Oskar Negt

Politische Philosophie des Gemeinsinns


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vom 2. Mai 1975

       Urteilskraft und Schematismus

       Vorlesung vom 9. Mai 1975

       Schematismus und das Ding an sich

       Vorlesung vom 15. Mai 1975

       Die (ästhetische) Urteilskraft als Subsumtionsvermögen und ihre Antinomien

       Vorlesung vom 16. Mai 1975

       Kategorien des Geschmackurteils

       Vorlesung vom 29. Mai 1975

       Gefühlszustand, Gefühl und Vermittlung

       Vorlesung vom 30. Mai 1975

       Sensus communis

       Vorlesung vom 5. Juni 1975

       Kants Geniebegriff

       Vorlesung vom 19. Juni 1975

       Genie, Geist und Kultivierung

       Vorlesung vom 20. Juni 1975

       Der bestirnte Himmel und das Moralgesetz

       Vorlesung vom 26. Juni 1975

       Der kategorische Imperativ

       Vorlesung vom 27. Juni 1975

       Nachwort

       Anmerkungen

       Vorbemerkung

      Wie kein Philosoph der europäischen Geistesgeschichte hat sich Kant als politischer Philosoph orientierend in meinem Lebenszusammenhang festgesetzt. Dabei ging es mir nie um bestimmte Lehrgehalte, die man als gesicherte Erkenntnisse übernehmen und fortführen könnte. Faszinierend an dieser politischen Philosophie des Gemeinsinns war für mich die ungebrochene Reflexionskraft, die selbst dort noch spürbar ist, wo der kritische Ausweg keine Lösungen verfügbar macht. Seit meiner Schulzeit in den oberen Klassen lässt mich der Gedanke nicht ruhen, dass die Kantische Philosophie, gerade auch in ihren theoretischen Positionen, eine groß angelegte Versuchsanordnung darstellt, eine Art philosophische Werkstatt, in der Mittel und Wege für Fundamente eines Hausbaus der Vernunft gesucht werden. Die Friedensfähigkeit einer Gesellschaft beginnt im Denken. Herstellung von Zusammenhang und gleichzeitige Entmischung sind wesentliche Merkmale dieser spezifischen Philosophie. Kant hat dafür die einfache Formel geprägt, die aus drei Fragen besteht: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Eine vierte Frage, die zu beantworten er als zu schwierig erachtete, hat er nicht in die »Kritik der reinen Vernunft« aufgenommen. Sie gehört aber zentral zu seiner Philosophie: Was ist der Mensch?

      In seinen Vorlesungsnotizen taucht diese vierte Frage immer wieder auf. Es muss Kant gequält haben, auf diese entscheidende Frage keine befriedigende Antwort zu finden. Doch was den Menschen in seinen extremen Charakterprägungen ausmacht, ist bei Kant definitorisch nicht zu fassen. Man könnte Kants Philosophie als Großversuch betrachten, die Emanzipationsimpulse der bürgerlichen Gesellschaft, ihr humanitäres Selbstverständnis, vereinbar zu machen mit der immer wieder auftretenden Erfahrung von gesellschaftlichen Katastrophen und individuellen Tragödien. Kant glättet diese Verhältnisse nicht, indem er etwa ausgleichende Vermittlungen anböte.

      Von vielen Seiten ist Kant in Anspruch genommen worden, selbst die Nationalsozialisten konnten ihn für ihre nationalen Fieberphantasien gebrauchen. Und die Flüchtlingsfrage, die er bereits in seinem Entwurf »Zum ewigen Frieden« abgehandelt hat, bringt heute wieder ein Thema auf die politische Tagesordnung, wie es drückender und menschenfeindlicher kaum vorstellbar ist. Kant ist der politische Philosoph in der Reihe großer Denker der europäischen Geistesgeschichte. Nicht dass er in den großen Werken politisch zitierbare Essays geschrieben hätte, sondern mit politisch meine ich, dass er sowohl das bürgerliche Selbstverständnis emanzipativer Bewegungen wie auch die Abgründe geschichtlicher Verwerfungen in seinem Werk aufgedeckt hat. Man hat ihn den klassischen Philosophen der Moderne genannt; das ist er gewiss auch. Aber es sind gerade die zentralen theoretischen Werke, seine drei großen Kritiken, die um Gemeinwesenarbeit organisiert sind. Aus isolierenden Gemeinwesen, verstörendem Eigensinn, muss ein Gemeinsinn werden, der die eigensinnigen Freiheiten nicht zerbricht. Wo Eigensinn war, muss Gemeinsinn werden, so könnte Kants praktische Philosophie formuliert werden.

      Zu danken habe ich der Hans-Böckler-Stiftung für die großzügige Förderung, Hendrik Wallat für aufschlussreiche Kommentare und Nachworte sowie meiner Frau, Christine Morgenroth, für Hilfe auf allen Ebenen des Lebenszusammenhangs. Ihr widme ich auch dieses Buch.

      Frühjahr 2020

       Oskar Negt

Vorlesungen im Wintersemester 1974/75

       Einführung – Marxismus als Erbe der klassischen Philosophie

       Vorlesung vom 24. Oktober 1974

      Sehr geehrte Damen und Herren,*

      das Thema »Philosophie und Gesellschaft« setzt sich wie alle globalen Themen zunächst dem Problem des Anfangs aus. Dieses Problem tritt insbesondere dann auf, wenn man das naive Vertrauen in einen akademischen Objektivismus verloren hat.

      Mag es zunächst als selbstverständlich erscheinen, sich mit Kant, Hegel oder Marx zu befassen, ist es doch keineswegs ausgemacht, ob eine Beschäftigung mit diesen Theorien überhaupt sinnvoll sein kann in Anbetracht von möglicherweise dringlicheren Aufgaben. Darüber hinaus gibt es so etwas wie einen objektiv vorgegebenen Sinnzusammenhang, in dem eine Aneignung dieser Theorien stattfinden könnte, gar nicht mehr. Nun könnten wir natürlich alle diese Vermittlungsstufen des Anfangs, wie sie Hegel thematisiert hat, überspringen und sagen: Beschäftigen wir uns einfach mit der Sache selbst. Ich glaube aber, dass genau dieses Durchschneiden aller Vermittlungen Folgen für die Interpretation hat und nicht nur jene, wie die Hermeneutiker unterstreichen, dass in Deutungen immer die eigene Bildungsgeschichte und die Bildungsgeschichte der jeweiligen Zeit eingehen. Es geht vielmehr um den ursprünglichen geschichtlichen Bezugsrahmen einer vormals revolutionären Theorie, der äußerst