Anette Hinrichs

Das Sandmann-Projekt


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hob fragend die Brauen.

      Der Kriminaltechniker verzog sein grimmiges Gesicht zu einem Lächeln. »Eine Patronenhülse unter dem Sessel. Die hat der Täter offenbar übersehen.«

      »Dann wissen wir, um welches Projektil es sich handelt?«

      »Der Stempel am Patronenboden ist kaum zu entziffern. Aber vielleicht können wir bei der KTU noch etwas herausholen. – Ich mache mich dann mal weiter an die Arbeit.« Glaser verschwand wieder im Haus.

      Fricke wandte sich an Tiedemann. »Habt ihr ein Adressbuch oder irgendetwas in der Art gefunden?«

      Tiedemann nickte. »Die Telefonnummer vom Zahnarzt steht drin, ich hab ihn schon angerufen. Er hat versprochen, gleich nachzusehen, ob er Röntgenaufnahmen von Wenninger hat.«

      »Gut. Und die Adresse der Schwester?«

      »Fehlanzeige. Auch keine Kontaktdaten von anderen Angehörigen, sofern sie denn Wenninger heißen.«

      »Vielleicht gibt es keine weiteren Verwandten.« Fricke sah auf seine Armbanduhr. »Also gut. Die Identifizierung der Leiche steht an erster Stelle. Ole, du kümmerst dich um die Zahnarztunterlagen und fährst gegebenenfalls direkt damit für einen Abgleich in die Rechtsmedizin. Und du, Brodersen, treibst in der Zwischenzeit die Adresse der Schwester auf. Sobald wir sicher sind, dass der Tote im Haus Kurt Wenninger ist, stattet ihr der Dame einen Besuch ab. Alles klar?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Fricke die Kapuze seines Schutzanzuges wieder über den Kopf und drehte ihnen den Rücken zu.

      Am späten Nachmittag wurde das Mordopfer anhand seiner Zahnschema-Karte als der achtundsiebzigjährige Kurt Wenninger identifiziert.

      Malin fuhr mit Ole Tiedemann zu Ilse Wenninger, deren Adresse sie im Melderegister gefunden hatte. Im Wagrierweg in Niendorf stellte sie ihren Mini in einer der Parkbuchten ab und wartete, bis der Kollege seine langen Beine umständlich aus dem Auto befreit hatte, ehe sie ebenfalls ausstieg. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er sich jeglichen Kommentar bezüglich der Größe ihres fahrbaren Untersatzes verkniff.

      An einem hohen, grauen Mehrfamilienhaus mit der Nummer neun ging Malin die zahlreichen Türschilder durch, bis sie auf den Namen Ilse Wenninger stieß. Sie drückte den Klingelknopf. Sekunden später ertönte der Summer. Im Treppenhaus empfing sie Essensgeruch. Malin, die seit dem Joghurt am Morgen nichts mehr gegessen hatte, bekam Hunger. Hinter einer der Türen im Erdgeschoss brüllte ein Baby.

      Sie nahmen den Fahrstuhl in den sechsten Stock. Eine ältere Frau mit kurzen, grauen Haaren und randloser Brille öffnete ihnen. Sie war ein wenig mollig und hatte ein offenes, sympathisches Gesicht.

      »Frau Wenninger?« Tiedemann zückte seinen Dienstausweis.

      Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin Natascha Raschke. Ich helfe Frau Wenninger ab und zu im Haushalt, wenn sie gerade einen ihrer Rheumaschübe hat. Sie sind von der Polizei?«

      Tiedemann nickte. »Wir würden gerne mit Frau Wenninger sprechen. Ist sie da?«

      »Ja, Entschuldigung.« Die Haushaltshilfe ließ sie eintreten. »Frau Wenninger ist im Wohnzimmer. Es ist gleich geradeaus.«

      Ilse Wenninger war eine winzige, dünne Person mit weißen Löckchen und einer Haut wie altem Pergament, zerknittert und von unzähligen Falten durchzogen. Die betagte Gestalt thronte in einem bunt geblümten Kleid in einem Lehnstuhl mit einem Kissen im Kreuz. Misstrauisch beäugte sie die Neuankömmlinge. Malin schätzte sie auf Mitte siebzig.

      »Frau Wenninger? Malin Brodersen. LKA Hamburg.« Sie reichte ihr die Hand und war erstaunt über den kräftigen Händedruck.

      Ole Tiedemann tat es seiner Kollegin nach und stellte sich ebenfalls vor.

      Ilse Wenninger zeigte auf ein durchgesessenes Sofa. »Setzen Sie sich. Und dann sagen Sie mir, was Sie von mir wollen.«

      »Es geht um Kurt Wenninger«, verkündete Tiedemann.

