Anette Hinrichs

Das Sandmann-Projekt


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rechnen kann. Ich habe noch weitere Kunden.« Ein letzter kühler Blick und Dr. Steinhofer verließ das Haus.

      »Also gut, dann wollen wir mal.« Tiedemann sah seine Kollegin an. »Am besten, du machst dir erst einmal selbst ein Bild.«

      Malin folgte ihm ins Wohnzimmer. Die vertäfelte Holzdecke, das Monstrum von einem Eichenschrank, die durchgesessene Sofagarnitur und die ausgeblichenen Perserteppiche hatten ihre besten Zeiten seit Jahren hinter sich. Die Gardinen waren aufgezogen. Vereinzelte Sonnenstrahlen warfen Lichtreflexe auf den Ohrensessel aus dunkelrotem Samt, der zum Fenster in den Garten hin ausgerichtet war.

      Ein Kriminaltechniker beugte sich gerade über den Sessel und Malin erkannte Frank Glaser, dessen kleine, runde Brille zwischen Kapuze und Mundschutz hervorlugte. Er murmelte vor sich hin und beförderte mit einer Pinzette Insekten in ein nummeriertes Gefäß. Erst jetzt bemerkte Malin einen Arm mit marmorierter Grünverfärbung auf der abgewetzten Lehne. Der Tote saß im Ohrensessel.

      Sie trat ein paar Schritte näher. Insekten tummelten sich auf dem geschwollenen Leib und in den Körperöffnungen des Toten. Am rechten Oberschenkel, an der linken Schulter und im Rumpf konnte man deutlich Einschusswunden erkennen. Ihr Magen rebellierte und der Gestank drang jetzt auch durch ihren Mundschutz. Verdammt.

      »Lass uns einen Moment rausgehen«, schlug Tiedemann vor.

      Malin folgte ihm schweigend aus dem Haus, löste ihren Mundschutz und atmete tief durch.

      »Wir sind hier bis auf weiteres erst mal zu zweit«, sagte Tiedemann, während sie auf dem Kiesweg das Haus umrundeten. »Sven ist beim Zahnarzt. Wurzelbehandlung. Und der Chef hat irgendeinen wichtigen Termin.«

      »Und was ist mit Fred?«

      Tiedemann warf ihr einen erstaunten Seitenblick zu. »Er hat dir nicht gesagt, dass er Urlaub hat? Gestern Abend ging sein Flieger in die Türkei.«

      »Nein, das wusste ich nicht.« Malin verdrängte die widersprüchlichen Gefühle, die diese Nachricht bei ihr auslöste.

      Der hintere Garten erinnerte an eine gut gepflegte Parklandschaft. Die sauber getrimmte Thujenhecke umrahmte symmetrisch angelegte Beete, Kolonien von runden und zylinderförmig geschnittenen Buchsbäumen und eine großzügig angelegte Rasenfläche.

      Die beiden Kriminalbeamten blieben vor der Terrasse stehen und sahen durch das Verandafenster. Der Tote im Ohrensessel schien sie direkt anzustarren.

      »Hast du die Einschusslöcher gesehen?«, fragte Tiedemann.

      »Hab ich.« Malin musterte ihn von der Seite. Wie es schien, machte ihm der unappetitliche Anblick nichts aus.

      Tiedemann bemerkte ihren Blick. »Habe ich eines der Viecher mit rausgebracht? Oder warum starrst du mich so an?« Er fegte mit seiner behandschuhten Hand ein imaginäres Insekt aus seinem Gesicht.

      Malin ließ seine Frage unbeantwortet. »Weiß man schon etwas Näheres über den Hauseigentümer?«

      »Bisher nicht. Aber du könntest mit Stefan Biedermann, dem Postboten, sprechen. Er wartet bei den Nachbarn zwei Häuser weiter. Postboten sind oftmals gute Informationsquellen.« Seine Stirn krauste sich, während er die Leiche betrachtete. »Ein Profi war das nicht. Der Bauchschuss allein hätte ausgereicht, um den Mann in kürzester Zeit verbluten zu lassen. Offenbar hatte da noch jemand eine Rechnung offen.«

      3

      Das gelbe Postfahrrad stand zwei Einfahrten weiter vor einem klassischen Rotklinkerbau. Im dazugehörigen Garten war alles vorhanden, was Kinderherzen höher schlagen ließ: Sandkasten, Kletterbaum samt Baumhaus, Fußballtore und ein Riesentrampolin. Eine zierliche, rothaarige Frau Mitte dreißig öffnete die Tür. Sie trug ein ebenso rothaariges Kleinkind auf dem Arm.

      Malin, die sich ihrer Schutzkleidung mittlerweile entledigt hatte, zeigte ihren Dienstausweis und stellte sich vor.

