Ulrich Hefner

Der Sohn des Apothekers


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Sie haben niemanden dort draußen bemerkt?«

      »Ich bin noch nicht mal vom Trecker abgestiegen. Ich habe der Polizei den Weg beschrieben. Erst einen Tag später erfuhr ich davon, dass da jemand verschwunden sein soll. Das habe ich damals zu Protokoll gegeben und jetzt geht es wieder von vorne los. Sie sind schon der Vierte, der hier bei mir auftaucht und wieder die gleichen Fragen stellt wie damals. Ich will meine Ruhe haben, das ist doch nicht zu viel verlangt.«

      Justin nickte. »Das kann ich verstehen. Aber Sie müssen doch zugeben, dass es ungewöhnlich ist, dass hier zwei Mädchen vor drei Jahren verschwanden und nun eines davon bei Flensburg wieder auftaucht.«

      »Das geht mich nichts an, fragen Sie doch das Mädchen.«

      Justin überging Tjadens Antwort. »Damals fand eine große Suchaktion statt. Haben Sie auch mitgeholfen?«

      Tjaden schüttelte den Kopf. »Keine Zeit, war im Sommer zur Erntezeit.«

      Justin Belfort zeigte auf den jungen Mann, der wieder aufgetaucht war und die gesägten Holzstücke zusammensammelte. »Und er, wohl ihr Sohn, hat er bei der Suche geholfen?«

      »Ist mein Enkel. Der wohnt in Eckernförde. Hauke ist nur ab und zu hier, wenn Semesterferien sind. Studiert in Kiel und will Meeresbiologe werden.«

      Justin schaute sich um. »Das ist ein großer Hof, Sie haben doch sicher jemanden, der hier Ihnen hilft?«

      »Meine Frau und ich.«

      »War Ihr Enkel damals auch hier auf dem Hof, als es passierte?«

      »Nein, damals ist mir der Robert zur Hand gegangen. Ist aber gestorben. Letztes Frühjahr. Verdammter Krebs.«

      Justin Belfort notierte Tjadens Angaben in seinem Notizbuch. »Robert?«, fragte er neugierig nach.

      »Ja, Krauthoff hieß er. Ist aus dem Dorf, war alleine und hat früher mal als Schreiner gearbeitet. Hat gut mit angepackt und war ein ganz feiner Kerl. Aber ist ja nun nicht mehr. War Mitte fünfzig, noch kein Alter zum Sterben.«

      »Ja, Sie haben recht, ist noch kein Alter zum Sterben. Gibt es sonst noch jemanden, der mir etwas über das Verschwinden der Mädchen sagen kann?«

      »Unseren Dorfpolizisten können Sie fragen, der wohnt hier in Tennweide. Da war ganz schön was los. Sogar der Hubschrauber ist stundenlang über den Feldern und dem Wald gekreist.«

      Justin Belfort schmunzelte, als er an die unschöne Begegnung vorhin dachte. »Mitte fünfzig, graue Haare und etwa einen Kopf größer als ich?«

      Tjaden kratzte sich am Kinn. »Muss er wohl sein, fährt oft hier im Dorf Streife und er verscheucht das Ungeziefer.« Der Bauer grinste provokant.

      »Es ist nicht alles Ungeziefer, was sich für das damalige Geschehen interessiert«, widersprach Justin.

      »Aber die meisten interessieren sich gar nicht für die Geschichte der Mädchen, die wollen doch nur Geld verdienen und die Auflagen steigern. Sie drehen dir das Wort im Mund herum. Da war so einer, Anfang der Woche, wenn der nicht gegangen wäre, hätte ich Hasso auf ihn gehetzt.«

      Justin warf dem gefährlich dreinblickenden Mischlingshund einen Blick zu und zwinkerte mit dem Auge. »Da bin ich ja froh, dass Sie mich ein klein wenig besser leiden können.«

      »Kann ich gar nicht, aber ihr seid wie die Kartoffelkäfer, kommt immer wieder, solange es noch was zu beißen gibt. Da sag ich lieber gleich, was ich weiß, dann seid ihr zufrieden und ich hab meine Ruhe.«

      »Eine Frage hätte ich noch«, sagte Justin. »Gab es damals, als die Mädchen verschwanden, viele Touristen in der Gegend?«

      »Da war schon Spätsommer, ein paar Touristen waren wohl noch da, aber die sind meistens am See, der ist in der anderen Richtung.«

      »Ich hörte, dass es damals eine Festnahme gab, ein Junge aus dem Dorf. Aber er wurde nach kurzer Zeit wieder freigelassen.«

