Angela Eßer

Mords-Töwerland


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Sie war froh, dass niemand mitbekommen hatte, wie sie den Collie verbotenerweise ohne Leine am Strand laufen gelassen hatte.

      »Emma!«, rief sie. »Bei Fuß, lass uns nach Hause gehen!«

      Die Hündin reagierte nicht. Sie hatte offenbar ihren Spaß. Die Beamtin lief zu ihr und blieb nach einigen Metern erschrocken stehen. Emma schleckte die Hand eines Mannes ab, der rücklings im Sand lag.

      »Emma!«, schrie sie erzürnt. »Aus! Weg da. Bei Fuß.«

      Die Hündin gehorchte, wenn auch unwillig und kam gelaufen. Tanja kniete sich zu ihr und streichelte sie. Groß gewachsen war der Mann, der halb im Sand verschüttet lag. Sie dachte an den geflohenen Schwerverbrecher, der irgendwo als Wasserleiche an Land gespült werden sollte. Als sie näher trat, nahe genug war, um das Gesicht zu sehen, starb die Hoffnung, Hannes Dengel vor sich zu haben. Im Sand lag der Barmann aus der »Spelunke«, Jan, der seiner Mutter keine Brötchen gebracht hatte. Die Jacke war auf Höhe des Brustkorbs mit Blut getränkt. Sie sah sich die Leiche genauer an und starrte in eine klaffende Wunde.

      »Gut gemacht, Emma«, lobte sie wie unter Schock ihre Hündin.

      An Ort und Stelle rief sie nochmals im Polizeikommissariat an und verhaspelte sich bei dem mündlichen Bericht.

      »Hab ich richtig verstanden?«, höhnte der Beamte am Telefon. »Du hast einen Toten auf Juist? Gratuliere, damit gehst du in die Geschichtsbücher ein!«

      »Ich habe einen Mord auf Juist!«, erwiderte sie entnervt. Im Stress dachte sie erst jetzt daran, ein Handyfoto zu schicken, und erhielt nach einigen Sekunden den Hinweis, sich ruhig zu verhalten.

      »Ruhig bin ich«, schrie sie angestrengt. »Aber ich erfriere hier! Was soll ich tun?«

      »Vor allem und ganz besonders ruhig bleiben«, wiederholte der Beamte. »In paar Stunden soll der Sturm nachlassen. Sobald es geht, ist die Tatortgruppe unterwegs. Sicher die Fundstelle, vor allem deck den armen Mann zu.«

      »Womit denn?«, schrie Tanja leicht hysterisch und besann sich wieder. »Wie es aussieht, ist Jan erstochen worden. Mitten ins Herz. So was macht kein Juister!«

      »Worauf willst du hinaus?«

      »Was weißt du über die paramilitärische Truppe, die Dengel befreit hat?«, fragte sie.

      »Nichts«, erwiderte der Beamte erstaunt. »Warum auch? Die Nordsee hat sie geholt …«

      »Und wenn sie doch nicht ertrunken sind?«, unterbrach sie ihn.

      »Bei dem Seegang?«, machte er sich lustig. »Du glaubst doch nicht, die schweren Jungs hängen bei dir auf Juist ab! Den Barmann hat Frau, Freundin oder Saufkumpane nach einem Streit niedergestochen.« Er machte eine kurze Pause. »Du bleibst schön ruhig, ja? Wenn der Sturm nachlässt, schicke ich …«

      Die Verbindung brach ab. Tanja blickte auf das Display, das vom Regen nass gespritzt wurde. Es war schwarz. Der Akku war leer. Eine Bö peitschte ihr wie eine Ohrfeige Regentropfen vermischt mit Sandkörnern ins Gesicht.

      »Komm, Emma«, sagte sie. »Lass uns Jan wenigstens wieder vergraben. Was anderes fällt mir jetzt auch nicht ein.«

      Mit beiden Händen schaufelte sie den Leichnam zu und merkte sich die Stelle, wo Jan zur vorläufigen Ruhe gebettet lag.

      Erschöpft setzte sie sich einige Meter entfernt in den Sand und starrte aufs Meer. Sie kämpfte damit, ob sie der Mutter gleich Bescheid geben sollte oder nicht. Natürlich hatte Imke das Recht zu erfahren, was mit ihrem Sohn geschehen war. Während sie ihren Gedanken nachhing, merkte sie, wie das Wetter umschlug. Der Wind ließ nach, die Wolken zogen etwas langsamer über die Insel hinweg, und ab und an zeigte sich sogar die Sonne. In vielleicht drei Stunden würde Verstärkung vom Festland kommen, aber der Strand von Menschen besiedelt sein. Sie fasste den Entschluss, im nächstgelegenen Haus zu klingeln und sich aufzuwärmen. Dem Notarzt würde sie Bescheid geben, um offiziell Jans Tod feststellen zu lassen, Männer von der Feuerwehr als Leichenwache abkommandieren, den Bürgermeister informieren.

