Abmarsch. Lasst alles zurück, was nicht gebraucht wird. Wir dürfen nicht zu schwer sein.«
Der Kutscher mit Zigarette im Mund hatte die Personen beim Seeferienheim nicht bemerkt. Als aus dem Nichts ein Plastikball zwischen die Hinterbeine der Lastpferde schoss, ahnte er nicht, was ihn erwarten würde. Die Tiere bäumten sich erschrocken auf und wieherten. Mit Peitsche und guten Worten brachte er das Gespann zur Ruhe. Doch statt die Fahrt fortzusetzen, hob er die Arme, denn zwei maskierte Gestalten mit Gewehren bedeuteten ihm, vom Bock abzusteigen.
Tanja Krüger fand sich in einem Schlafraum mit Etagenbetten wieder. Der Kopf brummte ihr vom Schlag, den ihr die siebte Person verpasst hatte. Sie schleppte sich zum vergitterten Fenster. Das Stück Himmel, das sie sehen konnte, war trüb und grau, aber kein Sturm tobte mehr über die Insel. Am anderen Ende des Hofes entdeckte sie ihre Hündin. Emma lag bewegungslos in einer Blutlache. Sie haben Emma getötet, dachte sie, genauso, wie sie Jan getötet haben. Tränen rannen ihr über die Wange. Voller Wut eilte sie zur Tür, die plötzlich vor ihr aufgerissen wurde. Die spanisch sprechende Frau betrat mit übergezogener Sturmhaube den Raum. Sie reichte Tanja das ausgefallene Diensthandy, das in ihrer Jacke gesteckt hatte.
»Akku ist geladen«, sagte Carmen knapp. »Dreh dich um.«
Durch das Fenster sah Tanja, wie zwei Kämpfer einen übel zugerichteten Mann durch den Hof schleiften.
»Wer ist das?«, fragte sie entsetzt.
»Ein hübscher Kerl, dem die Gäule durchgegangen sind und ihn halb tot getrampelt haben«, bekam sie zur Antwort. »Du wählst jetzt die 112, sagst, wer du bist, und forderst einen Rettungshubschrauber an. Sonst stirbt der Kutscher.«
Unter vorgehaltener Waffe tätigte die Beamtin den Notruf. Die Einsatzzentrale erkundigte sich nach der Verletzung, beruhigte sie, dass der Rettungsdienst die Erstversorgung übernehme, und schickte den Hubschrauber los. In zehn Minuten würde er auf der Wiese beim Hafen eintreffen. Zufrieden nahm Carmen der Polizistin das Handy weg und öffnete die Tür. Zwei Männer kamen herein, warfen den Kutscher vor Tanjas Füße und verschwanden. Aus der Nase tropfte Blut, mehr an Verletzungen entdeckte sie bei ihm nicht. »Geht’s?«, vergewisserte sie sich.
Der Kutscher nickte und deutete zum Fenster. Nun hörte auch Tanja, wie sich der Planwagen in Bewegung setzte. Sie sprang zur verschlossenen Tür und rüttelte. Eine Zeit lang sah der Verletzte ihr dabei zu und wischte sich das Gesicht mit einem herumliegenden Bettlaken ab. Dann rappelte er sich auf, öffnete die Fensterladen und stieß von innen das Gitter auf.
»Danke«, sagte Tanja perplex. »Bleib hier, ich schicke Hilfe, ja?«
Mit einem Sprung war sie draußen auf dem Hof. Doch Emma lag nicht mehr dort, wo sie sie gesehen hatte. Sie starrte sekundenlang auf die Blutlache auf dem Asphalt, wieder rannen Tränen über ihre Wangen. Was sollte sie bloß tun? Die Verbrecher hatten einen Vorsprung, der Hubschrauber landete in wenigen Minuten. Weit und breit keine Inseljäger, geschweige denn Verstärkung. Schweren Herzens rannte sie los und stolperte über den Militärrucksack, der als Tormarkierung hergehalten hatte. Rasch öffnete sie ihn und staunte. »Perfekt!«, machte sie sich Mut und erinnerte sich, wie sie bei der Polizeiausbildung mit einem G3 Schnellfeuergewehr Trainingseinheiten absolviert hatte.
Gleich darauf schlug sie das Fenster des Gebäudes mit der Aufschrift »Büro und Kiosk« ein. Sie fand ein vorsintflutliches Scheibentelefon und alarmierte die Feuerwehr. »Rückt sofort zum Hafen aus«, befahl sie. »Ich bin auf dem Weg.«
Sie war bereits davongeeilt, als der Kutscher in den Hof trat.
*
Die Plankutsche erreichte den Hafen zusammen mit den Löschzügen und den Rettungswagen. Das Sirenengeheul des Großeinsatzes trieb Juister und Touristen hinaus zum Hafengelände. Menschenmassen wie zur Hochsaison fanden sich zusammen, ohne zu wissen, was vor sich ging. Der Kolumbianer auf dem Bock trieb unbeeindruckt die Pferde voran. Unsichtbar unter der Plane saß Dengel mit der bewaffneten Mannschaft.
