Anette Hinrichs

Das Sandmann-Projekt


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wollte Feierabend machen. Mehr weiß ich aber auch nicht. Kann ich wieder in die Küche? Meine Sauce brennt sonst an.«

      »Gehen Sie nur.« Tiedemann wandte sich wieder dem Wirt zu. »Haben Sie vielleicht ein paar Namen für uns?«

      Lenz schüttelte den Kopf. »Ich führe hier keine Anwesenheitsliste, ich habe nur den Raum vermietet.«

      »Und wer bezahlt die Miete?« Tiedemann steckte Wenningers Foto wieder ein und zückte sein Notizbuch.

      Der Wirt dachte angestrengt nach. »Wie heißt der noch gleich … König, Kaiser, irgendwie so.«

      »Irgendwie so?« Tiedemanns Miene wurde streng. »Für die Miete muss es doch Belege geben.«

      »Da müsste ich erst nachsehen.« Gregor Lenz wurde rot. »Zu Hause.«

      »In Ihrem eigenen Interesse wäre es besser, wenn Sie diese Belege finden würden.«

      Lenz nickte. »Heute Abend findet übrigens auch ein Treffen der Schmauchfreunde statt. Um acht.«

      »Wir kommen wieder.« Tiedemann warf dem Wirt einen finsteren Blick zu und drehte sich um.

      Malin folgte ihm zum Dienstwagen. »Es gibt keine Belege.«

      Ihr Kollege deutete ein Nicken an. Er schien etwas sagen zu wollen, doch er zögerte einen Moment. »Wegen deiner Frage vorhin, Malin … Mach dir keine Gedanken um mich. Ich halte Berufliches und Privates getrennt. Das ist besser so.« Bevor sie etwas erwidern konnte, stieg er in den Dienstwagen und startete den Motor.

      Zwei Stunden später stand Malin vor Frickes klobigem Holzschreibtisch, einem Relikt seiner früheren Dienststelle, und sah ihren Vorgesetzten ungläubig an. »Das ist nicht dein Ernst, Chef!«

      »Das ist mein völliger Ernst.« Fricke zog ein Salamisandwich aus einer Papiertüte und biss genüsslich hinein. »So gut solltest du mich mittlerweile kennen«, fügte er zwischen zwei Bissen hinzu.

      »Aber, Chef.« Malin setzte sich unaufgefordert auf den durchgesessenen Besucherstuhl. »Vielleicht …«

      Fricke unterbrach sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Nichts da. Ole und Sven übernehmen diesen Pfeifenclub. Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, mich um den Finger zu wickeln. Dein Undercover-Einsatz an der Corvinius Law School war das letzte Mal, dass dir das gelungen ist. Und wir wissen beide, wie das geendet hat.« Er nahm einen weiteren Bissen von seinem Sandwich und warf ihr einen scharfen Blick zu. »Ich erwarte, dass du dich an meine Anweisungen hältst.«

      Malin hätte ihn gern darauf hingewiesen, dass sie mit ihrem verdeckten Einsatz damals den Ermittlungen entscheidend auf die Sprünge geholfen hatte, doch sie bemerkte gerade noch, wie sich Frickes Hals rosa verfärbte. Wenn die Farbe erst einmal bis ins Gesicht wanderte und ins Dunkelrote wechselte, wäre mit ihrem Chef nicht mehr gut Kirschen essen. Es lohnte sich nicht, ihn an diesem Punkt weiter zu reizen. Auch sie hatte dazugelernt.

      »Außerdem habe ich für dich eine ganz andere Aufgabe.« Fricke griff nach der Serviette und wischte sich die verbliebenen Brotkrümel vom Mund. »Du hast doch in der Vergangenheit schon öfter dein Händchen für ältere Damen unter Beweis gestellt.«

      »Hab ich?«, fragte Malin irritiert.

      »Du wirst dich gleich morgen früh um Wenningers Schwester kümmern. Fühl ihr auf den Zahn. Ich will wissen, was es da für Feindseligkeiten zwischen ihr und ihrem Bruder gegeben hat. Frag sie auch nach diesem Michael Baumann. Konfrontiere sie mit dem Testament.«

      Malin nickte. »Soll ich jemanden mitnehmen?«

      Der Anflug eines Lächelns streifte Frickes Lippen. »Ich denke, das bekommst du genauso gut alleine hin.« Dann wurde sein Blick ernst. »Günther Peters von 412 geht Ende des Jahres in Ruhestand.«

      Malin sah ihren Vorgesetzten fragend an. Was hatte sie mit dem Kollegen aus einem der anderen Ermittlungsteams zu tun?

