Ulrich Hefner

Der Sohn des Apothekers


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des Apothekers waren plötzlich wie versteinert, das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. Er beugte sich vor. »Verschwinden Sie!«, zischte er leise. »Verschwinden Sie, bevor ich die Polizei rufe.«

      Justin hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin nicht von einem Klatschblatt, ich komme vom Direkt-Magazin aus Hannover und ich mache eine Reportage über ungelöste Kriminalfälle und Justizirrtümer. Deswegen bin ich hier. Sie haben doch sicherlich gehört, dass es eine überraschende Wendung im vermeintlichen Mordfall von Tennweide gegeben hat. Eines der Mädchen ist wieder ausgetaucht, lebend. Es ist mir ein Anliegen, den Fall der beiden Radfahrerinnen in meiner Reportage aufzubereiten, denn ich finde, es wurde viel zu wenig getan, um das Verbrechen aufzuklären. Schauen Sie sich unser Rechtssystem doch einmal an, es fehlt an allem, es gibt zu wenig Polizisten und auch die Kriminaltechnik hinkt der Entwicklung weit hinterher. Über die Justiz und ihre teilweise weltfremden Entscheidungen möchte ich gar nicht reden.«

      Thiele runzelte die Stirn und seine abweisende Haltung lockerte sich ein wenig.

      »Nur eine halbe Stunde Ihrer Zeit«, bat Justin. »Mehr nicht. Hören Sie mich bitte an, und wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, dass Sie nicht über die Sache reden wollen, dann verschwinde ich und Sie sind mich los. Falls aber doch, dann könnten Sie den anderen Reportern, die angesichts der Wendung in diesem Kriminalfall sicherlich noch auftauchen werden, einfach sagen, dass Sie exklusiv mit dem Direkt-Magazin zusammenarbeiten. Wie wäre das?«

      »Das mit dem Mädchen stimmt wirklich?«, fragte Thiele.

      »Ja, es steht mittlerweile fest«, antwortete Justin. »Es gab einen DNA-Vergleich. Glauben Sie mir, ich spiele mit offenen Karten. Das Direkt-Magazin ist ein seriöses Blatt. Wir haben es nicht nötig, die Leute hinters Licht zu führen.«

      Thiele überlegte, schließlich nickte er. »Gut, zwanzig Minuten. Kommen Sie mit nach hinten.«

      Lächelnd folgte Justin Belfort dem Apotheker.

      *

      Kabel und Messsonden führten von dem reglosen Körper zu den Apparaten neben dem Bett auf der Intensivmedizinischen Station der Flensburger Diako-Kliniken. Der behandelnde Arzt betrachtete die Krankenakte. Die junge Frau lag im Koma. Bei ihrem vermeintlichen Unfall hatte sie mehrere Knochenbrüche und innere Verletzungen davongetragen, besonders gravierend waren die Kopfverletzungen. Eine Schädigung des Gehirns konnte man nicht ausschließen. Es blieb nicht viel mehr, als abzuwarten, ob der ausgemergelte Körper den Kampf ums Überleben gewinnen oder verlieren würde.

      Hauptkommissar Freddy Seelmann vom Flensburger K 1 stand vor dem Bett und musterte den Arzt fragend.

      »Ich kann wirklich nicht sagen, wie lange es noch dauern wird, bis Sie mit ihr reden können«, sagte der Mediziner. »Wenn Sie überhaupt noch einmal zu Bewusstsein kommt. Medizinisch gesehen ist sie derzeit stabil, aber für eine Prognose ist es noch viel zu früh.«

      »Sie könnte in der Vergangenheit vergewaltigt worden sein, steht im Bericht des Rechtsmediziners«, zitierte Freddy Seelmann aus seinem Notizbuch.

      »Das kann gut sein. Sie hat Verletzungen im Vaginalbereich, die darauf schließen lassen. Aber die sind durchweg älter. Außerdem gibt es Hautveränderungen an den Handgelenken. Ich bin zwar kein Spezialist, aber sie könnten von einer Fesselung herrühren. Sicher bin ich mir da nicht, es könnten auch andere Gründe zur Vernarbung des Gewebes geführt haben.«

      Da die junge Frau derzeit nicht geschäftsfähig war, hatte das zuständige Gericht der Sozialstelle der Stadt die Vormundschaft übertragen und eine Pflegerin bestellt, die das Krankenhaus und sämtliche behandelnde Ärzte von der Schweigepflicht entbunden hatte. Außerdem war über die Staatsanwaltschaft ein gerichtsmedizinisches Gutachten beantragt worden, das inzwischen auf Freddys Schreibtisch gelandet war. Nun war er ins Krankenhaus gefahren, um darüber mit dem Arzt zu sprechen.

