drei Tagen verzehrt werden muss, macht mir schwer zu schaffen. Herbert war immer so stark, so klug, hat mich beschützt, stand immer an meiner Seite und war stets loyal. Das hat man ja gesehen, als die lilafarbene Thea mich beim Kurkonzert beleidigt hat.
Während am Schiffchenteich darüber gerätselt wird, wer Herbert auf dem Gewissen haben könnte, und Thea so tut, als könne sie es sich nicht erklären, wird mir übel. Gut, dass ich noch nichts Vernünftiges gegessen habe, sonst hätte ich womöglich dem Dirigenten des Kurorchesters vor die Füße gekotzt, der gerade die Bühne betritt.
Zum Glück werde ich jedoch abgelenkt. Wen sehe ich da auf den Schiffchenteich zukommen? Die alte Frau Sönksen! Was für eine Freude! Obwohl sie ja gewissermaßen schuld an Herberts Tod ist. Nein, sie ist nicht schuldig, höchstens mitschuldig. Wenn sie nicht dieses wahnsinnig leckere Schwarz-Weiß-Gebäck produzierte, dann wäre das alles nicht passiert, das muss mal ganz klar gesagt werden.
Ich hätte Thea daran hindern können, meinen Herbert in den Schiffchenteich zu stoßen. Okay, okay, ich habe noch immer keine Beweise, aber Theas Verhalten zeigt doch, dass sie schuldig ist. Wie harmlos sie tut! Wie mitfühlend sie sich gibt! Dahinter erkennt man doch gleich ihr schlechtes Gewissen.
»Walli!«
Nun hat Frau Sönksen mich auch gesehen. Mich hält jetzt nichts mehr. Aufgeregt laufe ich zu ihr, um sie zu begrüßen. Meine liebe Frau Sönksen! Herbert mochte sie genauso gern wie ich. Er ließ mich immer allein zu ihr laufen, der Weg war ja nicht weit, und er vertraute mir. So wie gestern Abend. Wie oft hat er gesagt: »Meinetwegen mach einen Besuch bei Frau Sönksen …« Gestern Abend allerdings nicht. Da habe ich den Entschluss gefasst, ohne auf Herberts Aufforderung zu warten. Wäre er doch nur mit mir in den »Friesenhof« gegangen! Dann hätte mich der Hunger nicht zu Frau Sönksen getrieben.
Ich setze an zu einem großen Sprung, will Frau Sönksen auf den Schoß hüpfen, aber mit einem Mal werde ich zurückgerissen, jemand hält mich, etwas hält mich, irgendwas …
»Vorsicht! Die Leine!«, höre ich jemanden schreien.
In diesem Moment komme ich keinen Schritt weiter. Straff gespannt ist sie, meine Leine, irgendwo fest verhakt. Sie zerrt an mir, zieht mich zurück … da höre ich einen weiteren Schrei. Dann einen riesigen Platsch, das Wasser spritzt bis auf meinen Rücken. Und schließlich dieses ausgesprochen hässliche Geräusch, wenn ein Knochen knirscht und zerbirst.
Ich reiße mit aller Kraft, und zum Glück gibt die Leine endlich nach. Es wäre mir durchaus recht gewesen, wenn sie sich vom Halsband gelöst hätte. Sie ist mir den ganzen Tag schon sehr lästig. Es wäre besser gewesen, Herbert hätte sie mir abgenommen, bevor ich zu Frau Sönksen gelaufen bin. Das wollte er eigentlich auch, weil ja auf den Straßen nichts mehr los war und ich keinem Pferdefuhrwerk in die Quere kommen konnte. Er hat sich zu mir hinabgebeugt, aber ich war viel zu aufgeregt, weil ich an Frau Sönksens Schwarz-Weiß-Gebäck dachte, wollte nicht warten, bin einfach losgerannt, so wie gerade eben … Dann habe ich etwas Ähnliches gehört. Auch da hat sich meine Leine verfangen, hat sich ruckartig gespannt, und es hat ein Platschen gegeben, Wasser ist aufgespritzt, aber ich hatte nur das Schwarz-Weiß-Gebäck von Frau Sönksen im Kopf und habe mich nicht weiter darum gekümmert. Auch jetzt hält sie es in der Hand, die gute Frau Sönksen. Wie lieb von ihr, dass sie daran gedacht hat.
Brav setze ich mich vor sie hin, mache Männchen, bereit zuzuschnappen, wenn mir ein Gebäckstück vor die Schnauze gehalten wird. Aber Frau Sönksen scheint mich plötzlich nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. Irgendwas hat sie erschüttert. So gewaltig, dass ihr nun die Tüte mit dem Gebäck aus der Hand fällt. Nun gut, das ist mir recht. Noch lieber fresse ich natürlich alles auf einmal auf, als für jedes Gebäckstück Männchen zu machen.
Erst als das ganze Schwarz-Weiß-Gebäck verputzt ist, kümmere ich mich um das Theater, das am Schiffchenteich herrscht.
