Anette Hinrichs

Das Sandmann-Projekt


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schwieriger Weg bevorstand. Deshalb hatte er sich zunächst ein Hotel gesucht. Um zur Ruhe zu kommen. Doch statt zu schlafen, hatte er sich die halbe Nacht in dem fremden Bett hin- und hergewälzt. Und nun das! Es geschah immer in den unpassendsten Momenten.

      Michael schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Tief einatmen. Ausatmen. Einatmen und ausatmen. Manchmal half es. Dieses Mal nicht. Die Flecken blieben.

      Plötzlich sehnte er sich nach Ina und seiner kleinen Tochter. Wäre er bei ihnen zu Hause geblieben, würde es ihm jetzt vermutlich besser gehen. Dann schalt er sich selbst einen Narren. Die Unruhe würde ihn einholen, wie sie es immer tat. Sie begleitete ihn bereits sein ganzes Leben. Nein, er musste da jetzt durch, musste sich endlich Gewissheit verschaffen.

      Er wandte seinem Spiegelbild den Rücken zu und zwängte sich in die kleine Duschkabine hinter der Badezimmertür. Dann duschte er lang und ausgiebig, putzte sich anschließend die Zähne und rasierte sich sorgfältig. Als er damit fertig war, bemerkte er zufrieden, dass die Flecken fast aus seinem Gesicht verschwunden waren. Sein Magen knurrte. Er hatte sein Zimmer ohne das überteuerte Frühstück gebucht und überlegte nun, ob er sich in der Nähe ein Café suchen sollte.

      Michael schlüpfte in seine Kleidung und kontrollierte seine Brieftasche, ob er genügend Bargeld hatte. Dabei stach ihm der gelbe Notizzettel mit der Adresse ins Auge. Er kannte sie mittlerweile auswendig. Sein Puls beschleunigte sich. Ohne in den Spiegel zu schauen wusste er, dass sich die Flecken in seinem Gesicht wieder ausbreiteten.

      »Ich kenne keinen Michael Baumann.« Ilse Wenninger verschränkte ihre Arme demonstrativ vor der Brust. In ihren alterstrüben Augen blitzte es. »Wer soll das denn sein?«

      Malin unterdrückte ein Seufzen. Seit einer geschlagenen Viertelstunde versuchte sie, brauchbare Informationen aus dieser widerspenstigen Person herauszuholen. Ohne Erfolg. Ilse Wenninger war ein harter Brocken. »Das ist der Mann, der von ihrem Bruder als Alleinerbe ins Testament eingesetzt wurde.«

      »Als …« Ilse Wenninger blieb das Wort buchstäblich im Hals stecken. Sie wirkte sichtlich geschockt.

      »Was ist zwischen Ihnen und Ihrem Bruder vorgefallen?«, schob Malin nach.

      Ilse Wenningers Züge wirkten wie versteinert.

      »Frau Wenninger?«

      »Das geht niemanden etwas an.« Ihre Stimme war kalt und schneidend.

      »Frau Wenninger, wir müssen den Mord an Ihrem Bruder aufklären«, entgegnete Malin scharf. »Uns geht alles etwas an, das mit ihm in Zusammenhang steht. Wenn Sie meine Fragen nicht beantworten, bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie mit ins Polizeipräsidium zu nehmen. Möchten Sie das?«

      Ilse Wenningers Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengekniffen, als sie schließlich den Kopf schüttelte.

      »Was hatte Ihr Bruder für eine Verbindung nach Berlin?«

      Malins Frage schien die Frau zu irritieren. Sie öffnete ihre Haltung. »Na, Kurt hat doch in Berlin gelebt. In Ost-Berlin. Er ist erst nach der Wende zurück nach Hamburg gekommen.«

      »Ach«, sagte Malin überrascht und zückte ihr Notizbuch. »Erzählen Sie mehr darüber. Was hat Ihren Bruder nach Berlin verschlagen? Noch dazu in den Osten der Stadt?«

      Die alte Frau musterte sie abschätzig. »Sie sind noch zu jung, um das zu verstehen.« Ehe Malin protestieren konnte, sprach Ilse Wenninger weiter: »Ich war noch ein Kind, damals, während des Krieges.« Sie senkte den Blick auf ihre gefalteten Hände. »Unser Vater war Berliner. Und ein elender Kommunist! Doch das erfuhr ich erst, als ich bereits erwachsen war. Meine Mutter lernte meinen Vater Anfang der dreißiger Jahre hier in Hamburg kennen, als er zu Besuch bei Bekannten war. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick. Meine Großeltern waren damals angesehene Leute in Hamburg. Als meine Mutter mit Kurt schwanger wurde, war es beschlossene Sache, dass ihr Enkelkind im Kreis der Familie aufwachsen würde. Zwei Jahre später bin ich dann auf die Welt gekommen.« Ilse Wenninger hob den Blick. »Mein Vater hat sich in Hamburg nie richtig wohlgefühlt. Immer wieder sprach er davon, zurück nach Berlin zu gehen. Zwischen meinen Eltern ist es deswegen ständig zum Streit gekommen.« Ein milder Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht. »Kurti und ich haben uns gemeinsam unter der Bettdecke verkrochen, wenn sie sich stritten. Wir hatten schon damals Angst, dass unsere Eltern sich trennen würden. Dann kam der Krieg. Mein Vater wurde eingezogen, Kurti und ich wurden mit der Kinderlandverschickung aufs Land gebracht. Unsere Familie wurde regelrecht auseinandergerissen.«

