Denken zu diesem Problem gibt.
Es geht Kant in diesem Text, wie wir gesehen haben, zentral um die Frage: Gibt es einen Fortschritt der Menschen – nicht wie bei Hegel im Bewusstsein der Freiheit, sondern eher im Bewusstsein der Weiterentwicklung seiner moralischen Qualität? Um diese Frage zu beantworten, begibt Kant sich auf die Suche nach einem Ereignis, das empirisch feststellbar, also erfahrbar ist und dessen genaue Analyse nicht nur auf die Existenz einer moralischen Anlage, sondern sogar mit Vorbehalten auf ihre mögliche Weiterentwicklung schließen lässt. Kant kommt – nicht explizit, aber doch klar bezogen auf die Französische Revolution – zu dem Schluss: Wir können nicht empirisch feststellen, ob sich die moralische Anlage weiterentwickelt, aber wir können immerhin ein »Geschichtszeichen«, einen Hinweis, einen Wink der Geschichte auf diese moralische Anlage suchen.
Warum sagt Kant nicht einfach: Das ist die Französische Revolution, und in ihr zeigt sich eine Rechtsbehauptung des Volkes, wie er es an anderer Stelle nennt? Warum spricht er von einem »Geschichtszeichen«? Damit macht er klar, dass dieses Zeichen nicht die Ursache für, sondern nur ein Hinweis auf die Weiterentwicklung ist. Er erklärt das weiter:
Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch, was groß war, unter Menschen klein oder, was klein war, groß gemacht wird, und wie gleich als durch Zauberei alte, glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren Statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen. Nein: nichts von allem dem. Es ist bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlich verrät und eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung der Spielenden auf einer Seite, gegen die auf der andern, selbst mit Gefahr, diese Parteilichkeit könne ihnen sehr nachtheilig werden, dennoch laut werden läßt, so aber (der Allgemeinheit wegen) einen Charakter des Menschengeschlechts im ganzen, und zugleich (der Uneigennützigkeit wegen) einen moralischen Charakter desselben, wenigstens in der Anlage, beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solcher ist, so weit das Vermögen desselben für jetzt zureicht.25
Bei Kant deutet, wie wir bereits gesehen haben, auf die moralische Anlage nicht die Denkungsart der Revolutionäre hin, weil bei ihnen eigennützige Interessen im Spiel sein können, sondern nur der Enthusiasmus derjenigen, die dem Ereignis ohne unmittelbare eigene Beteiligung und ohne eigene Interessen lediglich beiwohnen. Es ist also nicht wie in der Ästhetik von Kant ein interesseloses Wohlgefallen an bestimmten Produkten, sondern ein interesseloses Verhalten gegenüber der Revolution, das auf eine moralische Grundlage seitens der Betrachter schließen lässt. Mit anderen Worten, Kant möchte eine Veränderung der revolutionären Denkungsart, eine Veränderung der Denkungsart ohne Revolution. Am liebsten wäre ihm ein Geschichtszeichen, das nicht mit Gräueltaten und Elend verbunden ist. Er möchte gewissermaßen die Revolutionierung der Denkungsart – nicht des Denkens, sondern der Art, wie sich reales Verhalten gegenüber anderen Menschen angeeignet wird – ohne revolutionäre Umwälzung.
Damit werden zunächst Prozesse, die äußerlich in der Geschichte ablaufen, in geschichtslose Formen transponiert. In dieser revolutionären Denkungsart schlägt sich das nieder, was einen Anstoß braucht, um sich zu entwickeln. Es geht um eine bestimmte verinnerlichte Form der Anschauung und des Denkens, des moralischen Verhaltens und so weiter, eben um eine Denkungsart. Das Zweite ist, dass diese Denkungsart von Bildungsprozessen gekennzeichnet ist und nicht durch äußerliches Handeln zustande kommt, denn keine einzige Handlung, weder eine zufällige noch eine Interessen geleitete, beweist ein moralisches Verhalten. Nur die Gesinnung oder die Maxime des Handelns macht Moralität und damit auch Fortschritt in der Moralität aus. Das bedeutet, dass sich hier der Begriff des revolutionären Ereignisses in die Subjekte schlägt, zu einer Angelegenheit von Subjekten wird, aber nicht von Individuen, sondern von Kollektiven: Es sind Völkerschaften und Staaten verteilt auf der Erde, die einen solchen Prozess durchlaufen.
