Peter Gerdes

Der Fluch der goldenen Möwe


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Zustand«, warf Bodo Schmidt ein. »Deswegen ist doch der letzte Pächter raus. War ja auch keiner da, an den er sich wenden konnte, wenn es mal irgendwo durchgeleckt hat oder die Heizung kaputt war.«

      »Für einen Investor mit Kohle im Rücken kein Problem«, sagte Onken. »Und Leerstand ist doch geradezu ideal. Dann könnten die praktisch gleich anfangen.«

      »Sowie Tjabbe tot ist«, knurrte Reershemius. »So viel Zeit muss schon noch sein.«

      Schmidt machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, das bisschen …«

      »Dann steht der Hamburger-Invasion ja eigentlich kaum noch was im Wege«, sagte Onken. »Oder, mit anderen Worten: Die goldene Möwe kreist schon über Langeoog.«

      »Wieso denn goldene Möwe?«, fragte Reershemius verständnislos.

      Schmidt lachte. »Warte nur, bis die hier sind und ihre Werbung angebracht haben! Dann weißt du schon, was das bedeuten soll.« Mit ausholenden Gesten malte er ein großes, abgerundetes »M« in die Luft, so, wie kleine Kinder einen fliegenden Vogel malen.

      »Bis dahin werden wir aber noch einen ganz schönen Sturm erleben«, prophezeite Onken. »Einen Sturm der Entrüstung! Sobald sich das alles rumspricht, werden so ziemlich alle Gastronomen der Insel auf die Barrikaden gehen. In Heiko Grendels Haut möchte ich dann nicht stecken.«

      »Ich auch nicht«, sagte Reershemius. »Trotzdem versteh ich das mit der goldenen Möwe nicht. Begreifst du das, Harm?«

      Er blickte zur Seite. Aber Harm Bengen war verschwunden.

      »Meine Zeitung ist auch weg«, maulte Bodo Schmidt.

      5.

      Henning van der Werft liebte es, abends von der Melkhörndüne über Land und Meer zu blicken, dem Rauschen der Brandung, dem Pfeifen des Windes und dem Kreischen der Möwen zu lauschen, den Schein der untergehenden Sonne verblassen und die Farben der Natur nach und nach verschwinden zu sehen. Meist machte er sich erst auf den Heimweg, wenn alles fahlgrau war und er die schmalen Wege durch die Nachbardünen und sein unten abgestelltes Fahrrad kaum noch erkennen konnte. Dann erst hatte er das Gefühl, den Tag gründlich ausgeschöpft, das Angebot der Insel Langeoog bis zur Neige ausgekostet zu haben.

      Gründlichkeit war eine von Henning van der Werfts hervorstechenden Eigenschaften. Vor allem, wenn es um seine eigenen Interessen ging.

      Obwohl es ein Frühlingstag gewesen war wie gemalt, war van der Werft schlecht gelaunt, als er sich an den Abstieg von Langeoogs höchster Erhebung machte, und mit jedem Schritt, den er sich den Pfad entlang tastete, wurde seine Laune schlechter. Sein Partner hatte ihn versetzt, schon das zweite Mal heute. Dabei gab es wichtige Dinge zu beschließen und auszuführen. Klar, notfalls konnte van der Werft auch alleine aktiv werden. Aber das war womöglich riskant, und ein Henning van der Werft sicherte sich gerne ab.

      Vorgestern hatten sie sich noch getroffen, wie verabredet. In diesem komischen Lokal, wo es nur Gemüse und diese merkwürdigen Ersatzprodukte gab, wie hieß der Laden noch? Richtig, Veggie-Paradies, was für ein bescheuerter Name für ein Restaurant! Na ja, immerhin passte er, fand van der Werft. Sein Partner, der neuerdings anscheinend auf dem Gesundheits-Trip war, hatte gelacht und sich köstlich amüsiert, weil er mit den ungewohnten Gerichten und ihren kryptischen Bezeichnungen auf der Karte nicht zurechtkam. Der Typ hatte manchmal wirklich einen seltsamen Humor. Egal, er war liquide und bereit, sich zu beteiligen. Auf nichts anderes kam es an.

      Van der Werft war anschließend wieder aufs Festland gefahren, zurück nach Leer, einige Dinge klären. Da war dieser Einbruch gewesen, allerhand war weggekommen, da galt es, Polizei und Versicherung zu beruhigen und die Presse aus dem Spiel zu halten. Die Sicherheitsvorkehrungen in der neuen Abteilung waren wohl noch nicht ausgereift, man musste nachbessern, aber das ging ja niemanden etwas an. Sein Partner wollte derweil auf Langeoog bleiben, ein paar Tage ausspannen. Hatte von frischer Luft und Brandungs-Kontemplation gefaselt. Und natürlich wieder gelacht, als van der Werft verständnislos guckte. Kontemplation gut und schön, er selbst mochte das ja auch, wenn es gerade mal passte, aber doch nicht tagelang! Und schon gar nicht, wenn es Arbeit zu tun gab.