Mit dem gesicherten Gewehr im Bollerwagen eines konfiszierten Fahrrads näherte sich die Inselpolizistin dem Hafen. Der Hubschrauber landete gerade auf der Wiese neben dem Leuchtturm. Im Rotorwind sprangen Notarzt und Sanitäter heraus und blickten sich nach dem Schwerverletzten um. In dem Moment wurde die Kutschenplane weggezogen. Dengel und die bewaffneten Kämpfer sprangen heraus und verscheuchten die zwei zu Tode erschrockenen Helfer. Die Zuschauer, die augenblicklich die Gefahr erkannten, riefen und winkten sie zu sich, bis Dengel eine Salve in die Luft abfeuerte. In Todesangst suchten die Schaulustigen Schutz in den umliegenden Gebäuden. Nachdem der Rettungspilot vom Sitz gezerrt war, sprangen die Verbrecher in den Hubschrauber.
Tanja Krüger erreichte den Einsatzort. Sie stieß das Fahrrad von sich, schnappte das Gewehr und lief auf den aufsteigenden Helikopter zu. Sie schrie. Doch die Lautstärke des Propellerwirbels machte ihre Worte nutzlos. Niemand verstand auch nur eine Silbe von dem, was sie in die Luft brüllte. Dennoch rief sie: »Halt, Polizei! Landen Sie sofort! Oder ich schieße.«
Trotz Sichtkontakt zur Beamtin mit G3 im Anschlag hob die Maschine unter ohrenbetäubendem Geratter ab. Tanja spürte, wie in dem infernalischen Lärm sich absolute Ruhe in ihr breitmachte. Der Hubschrauber stieg beständig in die Luft. In etwa 50 Meter Höhe lenkte der Pilot die Maschine um die eigene Achse. Da erschien Hannes Dengel in ihrem Blickfeld. Direkt im Lauf des Gewehrs. Er grinste durch die Scheibe wie der Teufel auf dem Flug zur Hölle. Er war schuld, dass drei Polizeibeamte im Sterben lagen. Jan lag tot im Sand vergraben, Emma hatte er zu Tode getreten. Sie allein war der Arm der Gerechtigkeit. Jetzt und hier auf Juist. Sie zielte auf den Rotorkopf und gab mehrere Feuerstöße ab. Als die von Einschlägen getroffene Mechanik beschädigt wurde, geriet der Hubschrauber ins Trudeln und stürzte in Sekundenschnelle herab. Knapp neben dem Leuchtturm krachte die Maschine zu Boden und kippte auf die Seite. Die Rotorblätter schlugen tiefe Furchen in die Wiese, ehe sie in Stücke zerbrachen und durch die Luft jagten. Tanja Krüger duckte sich rechtzeitig und ließ sich fallen. Sie reagierte als Erste, als der donnergleiche Knall des Aufpralles verebbt war. »Los!«, schrie sie den Rettungskräften zu. »Seht nach ihnen!«
Feuerwehrleute und Sanitäter stürmten zu dem millionenteuren Wrack. Mit schwerem Werkzeug gelang es ihnen, die verkeilten Türen aufzubrechen. Ein silbern schimmerndes Metallstück ragte aus Dengels Kopf. Über seinen leblosen Augen war die Schirmmütze mit dem Sinnspruch »Juist sehen und sterben« lesbar geblieben. Auch keiner der anderen Insassen hatte den Abschuss überlebt.
So ruhig Tanja noch vor ein paar Minuten gewesen war, so sehr zitterte sie jetzt am ganzen Körper. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und auf das, was eigentlich im Moment so überflüssig wie nur sonst was war. Aber unumgänglich. Den notwendigen Bericht an das Polizeikommissariat in Norden. Doch als sie plötzlich den Kutscher entdeckte, der Emma im Arm hielt, war ihr vollkommen egal, wie viele Berichte sie zu schreiben hatte. Sie rannte einfach nur zu ihm und starrte glücklich auf ihre Hündin.
»Ich dachte, Emma sei tot«, brachte sie mit brüchiger Stimme hervor.
Der freundlich lächelnde Retter reichte ihr die Hündin. Wortkarg wie das Juister Seezeichen, das in den aufkommenden Sonnenstrahlen glänzte, streichelte er das Tier.
»Jetzt brauche ich einen Schnaps«, hörte sie sich sagen. Sie war überrascht über die gelungene Intonation. »Du auch?«
Der Mörder vom Schiffchenteich
Gisa Pauly
Juist ist in der Nacht verdammt dunkel. Und ich bin ganz allein. Weit und breit kein Mensch. Wenn ich ehrlich bin, fürchte ich mich ein bisschen im Dunkeln auf der Insel. Außerdem ist es viel zu spät, um irgendwo um Hilfe zu bitten. Die Restaurants sind geschlossen, sogar in der »Spelunke« ist schon alles dunkel. Und die schließt immer als Letzte. Es muss also schon weit nach Mitternacht sein. Irgendwie habe ich total mein Zeitgefühl verloren. Das passiert mir oft, wenn um mich herum etwas Aufwühlendes geschieht. Herbert bäuchlings im Schiffchenteich! Mein Herbert! Wenn das nicht aufwühlend ist! Mit dem Gesicht im Wasser! Und er rührt sich nicht mehr. So was von aufwühlend!
Mein geliebter Herbert! Wie konnte das passieren? Was soll ich nur ohne ihn machen? Und wie soll