Ulrich Hefner

Der Sohn des Apothekers


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      »Ich fahre morgen zurück. Ich will sehen, ob ich an den Vater des Jungen herankomme, den die Polizei damals verhaftet hat. Aber die Leute hier sind nicht gerade nett zu mir, ich komme mir vor wie eine Pestbeule und einen Bullen habe ich auch ständig am Hals.«

      »Pass auf dich auf!«

      »Mir passiert schon nichts.«

      »Vergiss die zerstochenen Reifen nicht. Monika ist ganz schön sauer und meint, das ist ein Anschlag auf die Pressefreiheit. Sie will, dass du Anzeige erstattest und wir einen Bericht darüber bringen.«

      Justin nahm das Telefon ans andere Ohr und schaute zu, wie der Mechaniker den Wagenheber absenkte. »Wenn ich darüber im Magazin berichte und Anschuldigungen gegen die Leute hier erhebe, dann kann ich gleich abreisen. Hier macht sowieso keiner den Mund auf, bis auf den Bauern, mit dem ich gestern redete, ich glaube sogar, es hat ihm gefallen, auch wenn er sich etwas abweisend verhielt.«

      »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragte Sina Stühr.

      »Ja, ruf beim LKA an und frage, wer die Ermittlungen leitet. Und mach einen Termin aus. Bleib beharrlich und lass dich nicht einfach abweisen, du weißt: Die Öffentlichkeit hat ein Recht drauf, Pressefreiheit, Informationspflicht und so weiter.«

      »Ich tue, was ich kann.«

      »Davon gehe ich aus«, antwortete Justin und beendete das Gespräch. Der Mechaniker kam auf ihn zu.

      Er hielt ihm einen Quittungsblock unter die Nase. »Zwei Reifen, vor Ort montiert, ich brauche eine Unterschrift.«

      Justin kritzelte seinen Namen auf die Quittung, schließlich drückte er dem Mechaniker einen Zehner in die Hand. »Bin ich noch was schuldig?«

      Der Mann schüttelte den Kopf. »Die Rechnung geht an die Redaktion und danke für den Auftrag.«

      »Bitte, bitte, aber darauf hätte ich gerne verzichtet«, scherzte Justin und wartete, bis der Mechaniker mit seinem Service-Wagen wegfuhr, bevor er selbst in seinen Audi stieg.

      *

      »Was hat das jetzt gebracht?«, fragte Lisa, nachdem Trevisan den Wagen gestartet hatte und den Wagen aus der Einfahrt lenkte.

      »Was glaubst du?«

      Lisa zuckte mit der Schulter und legte den Gurt an. »Viele Neuigkeiten hatte der nicht gerade auf Lager. Im Gegenteil, er ist ein verbohrter alter Mann.«

      »Da magst du recht haben, aber es ging mir nicht um Neuigkeiten. Es ging mir um sein Gefühl, seine Empfindungen, verstehst du?«, antwortete Trevisan.

      Lisa schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was du meinst.«

      Trevisan blinkte und bog in die Hauptstraße ab. »Wenn ein schlimmes Verbrechen geschieht und du wirst gerufen, dann ist der Fall noch heiß. Du stolperst mitten hinein in den Schmerz, in die Grausamkeit und in die Trauer. Du nimmst alles mit deinen Sinnen auf. Nicht nur die Worte und das, was du siehst, auch die Regungen, die Stimmungen der Menschen, denen du begegnest, mit denen du sprichst. Das Verbrechen ist präsent, es umgibt dich, den Tatort, es ist wie eine Aura. Und der erfahrene Ermittler, der saugt alles in sich auf und das ergibt ein Gesamtbild, eine Komposition des Schreckens, verstehst du?«

      Lisa schüttelte den Kopf.

      »Okay, dann anders … – Hast du schon mal auf eine heiße Herdplatte gefasst?«

      Lisa nickte.

      »Und was hast du empfunden?«

      »Blöde Frage! Es hat furchtbar wehgetan, was sonst«, entgegnete Lisa.

      »Eben, es tat weh, du konntest den Schmerz spüren und die verbrannte Haut riechen. Ganz anders als auf einer kalten Herdplatte, von der du weißt, dass sie dir sehr wehtun kann, wenn sie heiß ist. Aber sie ist es eben nicht, deswegen arbeitet hier nur dein Verstand und dein Gefühl hat Pause. Verstehst du es jetzt?«

      Lisa nickte und fuhr erschrocken zusammen, als Trevisan scharf bremsen musste, weil er zu spät erkannt hatte, dass der Wagen vor ihm anhielt.