      Andererseits – ein allzu aktiver Partner war auch nicht wirklich wünschenswert, dachte van der Werft. War doch nicht schlecht, immer einen kleinen Vorsprung vor ihm zu haben, gedanklich wie strategisch. Sollte er sich also ruhig ein bisschen hängen lassen. Sollten ruhig auch noch mehr Leute so denken wie er! Das war gut für Langeoog, das war gut fürs Geschäft. Demnächst auch für sein Geschäft.

      Vor allem für seins.

      Heute Mittag hatten sie sich erneut verabredet, diesmal im Seestern, darauf hatte van der Werft bestanden, da gab es anständig Fleisch und Fisch. Sicherheitshalber hatte er dort einen Tisch reserviert. Hatte dann aber alleine daran gesessen und gegessen, denn sein Partner war nicht erschienen.

      Der war auch im Hotel nicht ans Telefon gegangen, obwohl die Rezeptionstante gesagt hatte, sein Schlüssel sei nicht abgegeben worden, was eigentlich üblich sei, wenn der Gast das Haus verließ. Und sein Handy war abgeschaltet. Die ganze Zeit. Das war ungewöhnlich.

      Dass man sich abends an der Melkhörndüne treffen wollte, war mehr eine lockere Absprache gewesen. Van der Werft war trotzdem hergekommen, in der Hoffnung, seinen Partner wenigstens hier anzutreffen. Vergebens.

      Henning van der Werft strauchelte. Inzwischen war es schon zu dunkel, um die Unebenheiten des Dünenpfades zu erkennen. Schon bald würde man nicht einmal mehr den Pfad erkennen können. Verdammt, er brauchte Licht! Laternen gab es hier natürlich keine. Aber hatte er nicht eine Taschenlampe, so eine mit einer kleinen, einklappbaren Kurbel zum Selbstaufladen, in einer seiner Anoraktaschen?

      Er stocherte und wühlte mit beiden Händen in seinen Außentaschen herum. Dabei rutschte seine Wollmütze heraus; zum Glück spürte er es, denn sehen konnte er schon nichts mehr. Er bückte sich, um nach dem Ding zu tasten.

      Etwas fauchte über seinen gesenkten Kopf hinweg. War das ein Vogel gewesen, ein Nachtjäger? Aber …

      Der zweite Schlag traf seinen Nacken. Er kam von oben und war wuchtig, und dass van der Werft nicht sofort zu Boden ging, lag wohl daran, dass seine Kapuze, die ihm beim Bücken auf den Hinterkopf gerutscht war, die Wirkung ein wenig milderte. So ging er nur in die Knie. Instinktiv ließ er sich zur Seite fallen, dorthin, wo er den Angreifer nicht vermutete. Ein dumpfer Laut verriet ihm, dass der dritte Hieb den dicht bewachsenen Boden getroffen hatte. Glück gehabt. Eilig rollte sich van der Werft weiter in die eingeschlagene Richtung.

      Das ging einfacher und schneller als erwartet; das Gefälle der Dünenflanke half ihm dabei. Als sein Körper von alleine wieder zum Stillstand kam, kämpfte van der Werft den Impuls nieder, aufzustehen und zu flüchten. Besser in Deckung bleiben. Da drüben, nur ein paar Schritte entfernt und oberhalb von ihm, gab es jemanden, der es auf ihn abgesehen hatte und mit einem Knüppel bewaffnet war. Wer mochte das sein? Und was für Waffen besaß dieser Angreifer womöglich noch?

      Van der Werft blieb regungslos liegen, eine Hand auf seinen Mund gepresst, um das Geräusch seines vor Schreck keuchenden Atems zu dämpfen, während er mit der anderen fieberhaft weiter nach der Taschenlampe suchte. Er lauschte, aber zu hören war nichts außer dem Rauschen des Windes und dem adrenalingepeitschten Pochen seines Herzens, das ihm in den Ohren dröhnte. Dafür konnte er etwas erspähen. Gegen den restlichtbleichen Saum des Himmels zeichnete sich eine Silhouette ab, eine geduckte Gestalt, die sich langsam um ihre eigene Achse zu drehen schien.

      Er kann mich nicht sehen, dachte van der Werft. Der tiefe Schatten der Senke, in der er lag, musste für den Angreifer wie ein schwarzes Loch sein. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass der Kerl ihn auch nicht hören konnte, dann hatte er eine Chance. Eine gute Chance, dachte er und staunte selbst über seine Kaltschnäuzigkeit.

      Einen Augenblick später war es damit vorbei. Eine Bewegung an seinem Oberschenkel, das kribbelige Gefühl einer Berührung, ließ ihn zusammenzucken. Ihm brach der Schweiß aus. Das Vibrationsgefühl wiederholte sich, und ehe er noch begriff, dass es von seinem eigenen Handy ausging, kam auch schon der Signalton dazu. Seine suchende Hand steckte natürlich in der anderen