      Tjaden nickte eifrig. »Ja, der Sven. Aber der war es nicht, der hat nur was gefunden, das einem der Mädchen gehörte. Der ist ein bisschen bekloppt, aber der tut niemandem was. Ich hab gleich gesagt, so ein Blödsinn, zu glauben, der hätte was damit zu tun. Der ist lammfromm. Trieb sich damals oft im Wald herum und hat dort gespielt, aber ein Mörder ist das nicht, das ist klar.«

      »Lebt Sven noch hier im Ort?«

      Tjaden schüttelte den Kopf. »Ist jetzt im Heim. Sein Vater ist Apotheker in Mardorf, der wohnt noch hier.«

      Justin Belfort bedankte sich. Seine Recherchen hatten ergeben, dass Sven Thiele seit dem Vorfall in der geschlossenen Pflegeanstalt der Psychiatrischen Klinik Langenhagen lebte und Rudolf Thiele nach wie vor in Tennweide wohnte. Justin schickte sich an, zu seinem Wagen zu gehen, wandte sich aber noch einmal um. »Können Sie mir genau sagen, wo Sie die Fahrräder damals gefunden haben?«

      Bauer Tjaden zeigte in Richtung des Waldes.

      »Moment, ich habe eine Karte im Wagen.« Justin eilte zu seinem Audi. Der alte Mann folgte ihm. Als Justin die Radwanderkarte auf der Motorhaube auseinandergefaltet hatte, beugte sich Tjaden darüber. Nach kurzer Suche fand er Tennweide und den Wiesenweg, den er mit seinem Finger entlangfuhr, bis kurz vor dem Bannsee ein kleiner Weg nach rechts abzweigte. »Hier, etwa einhundert Meter nach der Abzweigung. Der Wald gehört mir. Da steht ein Gebüsch. Hagebutten sind das. Darin lagen die Räder, aber man konnte sie gut sehen.«

      »Also wurden sie nicht versteckt«, murmelte Justin.

      »Weiß ich nicht.«

      »Sie sagen, man konnte sie sehen, also sind sie nicht versteckt worden, oder derjenige, der sie dort hingebracht hat, wurde gestört.«

      »Gestört, wie meinen Sie das?«

      »Spaziergänger, Waldarbeiter oder …«

      Der alte Mann kratzte sich am Kopf. »Jetzt, wo Sie das sagen«, brummte er.

      »Was?«

      »Damals war ich jeden Tag da draußen, da hatte ich eine Aufforstung, die zu reinigen war. Die ganze Woche bin ich rausgefahren. In der Frühe raus und dann, wenn es dunkel wurde, wieder zurück.«

      »Die Mädchen verschwanden am Mittwoch, das war der 29. September 1999.«

      »Kann gut gewesen sein, genau weiß ich das nicht mehr. Aber Ende September wird es wohl so um die neun Uhr dunkel.«

      Justin machte Notizen in seinem Notizbuch. »Sehen Sie, jetzt haben wir doch noch etwas herausgefunden, was für den Fall vielleicht wichtig ist.«

      Tjaden wirkte ein wenig erschrocken. »Da bin ich vielleicht vorbeigefahren und hinter dem Gebüsch war der Mörder, was? Mein Gott, was da hätte alles passieren können.«

      »Vielleicht«, bestätigte Justin Belfort, raffte seine Karte zusammen und verabschiedete sich.

      Vom Grubhof fuhr er die gesperrte Straße zum Bannsee entlang bis zu der Feldwegabzweigung, die ihm Bauer Tjaden auf der Karte gezeigt hatte. Der Weg war derart zugewuchert, dass er seinen Wagen stehen lassen musste. Zu Fuß ging er weiter, bis er an das beschriebene Hagebuttengebüsch kam, das sich am Weg entlangrankte. Er suchte es ab, doch mehr als eine weggeworfene Bierflasche, eine alte Plastiktüte und einen leeren Tetrapack fand er nicht. Sicherlich hatte damals die Polizei das Gebüsch und den angrenzenden Wald ohnehin akribisch untersucht. Er machte ein paar Fotos und setzte seinen Weg fort, der ihn zum nahegelegenen Campingplatz führte.

      Eine Frau mittleren Alters empfing ihn im Büro, doch als er nach den verschwundenen Mädchen fragte, brach sie das Gespräch unwirsch ab. »Nicht schon wieder …! – Ich habe den Platz vor zwei Jahren übernommen. Der Vorgänger ist verstorben, da werden Sie kein Glück haben.«

      Als Justin nach Tennweide zurückkehrte und seinen Audi vor dem Klosterkrug parkte, fielen ihm zwei Wagen auf, die mitten auf dem Kirchplatz standen. Drei junge Männer lehnten an dem einen, einem schwarzen Golf. Jeder hatte eine Bierflasche in der Hand. Im anderen Wagen, einem blauen Honda, saßen zwei Mädchen. Justin schätzte alle