eigentlich in jeder historischen Situation zeigt.
Ich möchte nun das theoretische Gerüst zu all dem kurz mit Benjamins »Geschichtsphilosophischen Thesen« erläutern. Dieser begreift Geschichte als eine mit Jetztzeit, mit Aktionspotenzial gegenwärtiger Emanzipationsbewegung geladene Vergangenheit, als etwas Unmittelbares, etwas Stilllegendes. Er führt als Beispiel an, in der französischen Julirevolution sei zufällig auf mehrere Turmuhren in Paris geschossen worden und dadurch seien auch im übertragenen Sinn die Uhren stehen geblieben, wie schon die große Französische Revolution einen neuen Kalender eingeführt habe. Es geht um das Stillhalten der Zeit im Augenblick der Aktion, ja um die Vernichtung der Vermittlungen, was sich nicht wesentlich von dem unterscheidet, was die Revolutionäre taten, als sie in den Winterpalais eindrangen, oder was in der Französischen Revolution passierte, nämlich die Zerstörung der Herrschaftssymbole, der Kultursymbole, der Abbruch von Kontinuität.
Was ist hier richtig und falsch? Richtig ist aus der Sicht des Theoretikers, dass sich objektiv ein Vermittlungsprozess vollzieht. Keine Generation, keine Klasse kann mit der Geschichte radikal brechen. Jede Klasse ist in dem Sinne auch Erbe und mit den »Muttermalen« der Gesellschaft behaftet, aus der sie kommt. Falsch wäre es hingegen, zu glauben, man könnte diesen Gedanken zu einem produktiven Element der Aktion selbst machen, das heißt, diesen Vermittlungsgedanken unverändert in die praktische Dimension übersetzen. Da würde er in der Tat dazu beitragen, dass die Vermittlung mit dem bestehenden Herrschaftssystem zur Ohnmachtsreaktion führt.
Jede handelnde Klasse muss also ihre Geschichte selbst und neu machen und zwar auf der Grundlage ihrer revolutionären Bedürfnisse. Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende und unterdrückte Klasse, sagt Benjamin. »Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die Große Revolution führte einen neuen Kalender ein.«13 Er sagt weiter: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte«,14 wie umgekehrt diese Vergangenheit ein Stück Jetztzeit, Gegenwart, werden muss, wenn diese Form geschichtlicher Aneignung mehr sein will als die Befriedigung rein intellektueller Bedürfnisse.
*Mit dieser Anrede begann Negt jede seiner Vorlesungen. Im Buch verzichten wir nachfolgend darauf.
Revolution der Denkungsart und Revolutionsangst bei Kant
Vorlesungen vom 25. und 31. Oktober 1974
Ich habe zunächst erläutert, dass es mir darauf ankommt, einen geschichtlichen Bezugsrahmen für die Neuaneignung jener philosophischen Theorien zu formulieren, die sich – beginnend mit Kant – auf das Bürgertum beziehen. Dieser Bezugsrahmen soll zu erkennen geben, in welcher Weise substanzielle Aneignungsprozesse von heute aus notwendig sind. Gleichzeitig kann es keineswegs darum gehen, die Klassizität dieser Philosophie unangetastet zu lassen. Vielmehr ist damit das Aufsprengen jenes klassizistischen Rahmens verbunden, in dem die Philosophie von Kant, Hegel sowie die Theorie von Marx stehen und von dem Brecht erläuterte, er führe nur zur Einschüchterung und nicht dazu, sich kritisch mit Schriften und Philosophien auseinanderzusetzen.15 Das setze Zugangsweisen zu diesen philosophischen Problemen voraus, die nicht von vornherein festgelegt sind.
Ich habe bereits angedeutet, dass es keine konstante, ein für alle Mal bestimmbare Beziehung zwischen den einzelnen Philosophien, zwischen der Theorie von Kant und jener von Hegel oder der Theorie von Hegel zu jener von Marx gibt. Wenn wir uns die dort angesprochenen gesellschaftlichen Probleme wirklich unter gegenwärtigen Voraussetzungen aneignen wollen, dann ist das nur in einer völlig neuen Weise möglich, die unseren eigenen geschichtlichen Bedingungen entspricht.16
Ich will gleich mit einem großen Sprung zu Kant einsetzen, nur zuvor noch den allgemeineren Verlauf skizzieren: Zunächst werde ich kurz das Problem von Geschichte und Diskontinuität bei Kant verhandeln, um anschließend zu dem Versuch zurückzukehren, meine Position der Aneignung und Neubestimmung des Marxismus genau darzulegen. Dabei geht es mir darum, nicht bloß die Reihenfolge Kant, Hegel, Marx, Freud im bestehenden Interpretationsrahmen der Marx’schen Theorie zu rekonstruieren, sondern diesen Interpretationsrahmen neu zu bestimmen. Es wird also die folgende zyklische Bewegung stattfinden: Ich werde nach einer kurzen Kantinterpretation versuchen, mein Aneignungsverständnis mit vorläufigen Fragestellungen an die Marx’sche Theorie und hauptsächlich an den späten Engels einzuleiten, um – im Vorgriff auf eine Aneignung der Theorien von Kant und Hegel – überhaupt Interpretationshinweise zu geben. All das wird gegen Ende auf eine Marxinterpretation in Verbindung mit einer Neubestimmung von Kant, Hegel und der nachmarxschen Theorie von Freud hinauslaufen.17 Dieser tastende oder tentative Zugang lässt zunächst noch Fragen offen, denen ich mich erst im weiteren Verlauf zuwenden werde. Für Diskussionen bleibt dazwischen immer wieder Raum.