»Polizei!«
Schon wieder? Warum? Ich dränge mich durch die vielen Beine, die um den Schiffchenteich herum stehen, und da sehe ich die Bescherung. Thea mit den lila Haaren liegt im Wasser. So wie Herbert. Bäuchlings! Es dauert verdammt lange, bis endlich ein Mann ins Wasser steigt und sie umdreht. Ihre Freundinnen kreischen, der Mann drückt mal hier und mal da, horcht an ihrer Brust und schüttelt dann den Kopf. »Ich nehme an, Schädelbasisbruch«, sagt er, als verstünde er etwas davon. Ich habe keine Ahnung, was damit gemeint ist.
»So muss auch der Mann gestern zu Tode gekommen sein!«, höre ich eine Stimme und habe mit einem Mal das Gefühl, das es besser ist, mich zu verdrücken. Am besten ziemlich schnell, ehe jemand auf meine Leine tritt und mich stoppt, so wie das stachelige Gebüsch am Schiffchenteich.
Ich renne los, so schnell ich kann.
Zu Moni!
Jetzt ist es mir egal, dass sie behauptet hat, Herbert habe sie mehr geliebt als mich. Moni war immer gut zu mir, dass sie Herbert auf dem Gewissen hat, kann ich nicht mehr glauben. Und Thea mit den lila Haaren? So zu Tode gekommen wie Herbert? Das verstehe, wer will.
Ich jage die Straße hinab, die Leine flattert hinter mir her. Jetzt aber so schnell es geht zu Moni! Da Frau Sönksens Schwarz-Weiß-Gebäck verzehrt ist, wird es mir bei Moni am besten gehen. Sie wird mir hoffentlich die Leine vom Halsband lösen.
Sonst passiert am Ende noch ein Unglück …
Rietwurm*
von Till Raether
Aktennotiz: Kriminalakte Jansen, Jutta, geb. 27.09.1941 auf Juist, Anlage 23/2 zu Aktenzeichen 23-456-19.01: Handschriftliche Einlassung der Beschuldigten, Beweismittel im Rahmen des kriminalpolizeilichen Ermittlungsverfahrens zum Tötungsdelikt gegen Kleinhans, Theo, geb. 12.03.2009 in Norden, und andere.
Fundort: Nordseeinsel Memmert, D-26571 Juist
Aufnehmender Beamter: PHK Behler, Jürgen, LKA Niedersachsen, Dienstnr. B78 293-56
Nun will ich also Bericht ablegen über meine Kindheit, um zu verstehen, was mit dem kleinen Theo geschah. Rennautos hat er gemocht und Gummibärchen und sein T-Shirt, wo drauf stand: »Brummi wünscht gute Fahrt«, mit einem Lastwagen in Menschengestalt.
Aber ich bin alt geworden bis fast zum Tode, und vielleicht bin ich allein deshalb bereit, an meine Kindheit zu denken und von ihr zu berichten: Weil sie mir, je älter ich werde, immer näher kommt. Alle sind tot, meine Mutter schon seit vielen Jahren. Mein Mann ist gegangen, weil er die Eckenwesen nicht mehr ertragen konnte, im März sind es zehn Jahre, tot ist er inzwischen auch.
Eckenwesen, das Wort ist von meiner Mutter. Ich war ihr ganzer Stolz. Weil ich fast alles war, was sie hatte. Sie hatte nur mich und die Eckenwesen. Und den Kiosk an der Strandpromenade, darum waren die Winter uns lang. Als sie starb, sagte der Pfarrer der Inselkirche: Sie war eine einfache Frau. Womit er wohl meinte: Sie war eine von uns. Aber was ich darin hörte, war etwas anderes, ich hörte: dass sie ungebildet war, keine Rücklagen und nichts aus ihrem Leben gemacht hatte.
Aber einfach? Nein. Sie war der schwierigste Mensch von allen.
Für sie gab es keinen Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit, darum sagte sie, wenn ich in meinem kratzenden Kleid am weißen Küchentisch saß und nach meinem Vater fragte: »Deinen Vater habe ich im Traum gekannt, von ihm nie wieder ein Wort.«
Ich denke, sie meinte: Er kam mit der Fähre und er ging mit der Fähre.
Doch wenn ich dann fragte, woher ich käme, wenn sie ihn doch nur im Traum gekannt hatte, dann schlug sie mich mit der Faust. Als ich auf die Schule am Schoolpad kam, hörte ich, dass andere Eltern mit der flachen Hand schlugen und die Lehrer auch. Meine Mutter nahm immer die Faust. Aber sie liebte mich sehr. Manchmal öffnete sie danach die Faust und zeigte mir, während sie mich in den Arm nahm, dass eine Leckmuschel darin war für mich zum Trost.
Wenn ich mich versteckte vor ihrer Faust, zerrte sie mich aus dem hintersten Winkel und zwang mich in die Küchenbank.
»Allein«, sagte sie, »bist du nur auf der Vogelinsel.«