      Ihre Züge verhärteten sich. »Um meinen Bruder? Was ist mit ihm? Ist er tot?«

      »Leider ja.« Tiedemann war nicht anzumerken, ob ihn die direkte Art der Frau irritierte. »Er wurde heute Vormittag tot in seinem Haus aufgefunden.«

      »Glauben Sie nicht, dass mich das jetzt schockiert.« Ilse Wenninger faltete ihre mit Altersflecken übersäten Hände und legte sie in den Schoß. »Ich konnte meinen Bruder noch nie besonders gut leiden.«

      »Frau Wenninger«, sagte Malin, »Ihr Bruder ist keines natürlichen Todes gestorben.«

      »Sie meinen, er wurde ermordet?« Ilse Wenninger schnaubte. »Auch das wundert mich nicht. Er war intrigant und raffgierig.«

      »Können Sie das vielleicht ein wenig ausführen?« Malin war verblüfft.

      Ilse Wenninger reckte angriffslustig ihr Kinn. »Das sind Familiengeschichten. Und die gehen die Polizei überhaupt nichts an.«

      Tiedemann ergriff das Wort, ehe Malin reagieren konnte. »Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?«

      »Bei der Beerdigung unserer Mutter. Vor dreiundzwanzig Jahren.«

      »Aber Sie hatten schriftlichen Kontakt?«, hakte er nach.

      »Wie kommen Sie denn darauf?«

      »Wir haben die Aussage des Postboten, dass er einen Brief von Ihnen an Ihren Bruder zugestellt hat.«

      Ilse Wenninger schüttelte rigoros den Kopf. »Der Mann muss sich irren.«

      Malin warf Tiedemann verwundert einen Blick zu, doch ihr Kollege ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder war also nicht besonders gut?«

      Wieder schnaubte die Alte. »Das ist noch maßlos untertrieben.«

      »Gibt es noch weitere Familienmitglieder?«

      Ihr Blick wurde wachsam. »Nur noch meine Tochter Ruth und ihre zwei Kinder.«

      »War Ihr Bruder verheiratet?«

      Ilse Wenninger schüttelte den Kopf. »Genauso wenig wie ich. Eine unserer kümmerlichen Gemeinsamkeiten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie jetzt bitten, zu gehen und meine Zeit nicht länger zu vergeuden. In meinem Alter hat man schließlich nicht mehr allzu viel davon.« Die alte Frau erhob sich aus ihrem Sessel und verließ erstaunlich flink den Raum.

      Malin und Tiedemann tauschten einen kurzen Blick und folgten ihr in den Flur. Keine Minute später standen die beiden Kriminalbeamten im Treppenhaus.

      Tiedemann kratzte sich hinterm Ohr. »Ich sag’s ja immer. Im Alter werden sie alle schrullig.«

      25. Januar 1979

      Sie hatten ihr die Augen verbunden und ihre Hände gefesselt. Jemand packte sie grob am Oberarm und stieß sie über eine Stufe in eine Art Metallverschlag. Ein Riegel wurde vorgeschoben. Rena konnte sich kaum rühren, so eng war es. Dann wurde ein Motor angelassen.

      Ich bin in einem Auto, schoss es ihr in den Sinn. Das Gefährt setzte sich in Bewegung.

      Die Angst schnürte Rena die Kehle zu. Was hatte man mit ihr vor? Was war mit Romy? Bei dem Gedanken an ihre kleine Tochter schluchzte sie auf. »Wo bringen Sie mich hin?!«

      Niemand antwortete. Das Fahrzeug nahm eine scharfe Kurve und Renas Kopf prallte mit voller Wucht gegen die Metallwand. Tränen schossen ihr aus den Augen. Sie rückte ihre Glieder zurecht, um eine bequemere Position zu finden. Das Bild ihrer kleinen Tochter im Nachthemd, den Schlenkerbären an die Brust gepresst, schob sich zurück in ihr Gedächtnis. Was hatten sie mit Romy gemacht?

      Erneut prallte ihr Kopf gegen Metall. Die Fahrt zog sich schier endlos. Die Fesseln schmerzten an ihren Handgelenken. Es war stickig in dem Gefährt und Rena hatte Schwierigkeiten zu atmen. Sie durfte nicht in Panik geraten.

      Das Tempo hatte sich mittlerweile erhöht. Rena schärfte ihre Sinne. Sie fuhren über eine Straße mit nur wenigen Unebenheiten. Die Autobahn? Jemand in der Fahrerkabine hustete.

      »Wo