Diese Denkungsart aktualisiert das Gesetz der Menschheit in der Person, denn sie bezieht sich auf das, was Kant mit Menschheit und mit dem Allgemeinen bezeichnet. Was sich hier, so Kant, herausbildet angesichts der Französischen Revolution ist der Citoyen, der allgemeine Bürger, der sich im Grunde von materiellen Interessen emanzipiert hat und nur das Interesse der Menschheit vertritt. Worin zeigt sich das am deutlichsten? Er nimmt Gefahren auf sich für Dinge, von denen er nach Kant nicht profitiert. Das heißt, er spricht diese revolutionäre Denkungsart in einzelnen Dingen aus und riskiert damit Amt und Würden, riskiert damit, dass die Menschen ihn als einen Revolutionär ansehen. Warum macht er das? Kant ist überzeugt, dass ein Mensch nur etwas riskiert entweder aus materiellen Interessen, also Interessen des Bourgeois, oder wenn er die Menschheit vertritt. Dieser Dualismus zwischen Interessen und Moralität ist damit ein für alle Mal zementiert: Ein Mensch, der Interessen vertritt, vertritt nicht die Würde. Alles was einen Preis hat, hat keine Würde, und die Würde definiert sich dadurch, dass sie nicht austauschbar ist. Die absolute Unaustauschbarkeit der Würde ist das, was sie mit Interessen unvereinbar macht. Die absolute Unaustauschbarkeit der revolutionären Denkungsart ist das, was sie vom Bourgeois-Interesse absetzt. Diese Unaustauschbarkeit hat immer zur Grundlage die direkte Beziehung zur Menschheit, zu dem, was man mit dem Begriff der Menschheit und dem Begriff von Emanzipation verbindet.
Der Begriff der Revolution und der Geschichte als einem geschichtslosen Prozess bezieht sich bei Kant auf eine Form von Affekten, die keine mehr sind. Wenn man so will, transponiert er alle realen materiellen Bewegungsmomente in eine allgemeine Innerlichkeit. Nicht nur die empirische Revolution wird zur Revolution der Denkungsart, sondern auch die Affekte werden zu allgemeinen Affekten.
Dies also und die Teilnehmung am Guten mit Affekt, der Enthusiasm, ob er zwar, weil aller Affekt als ein solcher Tadel verdient, nicht ganz zu billigen ist, gibt doch vermittelst dieser Geschichte zu der, für die Anthropologie wichtigen Bemerkung Anlaß: daß wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann.26
Wir sehen auch hier eine Transposition von Empirischem – Gefühle, Affekte sind etwas Erfahrbares – in eine Dimension, die etwas Allgemeines ist. Kant versucht eigentlich immer, Geschichtliches und Materielles in Allgemeines zu transponieren. Das ergibt natürlich eine spezifische Widersprüchlichkeit: Wie er sich eine revolutionäre Denkungsart ohne Revolution vorstellt, imaginiert er Affekte ohne Gefühle. Was hier Affekt ist, ist das Allgemeinste von Gefühlen, ist eigentlich eine rein allgemeine Beziehung zum Idealischen, was immer das heißen mag, jedenfalls eine Beziehung, die frei ist von der Zufälligkeit der Gefühle, von Glück, Wohlwollen, Wohlstand und so weiter. Die Teilnahme am Guten, das enthusiastische Zuschauen bei der Revolution als dem Guten, ist eigentlich ohne Gefühle nicht zu denken, aber anderenfalls würde sich darin wieder etwas Zufälliges ausdrücken, etwas Empirisches, Vergängliches, Nicht-Allgemeines. Deshalb ist diese Transposition von etwas Empirischem in Affekte ein wichtiger Mechanismus, um die Revolution ins Subjekt zu transponieren. Kant führt das weiter aus:
Durch Geldbelohnungen konnten die Gegner der Revolutionierenden zu dem Eifer und der Seelengröße nicht gespannt werden [die konterrevolutionären Heere, die Paris eingrenzten, konnten durch Geld und Belohnung und die Antreiberei von Offizieren nicht zur Seelengröße gespannt werden, Anm. Negt], den der bloße Rechtsbegriff in ihnen hervorbrachte, und selbst der Ehrbegriff des alten kriegerischen Adels [ein Analogon des Enthusiasm, Anm. d. Ver.] verschwand vor den Waffen derer, welche das Recht des Volks, wozu sie gehörten, ins Auge gefaßt hatten, und sich als Beschützer desselben dachten; mit welcher Exaltation das äußere, zuschauende Publikum dann, ohne die mindeste Absicht der Mitwirkung, sympathisierte.27
Hier argumentiert Kant wirklich filigran und in mehrfacher Hinsicht äußerst komplex. Immer wieder betont er, dass er in den eigentlich Mitwirkenden nicht das Subjekt erblickt. Allerdings lässt sich mit der Aktivität der Sympathisanten nicht erklären, warum sich die Revolution gegenüber den Konterrevolutionären halten konnte, was nur durch die Aktivität von Revolutionären selbst gelang, die doch dem alten Ehrbegriff nicht viel abgewinnen konnten. Kant erläutert: Was einst der kriegerische Adel mit seinem Ehrbegriff als einem Allgemeinen, Verpflichtenden versucht hat, habe hier die reine Form bewirkt, nämlich die reine Rechtsbehauptung, das Recht als ein Allgemeines, ein Recht der Menschheit und der Menschlichkeit. Die Rechtsbehauptung