Oskar Negt

Politische Philosophie des Gemeinsinns


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kann. Und schon hier ist das Taumeln in der empirischen Erscheinungswelt für Kant keine angemessene Methode, um eine solch fundamentale Frage zu beantworten.

      Im eben zitierten Passus findet sich darüber hinaus ein für Kant charakteristischer Begriff: die moralische Anlage des Menschengeschlechts, der Gattung. Diese moralische Anlage ist dabei etwas Potenzielles, etwas Mögliches, was sich keineswegs ausdrücken muss, was einmal nur unterstellt ist. Kant geht es zunächst lediglich darum, die Entfaltung der moralischen Anlage zweifelsfrei festzumachen, einen Fortschritt, der sich für ihn darin äußert, dass die moralische Anlage nicht bloße Potenz bleibt, eine immer gleichbleibende Energie, sondern etwas, das sich ausdrückt. Diese Frage der Potenzialität – das Vermögen, die moralische Anlage, das Erkenntnisvermögen, das Vermögen der theoretischen und der praktischen Vernunft und so weiter – hat Hegel einmal als Kants »Seelensack«20 bezeichnet. Gewissermaßen ist bei ihm die ganze Seele durch solche Abteilungen von Vermögen definiert, wobei es hier um ein Vermögen des moralischen Verhaltens und Denkens geht.

      Eines gilt es noch vorauszuschicken: Kant war derjenige Theoretiker des deutschen Idealismus und derjenige in der bürgerlichen Philosophie, der die Französische Revolution am entschiedensten verteidigt hat. Wie, das wird noch zu zeigen sein, aber er hat nie an ihr gezweifelt wie viele der Romantiker, die in ihrer späteren Entwicklung zu Konterrevolutionären geworden sind, so zum Teil auch Hegel. Dessen Begeisterung reduzierte sich Berichten von Zeitgenossen zufolge am Ende darauf, dass er jedes Jahr am 14. Juli ein Glas Wein auf die Französische Revolution trank – immerhin, für einen deutschen Philosophen war schon das keine Kleinigkeit. Doch weiter mit Kant:

      Es muß irgend eine Erfahrung im Menschengeschlechte vorkommen, die, als eine Begebenheit, auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren, und (da dieses die Tat eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein; aus einer gegebenen Ursache aber läßt sich eine Begebenheit als Wirkung vorhersagen, wenn sich die Umstände eräugnen, welche dazu mitwirkend sind. Daß diese letztere sich aber irgend einmal eräugnen müssen, kann wie beim Kalkul der Wahrscheinlichkeit im Spiel, wohl im Allgemeinen vorhergesagt, aber nicht bestimmt werden, ob es sich in meinem Leben zutragen und ich die Erfahrung davon haben werde, die jene Vorhersagung bestätigte. – Also muß eine Begebenheit nachgesucht werden, welche auf das Dasein einer solchen Ursache und auch auf den Akt ihrer Kausalität im Menschengeschlechte unbestimmt in Ansehung der Zeit hinweise, und die auf das Fortschreiten zum Besseren, als unausbleibliche Folge, schließen ließe, welcher Schluß dann auch auf die Geschichte der vergangenen Zeit (daß es immer im Fortschritt gewesen sei) ausgedehnt werden könnte, doch so, daß jene Begebenheit nicht selbst als Ursache des letzteren, sondern nur als hindeutend, als Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon), angesehen werden müsse, und so die Tendenz des menschlichen Geschlechts im ganzen, d. i., nicht nach den Individuen betrachtet (denn das würde eine nicht zu beendigende Aufzählung und Berechnung abgeben), sondern, wie es in Völkerschaften und Staaten geteilt auf Erden angetroffen wird, beweisen könnte. […] Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.21

      Es ist also im Grunde unmöglich, aus Erfahrung auf etwas zu schließen, was wie eine moralische Anlage erfahrungsunabhängig ist. Aber wenn wir einem geschichtlichen Ereignis mitfiebernd beiwohnen, gibt das immerhin einen Hinweis darauf, dass eine moralische Anlage des Menschen existiert. Diese zeigt sich nun merkwürdigerweise nicht in den Agierenden, in den Revolutionären selbst, sondern bei demjenigen, der in Berlin oder Königsberg sitzt und die Revolution betrachtet, das heißt, unmittelbar keine Interessen mir ihr verbindet, aber etwas dabei riskiert. Das, meint Kant, könne nur der Hinweis auf eine moralische Anlage sein, weil sich darin eine moralische Denkungsart ausdrücke und zwar nicht der Betroffenen, sondern derjenigen, die in der Revolution etwas erblicken, das in ihnen einen Enthusiasmus der Rechtsbehauptung auslöst.