      Fricke räusperte sich. »Dein Teampartner hat mir vor seinem Urlaub mitgeteilt, dass er sich für Günthers Stelle beworben hat.« Er musterte Malin aus zusammengekniffenen Augen. »Weißt du etwas über Fredericks Gründe, Brodersen?«

      Malin erstarrte. Er hatte es also tatsächlich getan. Sie dachte an den heftigen Streit mit Frederick Bartels während der Ermittlung vor zweieinhalb Monaten. Am Ende ihrer Auseinandersetzung hatte ihr Partner verkündet, das Team nach Abschluss des Falls zu verlassen. Das war vor acht Wochen gewesen.

      »Brodersen?«

      Malin schluckte. »Ich …« Sie biss sich auf die Lippe.

      »Er hat dir nichts davon gesagt, oder?« Fricke strich sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Eine schöne Bescherung. Du solltest mit ihm reden, Brodersen. Ich hatte immer das Gefühl, ihr hättet einen besonderen Draht zueinander. Vielleicht lässt er sich von dir umstimmen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Am besten machst du jetzt Feierabend. Sortier deine Gedanken, triff dich mit deinem Freund. Du hast doch einen neuen Freund, oder?«

      »Der Flurfunk funktioniert offenbar.« Malin erhob sich von ihrem Stuhl.

      »Bis morgen, Brodersen«, brummte Fricke. Seine Augen blickten besorgt.

      01. Februar 1979

      Kein Baum, kein Strauch, kein Himmel. Andauernd nur tris­­te Wände und das stetige Summen der Neonröhre, deren grelles Licht sie langsam genauso in den Wahnsinn trieb wie das ewige Warten, dass endlich etwas geschah.

      Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden, Stunden zu Tagen. Zumindest vermutete Rena, dass mehrere Tage vergangen waren, seit man sie im Morgengrauen in ihrer Wohnung aus dem Schlaf gerissen hatte. Wissen konnte sie es nicht.

      Die Stille und die Einsamkeit waren das Schlimmste. Manchmal hörte sie Schritte vor der Tür oder das schmatzende Geräusch von Gummirädern, bevor ihr das Essen durch die Klappe gereicht wurde.

      Rena erhob sich von ihrem Hocker und begann, den schmalen Raum abzulaufen. Sieben Schritte bis zur Tür, sieben Schritte zurück. Ihre Gedanken wanderten zu dem Augenblick, als man ihr die Augenbinde vom Kopf gerissen hatte. Scheinwerferlicht hatte sich wie Tausend kleine Nadelstiche in ihre Netzhaut gebrannt und sie hatte sich ohne Protest durch einen langen Flur zu einem hell erleuchteten Raum führen lassen.

      Krampfhaft versuchte Rena die Erinnerung, was darin geschehen war, aus ihrem Gedächtnis zu drängen. Umdrehen. Ausziehen. Bücken. Jede Körperöffnung war genauestens untersucht worden.

      Rena beschleunigte ihren Schritt. Sieben Schritte hin, sieben Schritte zurück. Was passierte hier? Warum half ihr keiner? Wo blieb Peter? Ihr wurde schwindelig und sie sank zurück auf den Hocker unter den Glasbausteinen. Stille umfing sie.

      Ihr Puls raste. Ich drehe durch, dachte Rena. Sie atmete mehrfach tief durch und spürte, wie sich ihr Puls langsam wieder normalisierte. Ich muss mich zusammenreißen. Für Romy. Für meinen Mann.

      Sie hatte Peter im Jugendclub kennengelernt. Damals war sie gerade sechzehn geworden. Noch am gleichen Abend hatte er sie geküsst und ihr gesagt, dass er sie eines Tages heiraten würde. Rena war regelrecht dahingeschmolzen und hatte sich wie in einem dieser Kitschromane gefühlt, die sie so gerne in der Badewanne las. Sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie und Peter füreinander bestimmt waren. Das war sie bis heute.

      Rena hörte Schritte im Flur. Vor ihrer Tür hielten sie an. Sie wartete darauf, dass sie sich wieder entfernten, doch stattdessen wurde ein Schlüssel zweimal im Schloss gedreht. Dann wurde die Tür geöffnet.

      9

      Michael Baumann glitt aus einem unruhigen Schlaf. Er hatte einen Albtraum gehabt, an den er sich nur noch schemenhaft erinnern konnte. Da war diese Frau gewesen …

      Er öffnete die Augen. Sein Blick erfasste die bunt gemusterte Tapete und erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er in einem Hamburger Hotelzimmer war. Und warum.

      Er schob die Bettdecke beiseite und stand auf. Im hellblau gefliesten Badezimmer starrte ihm sein Spiegelbild entgegen. Etliche rote Stressflecken