Angela Eßer

Mords-Töwerland


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Mutter, dass ich Besuch hatte. »Eckenwesen«, sagte sie morgens beim Frühstück, ohne Fragezeichen, und ich nickte immer.

      Je älter ich wurde, desto mehr kämpfte ich gegen das alte Weib, das nachts auf meinem Brustkorb saß. Im Kampf fiel ich in tiefen, toten Schlaf, und wenn ich aufwachte am Morgen, waren meine Finger wund und meine Haut aufgeschürft, wo das alte Weib mich gehalten hatte.

      Als mein Körper und meine Seele sich zu verändern begannen, fürchtete ich meine Mutter, dann fing ich an, sie zu hassen, und die Eckenwesen noch mehr. Pubertät, sagte die Lehrerin, das Wort war uns noch fremd, es klang nach einer Krankheit, in der Familie sagte man: Das Mädchen wird zur Frau. Ich entglitt meiner Mutter und genoss, dass sie es spürte, ohnmächtig, wie sie nicht mehr wagte, die Faust zu erheben gegen die 13-, 14-Jährige, die Faust, die sie dem kleineren Kind geschenkt hatte.

      Vor ihrer Ohnmacht und vor meinem Hass floh ich an Orte, die anders waren als unser Zuhause hinter der Teppichklopfstange. Die Kneipe am Hafen mit Glücksspielautomaten, wo der Wirt mich Cola mit Rotwein trinken ließ und hinauswarf, wenn Gäste kamen. Der Fährhafen, weil die Menschen dort wegkamen. Die Inselbücherei, denn da gab es Bücher. Meine Welt war längst zerfallen in zwei Teile: Flucht bei Tageslicht, bei Nacht Gefangenschaft in meinem Körper, gelähmt vor den Anwesenheiten in meinem Raum und auf meiner Brust.

      In einer Augenblicksverzweiflung suchte ich Rat in einem alten Handbuch über Träume: was in ihnen wiederkehrt und was es bedeutet.

      »Dies ist eine Bibliothek, wenn ich Sie um Ruhe bitten darf«, sagte jemand scharf durchs Regal, als ich schluchzte an meinem Tisch, der erste ehrliche Ton, den ich in meinem Kinderleben der Lähmung entrissen hatte. Denn es gab ein ganzes Kapitel im Buch über das, was mir widerfuhr und meiner Mutter wohl auch.

      Sie nannten es »Schlaflähmung« und beschrieben, wie es war und wie ich es kannte, zu träumen und doch wach zu sein, sich nicht rühren zu können, nicht schreien zu können, und eine Anwesenheit war im Zimmer. Viele Kulturen auf der ganzen Welt beschrieben das gleiche Phänomen, in alten Schriften seit den Sumerern und Assyrern, und fast immer waren es an den unterschiedlichsten Orten der Welt alte Weiber, die zu denen kamen, die an Schlaflähmung litten. Also, warum nicht auch zu uns auf die Insel? Und wie lange hatte ich gedacht, wir wären damit allein, ich wäre allein mit den Eckenwesen.

      Doch sie waren überall und jede Nacht, und Menschen verzweifelten daran und wurden unfähig zu arbeiten, und Eltern machten sich Vorwürfe, weil sie, woran sie selber litten, an ihre Kinder vererbten. Genetisch war das bedingt. Genetisch, damals noch ein großes Wort.

      Und wie überzeugt die Leidenden waren von der Wirklichkeit ihrer Besucher, sodass sie gegen sie kämpften im Traum und morgens Schürfungen und Druckstellen an ihrem Körper fanden wie von einem Kampf, Würgemale gar, sich selber beigebracht im Schlaf. Manchmal lief ich, wenn die Flut mit dem Morgengrauen gekommen war, nach dem Aufstehen ins Meer, um das Salz dort zu spüren, wo ich mich gewehrt hatte gegen die Eckenwesen.

      Aber nun wusste ich mehr, als meine Mutter je gewusst hatte. Sie war eine einfache Frau.

      Im Triumph kehrte ich zurück zu meiner Mutter, ein unerhörtes Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben. Sie nahm mir das Buch aus der Hand, und noch während sie es schloss, traf mich ihre Faust. Ich sehe den Spülstein noch vor mir und den hellgrünen Schwammstofflappen, mit dem ich das Blut anzuhalten versuchte von meiner Unterlippe, während meine Mutter vom Tisch sagte: »Das ist es, was wir glauben sollen. Dass es nicht wahr ist. Dass es nur in unseren Köpfen ist. Begreifst du es denn nicht? Seit Tausenden von Jahren. Auf der ganzen Welt. Wir gehören zu denen, die ausgesucht sind von den Eckenwesen. Begreifst du es denn nicht? Wir sind die Ausgesuchten, wir sind etwas Besonderes. Aber die, die deine Bücher schreiben, wollen uns das ausreden, damit wir elend und klein sind wie alle anderen.«

      Ich schluckte mein Blut hinunter, weil ich nicht zu spucken wagte. Ich war 14, und meine Mutter war gestorben für mich. Ich ging aus der Küche, ohne sie anzuschauen.