      Sie raffte sich auf. »Emma, bei Fuß.«

      Mit ihrer Hündin erreichte sie den Aufgang, der zu den Häusern in der Billstraße führte. Der schwächer werdende Wind trieb Stimmen durch die Luft. Mit Erstaunen vernahm sie eine Sprache, die auf der Insel nicht geläufig war. Männer hörte sie. Wortfetzen. Leise von der Brise zu ihr getragen. Mehr als eine Stimme jubelte »Gol!«.

      Verwundert und behutsam näherte sie sich von der Straße her dem »Seeferienheim«. In der von der evangelischen Kirche betriebenen Anlage hatte sie vor einigen Wochen einen Einsatz in einer Jugendgruppe wegen eines gestohlenen Handys. Kurzerhand hatte sie trotz lautstarker Proteste alle Geräte konfisziert. Auf wundersame Weise war das gestohlene darunter gewesen. Nur eines aus der Ansammlung, das funktionierte, hätte sie jetzt gerne gehabt, um jemandem Bescheid zu geben, wo sie gerade war. Sie versteckte sich hinter einer Mülltonne und machte ihre Arbeit. Allein. Wie immer.

      Sie beobachtete den Innenhof, wo sich zwischen Verwaltungsgebäude und Gruppenunterkünften Männer tummelten. Sie trugen eng anliegende T-Shirts und schwarze Kampfhosen. Schusswaffen und Messer hingen an ihren Gürteln. Mit Militärrucksäcken war ein Tor auf dem gepflasterten Hof markiert. Wie Schuljungen spielten sie mit einem Plastikball, der im Wind hin- und hergetrieben wurde.

      Ruhig bleiben, mahnte sie sich. Sie hatte recht behalten. Die Elitekämpfer waren putzmunter auf Juist gestrandet. Sie zählte vier Männer. Drei fehlten, wenn die Nachrichtenmeldung richtig war.

      Sie überlegte fieberhaft, was sie tun könnte. Die Inseljäger fielen ihr ein. Sie hatten Gewehre, mit denen sie Kaninchen jagten. Unversehens tauchte Emma in ihrem Blickfeld auf. Kläffend und bellend beteiligte sich ihre Hündin am Fußballspiel. Die Männer schöpften keinen Verdacht. Sie klatschten Beifall, weil Emma in luftiger Höhe mit ihrer Nase den Ball kickte. Gleich darauf tauchte aus dem Gebäude mit der Aufschrift »Dellert-Haus« eine uniformierte Gestalt auf. Nummer fünf, zählte Tanja.

      Fuchsteufelswild schimpfte die drahtige Frau: »Seid ihr verrückt! Wenn euch jemand sieht!« Dann setzte sie auf Spanisch nach und trieb die Fußballspieler ins Haus. Ein Mann mit zu weiter Jacke und einer Schirmkappe erschien neben ihr. Nummer sechs war niemand anderer als Hannes Dengel. Sie erkannte ihn von Fahndungsfotos aus ihrer ehemaligen Polizeistation. Und wo war die siebte Person?, fragte sie sich.

      Die Antwort erhielt sie postwendend. Mit voller Wucht jagte die hinter ihr stehende Holländerin einen Gewehrkolben an Tanjas Hinterkopf. Juists einzige Polizeikraft sackte zusammen und blieb auf den Pflastersteinen liegen. Verschwommen sah sie, wie Emma zu ihr lief und mit erhitzter Zunge über ihr bleich gewordenes Gesicht schleckte.

      Dengel und Carmen liefen zur Holländerin, die mit dem Kampfstiefel Tanjas Hals niederdrückte.

      »Sie hat sicher nach Verstärkung telefoniert«, schrie der geflohene Schwerverbrecher, als er die Polizeibeamtin erkannte.

      Antje widersprach. »Ich habe sie beobachtet, als sie mit dem Hund vom Strand hochgekommen ist. Sie hat nicht telefoniert und …«

      »Mir scheißegal, erschieß sie!«, drängte Dengel aufgeregt. »Keine Zeugen! Ist das so schwer zu verstehen?«

      Emma bellte, als Carmen die Waffe aus der Gürteltasche holte und sie ihrem Frauchen an den Kopf hielt. Aus dem Augenwinkel sah Tanja, wie Dengel mit einem brutalen Tritt dafür sorgte, dass sich ihre Hündin trollte. »Worauf wartest du? Schieß!«

      »Sie ist Polizistin«, gab Carmen zu bedenken. »Gibt schlechtes Karma, und sie jagen doppelt so viele Bullen hinter uns her.«

      Dengel spürte sanften Wind über sein Gesicht streicheln und änderte mit Blick in den klarer werdenden Himmel seine Meinung. »Ok, Planänderung. Sie verständigt den Notruf für den Hubschrauber, dann stellt niemand dumme Fragen. Sperrt sie weg.«

      Im selben Augenblick schreckten klackende Hufe die Flüchtigen auf. Hastig zogen sie die Beamtin hinter die Mülltonne.

      Dengels Gesicht strahlte beim Anblick der Plankutsche, die auf sie zusteuerte. »Das Schicksal meint es gut