      Die Frau reichte ihr die Hand. »Ich bin Nadine Schröder. Sie wollen bestimmt mit dem armen Herrn Biedermann sprechen. Er sitzt in der Küche.« Sie trat beiseite, um die Kriminalbeamtin hereinzulassen.

      Anders als im vorigen Haus war dieser Eingangsbereich hell und freundlich gestaltet. Wände, Treppen und Türen waren weiß, der Fliesenboden hatte ein Schachbrettmuster und bunt gerahmte Kinderzeichnungen setzten Farbakzente. Aus dem oberen Stockwerk tönten die dumpfen Bässe eines Popsongs gemischt mit Kinderstimmen.

      Malin schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich würde vorab gern kurz mit Ihnen sprechen.«

      Nadine Schröder flüsterte dem Kind auf ihrem Arm etwas ins Ohr und setzte es dann auf den Boden. Es flitzte umgehend in einen der Nebenräume. »Ich möchte nicht, dass die Kleine etwas mitbekommt. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

      »Danke, nein. Sie wissen, dass im Nachbarhaus ein Toter gefunden wurde?«

      Nadine Schröder nickte.

      »Wie gut kennen Sie Ihren Nachbarn Dr. Wenninger?«

      »Nicht besonders gut. Wir grüßen uns, wenn wir uns sehen, manchmal wechseln wir auch ein paar Worte.« Eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn. »Ist er der Tote?«

      »Wir gehen davon aus«, erwiderte Malin. »Wann haben Sie Dr. Wenninger das letzte Mal gesehen?«

      »Das ist bestimmt zwei Wochen her.« Nadine Schröder legte nachdenklich den Kopf schief. »Ich glaube, das war Dienstag vor zwei Wochen, der fünfte August. Wir hatten Hochzeitstag. Mein Mann und ich sind erst ziemlich spät nach Hause gekommen. So gegen ein Uhr morgens … und ich weiß noch, dass ich mich über das Taxi gewundert habe, das vor Dr. Wenningers Auffahrt stand.«

      Malin zog ihr Notizbuch aus der Umhängetasche. »Wissen Sie, ob Dr. Wenninger Angehörige hat?«

      »Er hat irgendwann mal eine Schwester erwähnt.« Nadine Schröder krauste die Nase. »Sie sollten mit den Tiefenbrunners im Nebenhaus sprechen. Frau Tiefenbrunner interessiert sich immer sehr für die Vorgänge in ihrer Nachbarschaft.« Sie lächelte gequält.

      »Danke, Frau Schröder.« Malin reichte ihr eine Visitenkarte. »Für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt. Wenn Sie mir jetzt vielleicht den Weg in die Küche zeigen könnten?«

      Der Postbote saß am Tisch und presste seine Hände um ein Wasserglas. Er war groß und sehnig, hatte ein längliches Gesicht mit engstehenden Augen und dunkelblonde Haare, die im Nacken zu einem Zopf gebunden waren. Seine blau-gelbe Dienstkleidung wirkte in dem ganz in Weiß gehaltenen Raum wie ein Fremdkörper. Malin schätzte den Mann auf Anfang zwanzig.

      »Herr Biedermann?« Sie setzte sich auf den gegenüberstehenden Stuhl. »Ich bin Malin Brodersen vom LKA.«

      Stefan Biedermann drehte das Wasserglas in seinen Händen, ohne den Blick zu heben. »Ich wollte auch mal zur Polizei. Jetzt bin ich Postbote und finde trotzdem Leichen.« Seine Finger hielten in der Bewegung inne. »Ist das Dr. Wenninger, da drüben im Sessel?«

      »Wir vermuten es. Kannten Sie ihn?«

      Der Postbote drehte weiter am Wasserglas. Winzige Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Wir haben uns öfter unterhalten. Meistens über Gartenarbeit. Ich habe so einen kleinen Schrebergarten. In Langenhorn.« Er schaute Malin das erste Mal direkt an und sie bemerkte den bekümmerten Ausdruck in seinen Augen. Im nächsten Moment fixierte er wieder das Glas. »Dr. Wenninger hat mir Tipps gegeben. Für den Rasen. Leider ist meiner nie so schön geworden wie seiner. Englischer Rasen. Aber der nützt ihm nun ja auch nichts mehr.«

      »Erzählen Sie mir, wie Sie den Toten gefunden haben.«

      »Der Briefkasten wurde nicht geleert. Ich hätte mir gleich denken können, dass Dr. Wenninger nicht in den Urlaub gefahren ist. Das hat er noch nie gemacht. Zumindest nicht in den drei Jahren, in denen der Schleusenredder auf meiner Route liegt.« Er trank einen Schluck Wasser. »Spätestens, als er seinen Rasen nicht wie gewohnt gemäht hat, hätte ich es raffen müssen. Hab ich aber nicht. Wissen Sie, englischer Rasen sollte alle paar Tage gemäht werden. Die optimale Länge ist drei bis vier Zentimeter.«