      Das nächste Mal, als ich sie sah, war sie tot und ausgebreitet auf dem Bett, als wäre ihr das Aufstehen zu schwer geworden, und es war am nächsten Morgen. Ihr Körper im beigefarbenen Nachthemd unter der dünnen Decke, ein Fuß sah heraus, zur Pediküre ging sie immer, aber an ihrem Hals Würgemale.

      Die Mama, hat Onkel Heini gesagt, die Mama ist an einer Allergie erstickt im Schlaf. Das neue Nachthemd, man hat es ja nicht gewusst. Ihre Luftröhre ist zugeschwollen, sie hat dagegen angekämpft. Die Würgemale sollen daher gekommen sein. Eine Nachbarin sagte zur anderen unterm Reetdach, und der Wind trug ihre Stimme zu mir, sie dachten wohl, ich wäre weit genug weg: »Hat sie versucht, sich die Kehle rauszureißen. So ein grausamer Tod. Und das arme Mädchen.«

      Aber ich wusste es besser. Die Eckenwesen mussten meine Mutter getötet haben. Weil sie nicht verhindert hatte, dass ich anfing, die Lügen in den Büchern zu glauben.

      Onkel Heini hat dann auf mich aufgepasst. Und die Eckenwesen.

      Denn ich habe danach nie mehr an ihnen gezweifelt. Und ich habe nie mehr eine Nacht geschlafen, ohne Besuch von dem alten Weib und von der Anwesenheit in der Ecke. Der größte Schrecken kann ein Trost sein, wenn er vertraut ist. Und auch, wenn ich kämpfte: Ja, etwas Besonderes wollte ich sein, etwas Besonderes wie meine Mutter.

      Manchmal kam Onkel Heini, weil er mich schluchzen und stöhnen und kämpfen gehört hat. Er setzte sich auf meine Bettkante und sagte leise: »Nu is ja man gut«, und hielt meine Hand, und ich vertrieb mir die Zeit, bis er ging, indem ich seine Finger zur Faust faltete.

      Niemand war mir je wirklich nah außer dem alten Weib, das jede Nacht auf mir sitzt und mir die Luft abdrückt.

      Ich habe trotzdem einen Mann vom Festland getroffen, ihn dort geheiratet und ihm da einen Haushalt geführt. Obwohl ich nachts gelähmt war und nicht schreien konnte, war ich weniger gefangen als der Mann, der meiner war, und der glaubte, das Leben würde aus Geburt, Schule, Arbeit und Tod bestehen und nicht auch noch aus Unbegreiflichem, das sich seit Jahrtausenden in den Ecken der Nächte zeigte. Bis er mich und mein Sprechen von den Eckenwesen nicht mehr aushielt und wegging über die Straße zu seinen Eltern, bis er dort eines Nachts in seinem Kinderzimmer starb, einfach so. Seine Füße, sagten die Nachbarn, hingen blau über die Kante hinten, so kurz war das Bett.

      Wie soll ich erklären, dass ich nach dem Tod meines Mannes vorm Spiegel stand, die Friedhofserde für die Blumen noch unter den Fingernägeln, und dachte: Alt bist du jetzt geworden. Jetzt bist du ein altes Weib.

      Und dann bin ich zum ersten Mal zurückgefahren auf die Insel, auf der ich gelebt hatte mit meiner Mutter. In unserer Einliegerwohnung lebte jetzt der kleine Theo mit seiner Familie. Vater, Mutter, Kind.

      Der kleine Theo hat immer gegrüßt, wenn ich von da an meine alte Straße besucht habe, die Wohnung im Erdgeschoss, in der meine Mutter und ich wohnten, zum Strandhafer raus.

      Wo ich herkomme, vergehen die Jahrzehnte schnell, weil sie einander gleichen, und die Zeit steht trotzdem still. Der kleine Theo hat im Strandhafer gespielt und war immer allein, er hat mich an mich erinnert, als ich Kind war.

      Nun will ich allein sein, wenn ich an den kleinen Theo denke. Fort von ihm, fort von den Eckenwesen. Aber, sagt meine Mutter mir im Schlaf, allein bist du nur auf der Vogelinsel.

      Ich glaube nicht, dass der kleine Theo mich je erkannt hat, wenn ich nachts mit dem alten Schlüssel kam, den meine Mutter mir an die Hose gebunden hatte früher und der noch immer passte in die Wohnungstür von früher. Wenn ich nachts kam, während seine Eltern im Wohnzimmer schliefen. Er sah mich zwar tagsüber, wie ich ihm winkte im Strandhafer, aber nachts kann ich nur ein altes Weib aus der Ecke gewesen sein für ihn.

      Wem hilft es, wenn ich sage, dass niemandem nachts ein altes Weib auffällt in Schwarz, immer blieb ich unbehelligt auf meinen Wegen?

      Wem nützt ist, wenn ich beschreibe, wie ich in seiner Zimmerecke stand, während der kleine Theo schlief, und wie ich Monate wartete, wie ich zehrte von seiner Angst, die mir köstlich wurde wie einst die Leckmuschel, bis ich zum ersten Mal auf ihm saß und ihn das flachste Atmen lehrte?

      Allein, er konnte das flachste Atmen nicht lernen. Er war schwach,