      »Und hochgradig süchtig ist sie«, fügte der Arzt hinzu, »was in ihrem Zustand natürlich für den Heilungsprozess nicht förderlich ist. Die Entgiftung ist noch nicht abgeschlossen.«

      »Heroin, steht in meinen Unterlagen«, antwortete Freddy Seelmann.

      Der Arzt legte das Krankenblatt der jungen Frau auf den Beistelltisch, auf dem inzwischen der Name Tanja Sommerlath vermerkt worden war. »Das deckt sich mit unseren Untersuchungen. Sind Sie schon einen Schritt weitergekommen?«

      Freddy schüttelte den Kopf. »Außer Frage steht, dass sie bei hoher Geschwindigkeit aus einem Wagen auf die Straße stürzte. Der Rechtsmediziner hat ein Verletzungsmuster rekonstruiert, das den Verdacht aufwirft, dass sie hinausgestoßen wurde. Wir vermuten einen Bus oder einen Van mit Schiebetüren, denn bei dem angenommenen Tempobereich kriegen Sie eine herkömmliche Tür kaum auf. Wir gehen von einem Mordversuch aus, denn jeder kann sich vorstellen, was mit einem Körper geschieht, der bei einer derart hohen Geschwindigkeit auf die Straße geworfen wird. Da wird der Tod billigend in Kauf genommen.«

      »Ich hoffe, dass Sie die Kerle kriegen, die das getan haben«, entgegnete der Arzt.

      »Eine Frage noch, Herr Doktor. Gibt es Anzeichen dafür, dass man sie in einem Kellerverlies festgehalten hat?«

      »Anzeichen?«, wiederholte der Arzt fragend. »Was für Anzeichen meinen Sie?«

      »Keime, Bakterien, ich bin kein Fachmann«, entgegnete Freddy Seelmann. »Ich dachte nur, ein modriges und verschimmeltes Kellerverlies hinterlässt irgendwelche Spuren. Vielleicht in den Atemwegen oder der Lunge oder auch unter den Fingernägeln.«

      Der Arzt nickte. »Ich verstehe, aber da muss ich leider passen. Ich kann nur sagen, dass sie im Allgemeinen in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand ist und es wohl auch vor dem Vorfall nicht zum Besten mit der Hygiene stand. Außerdem ist sie auffallend blass, was durchaus dafür spricht, dass sie nicht viel Sonne zu sehen bekam.«

      Freddy nickte. »Danke, und falls ich noch Fragen habe …«

      »Sie können mich jederzeit anrufen, das ist kein Problem. Ich helfe gerne, wenn ich kann.«

      *

      »Bingo!«, rief Lisa und schaute vielsagend auf den Computerbildschirm.

      »Was hast du denn?«, fragte Trevisan, der gegenüber Platz genommen hatte und ebenfalls auf den Bildschirm starrte.

      »Spur 156«, sagte Lisa. »Die Aussage eines Gemischtwarenhändlers namens Staufert und der Wirtin einer Pension in Tennweide. Beide haben am Tattag einen langsam durch den Ort fahrenden VW-Bus gesehen. Einen alten, teils verrosteten Bus mit weißer Lackierung, der möglicherweise ein dänisches Kennzeichen hatte. GA und dann folgten vier oder fünf Zahlen, die Farbkombination könnte tatsächlich dänisch gewesen sein.«

      Trevisan rief auf seinem Bildschirm die Spur 156 auf und las die Auszüge der beiden Zeugenaussagen, die ihre Angaben unabhängig voneinander gemacht hatten. »Hm«, brummte er, »ein dänischer Bus, das könnte passen.«

      »Das meine ich aber auch«, triumphierte Lisa.

      »Du hast schnell dazugelernt. Du siehst also, wie hilfreich dieses Programm ist. Damit man die Dinge zusammenführen kann und den Überblick behält.«

      Lisa kam zu Trevisans Schreibtisch und setzte sich locker auf die Schreibtischkante. »Wenn der Hintergrund nicht so traurig wäre, dann würde es mir sogar richtig Spaß machen. Das ist ja wie Rätselraten.«

      Trevisan legte den Kopf schräg. »Mein Gott, ich frage mich, was ihr die ganze Zeit über in dieser Abteilung getrieben habt.«

      »Ich sagte doch schon, wir haben Bilder von Vermissten auf Milchtüten geklebt.«

      »Im Ernst?«

      »Natürlich nicht. Aber Fahndungsplakate, Fahndungshinweise und die ganze Öffentlichkeitsarbeit, das war schon ein wesentlicher Teil unserer Arbeit.«

      »Das ist gar nicht schlecht.« Trevisan kratzte sich am Kinn. »In der Akte steht, dass damals die Öffentlichkeitsfahndung nach den beiden Mädchen von der Staatsanwaltschaft angeordnet wurde, und diese Anordnung ist bislang nicht widerrufen. Im Gegenteil, es erging