      Sie biss sich auf die Unterlippe. »Als wir zurückkamen, lag alles in Trümmern. Die Straße, in der unser Haus gestanden hatte, gab es nicht mehr. Meine Großeltern waren tot und mein Vater war zu einem völlig anderen Menschen geworden. Er verlangte von meiner Mutter, mit ihm nach Berlin zu gehen, doch sie weigerte sich. Nach dem Verlust ihrer Eltern wollte sie nicht auch noch ihre Heimat verlieren. Wir sind dann in das Haus am Schleusenredder gezogen. Es gehörte meinen Großeltern.« Eine Träne löste sich aus Ilse Wenningers linkem Auge und rann ihre faltige Wange hinunter. »Eines Tages war mein Vater verschwunden. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, auf dem er meiner Mutter mitteilte, dass er zurück nach Berlin geht. Kurti hat er mitgenommen.« Sie wischte sich mit einer resoluten Geste die Träne von der Wange. »Jetzt wissen Sie, wie mein Bruder damals nach Berlin gekommen ist.« Ihre Gesichtszüge verhärteten sich wieder.

      »Und danach?«, fragte Malin, die den Schilderungen der alten Frau gespannt gelauscht hatte. »Hatten Sie mit Ihrem Bruder Kontakt?«

      Ilse Wenninger schnaubte. »Sie wissen wohl nicht besonders viel über die DDR. Für die waren wir der Klassenfeind. In den ersten Jahren gab es noch einen Briefwechsel zwischen meinem Bruder und mir, doch der wurde mit der Zeit immer weniger, bis ich irgendwann gar nichts mehr hörte.« Ihre Stimme wurde hart. »Mehr möchte ich nicht dazu sagen. Und wenn Sie mich deswegen mit aufs Präsidium schleppen wollen, dann tun Sie das meinetwegen. Dort werden Sie von mir auch nicht mehr erfahren.«

      Malin zweifelte keinen Moment an den Worten der alten Frau, die nun stocksteif in ihrem Sessel thronte. »Dann beantworten Sie mir bitte noch eine letzte Frage. Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?«

      »Sie haben mir die Frage schon einmal gestellt, an der Antwort hat sich seitdem nichts geändert.« Ilse Wenniger sah ihr direkt in die Augen. »Bei der Beerdigung meiner Mutter. Vor dreiundzwanzig Jahren.«

      Auf dem Weg von Niendorf zum Polizeipräsidium legte Malin einen Zwischenstopp im Cafe Elbgold ein, ihrem Stammcafé für Samstagvormittage. An der Theke orderte sie das obligatorische Franzbrötchen, dazu einen Milchkaffee, und ergatterte anschließend einen der begehrten Fensterplätze mit Blick auf den Mühlenkamp. Gedankenversunken beobachtete sie die Passanten, während sie genüsslich ihr Frühstück verzehrte.

      Es war Malins erste Mahlzeit nach einer viel zu kurzen Nacht. Thies hatte für sie am vergangenen Abend ein Drei-Gänge-Menü auf seinem Hausboot gezaubert. Die romantische Stimmung hatte dafür gesorgt, dass Malin weder an Frederick noch an den Einsatz ihrer Kollegen einen Gedanken verschwendet hatte. Jetzt hätte sie allerdings nur allzu gerne gewusst, wie es für Tiedemann und Andresen im Admiral gelaufen war und was es mit dem Pfeifenclub auf sich hatte.

      Malin stippte ihr Franzbrötchen in den Milchkaffee. Ilse Wenninger war ihr ein Rätsel. Die Geschichte der Frau hatte sie berührt und sie fragte sich, was zwischen den Geschwistern Wenninger in den vergangenen Jahren schiefgelaufen war. Was hatte Ilse Wenninger zu dieser verbitterten alten Frau gemacht? Und warum hasste sie ihren Bruder so sehr?

      Ihre Reaktion auf das Testament gab Malin ebenfalls zu denken. Offenbar hatte Ilse Wenninger mit etwas anderem gerechnet.

      Während Malin den letzten Zipfel ihres Franzbrötchens verschlang, dachte sie über die neugewonnene Erkenntnis nach. Kurt Wenninger hatte einen Großteil seines Lebens in Ost-Berlin verbracht. Spielte das für ihren Fall eine Rolle? Ihr fiel ein, dass dieser ominöse Erbe, Michael Baumann, ebenfalls aus Berlin stammte.

      Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. In einer knappen halben Stunde würde die Besprechung im Präsidium beginnen. Sie leerte ihre Kaffeetasse und ging zum Tresen, um sich ein weiteres Franzbrötchen zum Mitnehmen einpacken