug in den Eimer gleiten und steckte die Hände in die Taschen seiner grünen Arbeitshose. »Dabei hatte ich mit irgendetwas in Richtung Botanik oder Biologie gerechnet. Dass er so ein Nervenarzt war, hat mich aus den Latschen gehauen.«
»Warum?«
»Das passte einfach nicht zu ihm. Sagt man nicht von Psychiatern, dass die selbst alle eine Schraube locker haben?« Er schüttelte den Kopf. »Na ja, vielleicht habe ich auch einfach nur eine falsche Vorstellung von dem Beruf. Ich habe ihn mal gefragt, was man so macht als Psychiater. Da hat er gesagt, er helfe den Menschen dabei, ihre verlorenen Seelen wiederzufinden.«
Ihre verlorenen Seelen? Malin machte sich im Geiste eine Notiz. »Hat er Ihnen sonst noch etwas von seiner Arbeit erzählt?«
»Nie wieder. Als hätte er das eine Mal schon zu viel verraten. Aber das war seine Art. Der Doktor konnte stundenlang über seinen Garten philosophieren, aber sobald es um Persönliches ging …« Seine Stirn krauste sich. »Vielleicht fragen Sie mal bei diesem Club nach, zu dem er immer gegangen ist.«
»Was für ein Club?«, fragte Malin überrascht.
»Irgend so ein Pfeifenclub. Der Doktor war dort ein- bis zweimal die Woche.« Der Postbote sah sie erstaunt an. »Wussten Sie das denn nicht?«
Malin unterdrückte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. »Wissen Sie möglicherweise auch, wo die Mitglieder dieses Clubs sich treffen?«
»In irgendeiner Gaststätte.« Biedermann schwieg einen Moment, und es schien, als wäge er verschiedene Möglichkeiten ab. »Irgendwo in Langenhorn. Genaueres weiß ich nicht.«
Wenninger war am Langhorner Markt eingestiegen, erinnerte sich Malin. »Möglicherweise hilft uns das schon mal weiter. Vielen Dank, Herr Biedermann.« Sie musterte ihn und konnte nicht verhindern, dass die unterdrückten Worte nun doch den Weg über ihre Lippen fanden: »Ehrlich gesagt würde es mich brennend interessieren, woher Sie davon wissen. Haben Sie mir nicht gerade vor wenigen Augenblicken erzählt, dass Herr Wenninger nicht gerne über Persönliches sprach?«
Wieder erschien dieser eigentümliche Blick in Biedermanns Augen. »Er hat es irgendwann mal erwähnt.«
»Aha. Hat Herr Wenninger vielleicht noch etwas anderes erwähnt, das uns helfen könnte, seinen Mörder zu finden?« Sie fixierte den Postbeamten noch eingehender. »Irgendwann?«
»Nein, hat er nicht.« Biedermann griff nach dem Eimer und nahm demonstrativ den Unkrautstecher heraus.
»Gut, dann lasse ich Sie jetzt mit Ihrem Rasen allein. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Malin drehte sich um und ging durch das Gartentor. Dabei spürte sie den Blick des Postboten im Rücken.
»Frau Brodersen!«, rief Stefan Biedermann ihr hinterher. »Lassen Sie Doktor Wenningers Rasen mähen!«
Malin sah irritiert über ihre Schulter, doch von dem Mann war nichts mehr zu sehen.
Als Malin zurück ins Präsidium kam, waren die Schreibtische ihrer Kollegen verwaist. Sie schenkte sich einen Becher Kaffee ein und setzte sich an ihren Platz. Nachdenklich starrte sie aus dem Fenster in den bewölkten Himmel. Was machte man in einem Pfeifenclub? Rauchen und philosophieren?
Malin nippte an ihrem Kaffee. Er schmeckte ungewöhnlich bitter. Sie schob den Becher beiseite, öffnete die unterste Schublade ihres Schreibtisches und zog eine Papiertüte mit einem Franzbrötchen vom Vortag heraus. Genüsslich biss sie in das süße Hefegebäck. Sofort breitete sich der vertraute Butter-Zimt-Geschmack auf ihrem Gaumen aus.
Derart gestärkt, gab sie in die Internet-Suchmaschine die Begriffe Pfeifenclub und Hamburg ein. Zwölftausend Treffer. Anscheinend waren solche Clubs hier nichts Ungewöhnliches. Sie las sich einige der Vereinsbeschreibungen durch. In vielen häuften sich Dinge wie Förderung der Geselligkeit und Erhaltung von Traditionen, auch von Aktionen wie Zigarillowettrauchen und Kegelturnieren war die Rede. Bei weiteren Clubs wurden Wanderungen und Ausflüge erwähnt, sowie Spendenaktionen und das jährliche Grünkohlessen.
Malin gab als zusätzlichen Begriff Langenhorn in die Maske ein. Nur noch einhunderteinundzwanzig Treffer. Sie ging die einzelnen Seiten durch, nur um festzustellen, dass nicht einer davon in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Langenhorner Pfeifenclub stand.
Die Tür wurde aufgerissen und Tiedemann erschien. »Du bist zurück? Vorhin war ein Taxifahrer