      Als er wieder losfuhr, entspannte sich Lisa. »Und der Fall ist kalt.«

      »So kalt wie ein Eisbecher beim Italiener«, bestätigte Trevisan. »Und wir müssen den Fall wieder anheizen, damit wir nicht nur mit dem Verstand arbeiten, sondern auch mit unserem Gefühl.«

      Lisa legte ihren Zeigefinger gegen die Stirn. »Ich hab’s kapiert. Du bist bestimmt ein guter Ermittler, aber ein verdammt schlechter Autofahrer.«

      »Ich weiß«, antwortete Trevisan. »Und Dittel war jetzt auch nicht unbedingt ein gutes Beispiel für einen Mann, der mit Herz und Verstand ermittelt. Aber zumindest weiß ich jetzt, was ich von ihm und seiner Arbeit zu halten habe.«

      Eine Weile schwiegen sie, ehe Lisa wieder das Wort ergriff. »Was machen wir als Nächstes?«

      »Wir reden mit den Eltern der Mädchen, besser gesagt mit den Reubolds. Die Sommerlaths sind im letzten Jahr auf der Autobahn bei Venedig tödlich verunglückt.«

      Lisa blickte betreten zu Boden. »Ja, ich habe den Aktenvermerk gelesen. Das ist schon verrückt. Sie sind gestorben, ohne zu wissen, dass ihre Tochter noch am Leben ist. Das arme Mädchen hat nun überhaupt niemanden mehr …«

      »Das ist nicht ganz richtig«, fiel ihr Trevisan ins Wort. »Es gibt noch eine Tante in Florida.«

      »Ja, aber ich meine hier, in Deutschland. Wenn ich im Koma liegen würde, hätte ich gerne jemanden an meinem Bett sitzen.«

      Trevisan bog in Richtung Schützenstraße ab und stoppte vor der Zufahrt der Tiefgarage. »Wir machen jetzt mit den Spuren weiter und steigen morgen richtig ein.«

      »Morgen ist Samstag«, entgegnete Lisa.

      »Ich weiß. Aber wir arbeiten an einem Mordfall, da gibt es keine Wochenenden.«

      »Willst du morgen zu den Reubolds?«

      Trevisan nickte.

      »Muss ich da mit? ich weiß nicht … Da habe ich kein so gutes Gefühl. Diese Leute gehen bestimmt gerade durch die Hölle.«

      Trevisan verstand, was Lisa meinte. »Wenn du nicht willst, musst du nicht.«

      »Danke.«

      »Fein, dann ran an den PC, bis heute Abend haben wir alle Daten geordnet und übertragen. Du wirst sehen, wie hilfreich ein systematisch aufgebautes und geordnetes Nachschlagewerk ist.«

      6

      In der Klosterapotheke in Mardorf herrschte Hochbetrieb. Neben zwei Helferinnen stand auch der groß gewachsene Apotheker im Stress. Erst in der letzten Woche hatte Justin in einem Bericht gelesen, dass Allergien auf dem Vormarsch waren. Schaute man in die Gesichter der Kunden mit ihren verschwollenen und geröteten Augen, sah man deutlich, dass die Reportage nicht aus der Luft gegriffen gewesen war. Justin Belfort stellte sich in eine Ecke und wartete geduldig, bis sich der Verkaufsraum leerte.

      Er musste lange warten, denn für jeden Kunden, der ging, betrat ein weiterer die Apotheke. Beinahe eine Stunde verging. Mehrmals wurde Justin von einer Angestellten nach seinen Wünschen gefragt, doch wenn er auf den Apotheker zeigte und sagte, dass er mit Herrn Thiele sprechen wolle, wurde er vertröstet. Er hatte Geduld, schließlich blieb ihm nichts weiter übrig, denn zu Hause würde ihn der Apotheker bestimmt nicht empfangen. Doch hier konnte er Justin nicht ausweichen.

      Als nur noch zwei Kunden im Verkaufsraum waren, wagte er einen Vorstoß. Der Apotheker stand hinter der Ladentheke und füllte ein Formular aus, als er an ihn herantrat.

      »Guten Tag, Herr Thiele, hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?«, fragte Justin freundlich.

      Ebenso freundlich blickte der Apotheker auf. »Sicherlich, womit kann ich Ihnen helfen?«

      Justin Belfort zückte seinen Presseausweis. »Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Nur ein paar Fragen, ich fasse mich kurz. Ich finde das