      Kant will vermeiden, diese moralische Anlage empirisch durch ein geschichtliches Ereignis, etwa die Französische Revolution, zu belegen, weshalb das Ereignis selbst zum Geschichtszeichen denaturiert. Nicht um das Ereignis, die Französische Revolution, die er sehr gut interpretiert und kennt, geht es ihm, sondern das Wichtige sind die Reaktionen auf dieses Ereignis. Diese Reaktionen aber können wiederum keine Handlungen, etwa revolutionäre Folgerungen sein. Kant wehrt sich explizit gegen dieses Missverständnis:

      Es ist aber hiemit nicht gemeint, daß ein Volk, welches eine monarchische Konstitution hat, sich damit das Recht anmaße, ja auch nur in sich geheim den Wunsch hege, sie abgeändert zu wissen; denn seine vielleicht sehr verbreitete Lage in Europa kann ihm jene Verfassung als die einzige anempfehlen, bei der es sich zwischen mächtigen Nachbaren erhalten kann. Auch ist das Murren der Untertanen, nicht des Innern der Regierung halber, sondern des Benehmens derselben gegen Auswärtige, wenn sie diese etwa am Republikanisieren hinderte, gar kein Beweis der Unzufriedenheit des Volks mit seiner eigenen Verfassung, sondern vielmehr der Liebe für dieselbe, weil sie wider eigene Gefahr desto mehr gesichert ist, je mehr sich andere Völker republikanisieren. – Dennoch haben verleumderische Sykophanten, um sich wichtig zu machen, diese unschuldige Kannegießerei für Neuerungssucht, Jakobinerei und Rottierung, die dem Staat Gefahr drohe, auszugeben versucht: indessen daß auch nicht der mindeste Grund zu diesem Vorgeben da war, vornehmlich nicht in einem Lande, was vom Schauplatz der Revolution mehr als hundert Meilen entfernt war.22

      Wir sehen hier eine revolutionäre Denkungsart ohne Revolution: Hier entsteht eine Theorie, die, glaube ich, als revolutionäre Theorie des Bürgertums zu bezeichnen ist und die alle Widersprüche unvermittelt stehen lässt, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft zeigen.

      Ich habe hier zunächst das Verhältnis zwischen Aktionszeit und Reflexionszeit problematisiert und mit einem Sprung in die Kantische Theorie behandelt. Bei diesem Problem des Revolutionsbegriffs und des Revolutionsverständnisses sowie des Kantischen Geschichtsbegriffs möchte ich noch einen Augenblick verweilen, bevor ich, wie angekündigt, den Bezugsrahmen diskutiere, in dem sich meine Kant-, Hegel- und Marxaneignung vollzieht. Diesen Rahmen liefert im Wesentlichen die Frage, inwieweit sich die Diskussion über den historisch substanziellen Gehalt der Marx’schen Theorie selbst verändern muss, damit eine Aneignung im heutigen Marxismus möglich wird.23 Es geht mir grundsätzlich darum, zu zeigen, dass jede Epoche und jede Klasse jene epochale Theorie sozialer Emanzipation, wie sie bei Marx vorliegt, umschreiben, das heißt neu konstituieren muss, wenn sie historisch wirksam werden soll. Die Marx’sche Gesellschaftstheorie muss also reformuliert werden, wenn sie Bezugsrahmen für die Aneignung der bürgerlichen Philosophie sein soll. Nur so bleibt der Bezugsrahmen der Marx’schen Theorie, so absurd es erscheinen mag, erhalten und werden nicht bestimmte Komplexe, Gebiete, Gegenstandsbereiche naturwüchsig ausgegliedert oder vernachlässigt. Ich habe bereits einige Beispiele genannt, etwa die Industriesoziologie, die angedeutet ist im »Kapital«, aber eigentlich liegen geblieben ist und deshalb von den bürgerlichen Wissenschaften okkupiert wurde. Das gilt auch für psychologische Ansätze, die es bei Marx in den Frühschriften gibt. Mit anderen Worten: Selbst wenn wir aktuell zu Kant übergehen, wird am Ende dieses Vorlesungszyklus wiederum der Versuch stehen, die Marx’sche Theorie unter neuen Voraussetzungen im Detail zu diskutieren. Was nun unmittelbar folgt, ist nichts weiter als der Versuch, Prinzipien dieser Neuaneignung zu formulieren.24

      Doch worum geht es mir in diesem Zusammenhang bei Kant? Es geht um die Frage, ob nicht gerade in der Geschichtslosigkeit seines Geschichtsbegriffs und seines Revolutionsbegriffs, die geschichtliche Substanz des bürgerlichen Denkens zum Ausdruck kommt. Es geht um dieses prekäre Problem der Beziehung zwischen geschichtlicher Betrachtungsweise, geschichtlichen Ereignissen und geschichtlicher Substanz. Nun zeigt sich bei Kant im »Streit der Fakultäten«, zumal im für uns wesentlichen Streit