Wenden wir uns nun einem ersten Problem bei Kant zu, das in der Schrift »Der Streit der Fakultäten« von 1797 enthalten ist. Es handelt sich um eine nachrevolutionäre Schrift in dem Sinne, dass sie nach der Französischen Revolution und nach der Beseitigung der Jakobinerherrschaft entstanden ist. Kant geht darin der Frage nach, ob es so etwas wie einen Fortschritt in der Geschichte geben kann – eine fortschreitende Entwicklung der Moral, ein Fortschritt in der gesellschaftlichen Organisierung und so weiter – und ob man solchen Fortschritt prognostizieren könne. Er formuliert im dritten Abschnitt »Einteilung des Begriffs von dem, was man für die Zukunft vorherwissen will«:
Der Fälle, die eine Vorhersagung enthalten können, sind drei. Das menschliche Geschlecht ist entweder im kontinuierlichen Rückgange zum Ärgeren, oder im beständigen Fortgange zum Besseren in seiner moralischen Bestimmung, oder im ewigen Stillstande auf der jetzigen Stufe seines sittlichen Werts unter den Gliedern der Schöpfung (mit welchem die ewige Umdrehung im Kreise um denselben Punkt einerlei ist). Die erste Behauptung kann man den moralischen Terrorismus, die zweite den Eudämonismus (der, das Ziel des Fortschreitens im weiten Prospekt gesehen, auch Chiliasmus genannt werden würde), die dritte aber den Abderitismus nennen: weil, da ein wahrer Stillstand im moralischen nicht möglich ist, ein beständig wechselndes Steigen, und eben so öfteres und tiefes Zurückfallen (gleichsam ein ewiges Schwanken) nichts mehr austrägt, als ob das Subjekt auf derselben Stelle und im Stillstande geblieben wäre.18
Dieses Problem skizziert Kant hier nicht, um es schon zu lösen, sondern um überhaupt ein Erkenntnisinteresse an der Frage, ob die Menschheit etwas wie Fortschritt, Rückschritt oder Stillstand kennzeichne, zu formulieren. Denn darin liegt etwas ganz und gar Nachrevolutionäres, das es nicht zu übersehen gilt: Für die Aufklärer Diderot (1713–1784), Condorcet (1743–1794) oder Voltaire (1694–1778) wären Fragestellungen dieser Art nicht denkbar gewesen, so selbstverständlich war für sie die Menschheit im Fortschritt begriffen, was in einer explosiven Bestätigung eben dieses Fortschritts kulminieren würde. Entsprechend gab es auch bei Voltaire und Diderot schon Hinweise auf die Notwendigkeit einer Revolution. Im Gegensatz zu diesem vorrevolutionären Pathos der Aufklärer findet bei Kant etwas geradezu Szientifisches statt: Nüchtern unterscheidet er formal drei Arten der möglichen Vorhersagen, um das Problem an sich vorzustellen, das zu lösen er dann angeht. Dabei hält er Prognosen allein auf der Basis von Erfahrungen zunächst nicht für zuverlässig:
Wenn das menschliche Geschlecht, im Ganzen betrachtet, eine noch so lange Zeit vorwärts gehend und im Fortschreiten begriffen gewesen zu sein befunden würde, so kann doch niemand dafür stehen, daß nun nicht gerade jetzt, vermöge der physischen Anlage unserer Gattung, die Epoche seines Rückganges eintrete; und umgekehrt, wenn es rücklings und, mit beschleunigtem Falle, zum Ärgeren geht, so darf man nicht verzagen, da nicht eben da der Umwendungspunkt (punctum flexus contrarii) anzutreffen wäre, wo, vermöge der moralischen Anlage in unserem Geschlecht, der Gang desselben sich wiederum zum Besseren wendete.19
Selbst wenn über Jahrtausende ein Fortschritt zu beobachten gewesen ist, besage das also noch gar nichts für die Zukunft, weil es eben jetzt auf derselben Erfahrungsebene rückwärts gehen könne. Schon hier fragt Kant nach der