Angela Eßer

Mords-Töwerland


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eine 23-jährige Tradition zu unterbrechen. Beim Eintreten machte sie sich bemerkbar und schritt durch die Räume. Jan schlief nirgends einen Rausch aus. Nichts Ungewöhnliches fiel ihr auch im oberen Stockwerk auf, sodass sie das Haus verließ und das Dienstrad wieder bestieg.

      Zurück ins Dorf strampelte sie gegen den Wind und traute ihren Augen nicht, als sie Imke entdeckte. Sie versuchte, mit dem Rollator über den Strandaufgang zum Meer zu gelangen. Tanja bremste mit quietschenden Reifen und wischte das Gesicht ab. Der Rollator mitsamt der alten Dame schwankte im Sturm gefährlich hin und her. »Imke! Warte!«, rief sie.

      Aber die Dame reagierte nicht. Innerlich fluchend stellte sie das Dienstrad ab und lief zu ihr. »Wo willst du denn hin?«, fragte Tanja sie.

      »Hier gehen wir immer spazieren, Jan und ich«, erwiderte sie verwirrt.

      »Weißt du was«, schlug Tanja vor. »Ich bringe dich heim, dann sehe ich am Strand nach.«

      Die Polizistin war sich nicht sicher, ob die alte Frau sie verstanden hatte. Deshalb hakte sie sich bei Imke Jacobs energisch unter und brachte sie nach Hause. Goss ihr noch einen Tee auf und machte sich auf den Weg zum Strand.

      Was sie dort aber vor sich sah, bedeutete noch mehr Arbeit. Sie rief Peter von der Freiwilligen Feuerwehr an, um ihm ein gestrandetes Motorboot zu melden.

      Im heulenden Sturm hatte das falsche Touristenpaar den Hafen erreicht. Die Leuchtanzeige der Fährgesellschaft war ausgefallen. Die Geschäftsstelle und das Hafenrestaurant waren geschlossen.

      »Zum Flugplatz?«, fragte Antje.

      »Schwachsinn!«, fluchte der Anführer. »Willst du etwa direkt in die Hölle fliegen bei dem Sturm?« Beide sahen, wie im Eiltempo Wolkengebilde über ihnen vorbeizogen, und gingen weiter.

      »Wir fragen bei der Touristeninformation nach«, beschloss der Anführer.

      Im Dorfkern begegneten sie niemandem in der Bahnhofstraße, wo sie vergeblich nach einem Bahnhof Ausschau hielten. Am Kurplatz herrschte auf den Parkbänken gähnende Leere. Sie passierten geschlossene Geschäfte. Hoffnung keimte beim Anführer auf, als er die Abbildung einer Currywurst in der Fensterscheibe von »Frankies Grillrestaurant« erspähte. Doch auch der Laden hatte an dem Samstagmorgen geschlossen. Direkt gegenüber trat aus dem »Friesenhof« gerade ein distinguierter Herr in perfekt sitzendem Anzug unter dem Mantel. Höflich stellte er sich ihnen als Herr Peters vor. Sie erkundigten sich nach dem Touristeninformationscenter, während der Wind sie durchrüttelte. Mit stoischem Lächeln, unbeeindruckt vom Sturm, deutete Peters mit ausgestrecktem Arm zum Rathaus auf der anderen Straßenseite.

      »Moin, die Töwercard schon bezahlt?«, grüßte die Angestellte des Informationscenters hinter der Theke.

      Antje brachte mit gespielter Aufregung ihr Anliegen vor. Sie fabulierte von ihrem Vater, der im Sterben liege, sodass sie dringend auf das Festland müsse.

      Die Angestellte bedauerte, ihr bei dem Unwetter nicht helfen zu können. »Aber andersherum wäre es kein Problem«, erklärte sie der vermeintlichen Touristin. »Bei einem Notfall ist in zehn Minuten der Rettungshubschrauber auf Juist. Einfach die 112 wählen. Das Wetter müsste nur etwas besser sein.«

      Antje bedankte sich für die Auskunft, versprach, die Bezahlung des Gästebeitrages nicht zu vergessen, und trat zurück auf die Straße. Der Anführer erwartete sie unter dem Dach einer Ladenpassage auf der anderen Seite.

      »Ich weiß, wie wir von der Drecksinsel kommen«, unterrichtete sie ihn. »Wenn der Wetterbericht stimmt, sind wir am Nachmittag in Holland.«

      Erleichtert über die Aussicht betraten sie eine Bäckerei und kauften für das Frühstück ein. Die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, nahm der Anführer von der appetitlich lächelnden Polin die Tüten entgegen. Auf dem Rückweg über den Kurplatz beobachteten sie eine Frau auf einem Fahrrad mit beachtlichem Tempo in die Wilhelmstraße einbiegen. Reflektierende Buchstaben prangten auf der Dienstjacke. Die beiden drehten sich ab. Der Anführer grinste Antje dreckig an. »Sag bloß, die haben Bullen auf der Insel? Ist doch ein Witz, oder?«

      Mit durchgeschwitzter Thermounterwäsche parkte die Polizeibeamtin das Fahrrad vor der Dienststelle. Im Flur knuddelte sie Emma und lief, ohne weiter Zeit zu verlieren, mit dem Spurensicherungskoffer zum Feuerwehrhaus. Peter und zwei seiner Kameraden erwarteten sie bereits. Peter saß am Steuer und brachte das Martinshorn zum Heulen. »Mach den Lärm aus«, sagte sie außer Puste. »Das Boot steht doch nicht in Flammen!«

      Als Stille einkehrte, hörten sie ein Kläffen und Bellen. Tanja ahnte, wer aus dem Haus gebüxt war und Einlass verlangte.

      Mit Emma auf ihrem Schoß rückte der Feuerwehrtransporter aus. Peter schaltete das Radio ein, sanfte Klänge eines Popsongs erfüllten den Fahrerraum, ehe der Sprecher für eine Sondermeldung das Programm unterbrach. »Nach Aufhebung der Nachrichtensperre wird jetzt öffentlich, dass Hannes Dengel, bekannt als deutsche Faust des kolumbianischen Drogenkartells, eine spektakuläre Flucht gelungen ist. Eine schwer bewaffnete paramilitärische Einheit von sechs Kämpfern hat am gestrigen Freitag den Justizwagen auf dem Weg von der JVA Celle zur Gerichtsverhandlung in Bremerhaven mit Waffengewalt gestoppt. Drei Justizvollzugsbeamte schweben nach dem Schusswechsel in Lebensgefahr. Mit einem Schnellboot gelang Dengel die Flucht über die Nordsee. Doch mit dem Aufkommen eines Sturms hatten die Gewalttäter nicht gerechnet. Die sieben Flüchtigen, inklusive des Schwerverbrechers, sind aller Wahrscheinlichkeit nach auf hoher See ertrunken. Wo das Boot und die Leichen ans Ufer gespült werden, kann bei der Wetterlage nicht vorhergesagt werden. Die Polizei bittet die Bevölkerung …«

      Mit nachdenklichem Gesicht schaltete Tanja das Radio aus.

      Kurz darauf fuhr Peter vorsichtig den Strandaufgang vor und parkte den Transporter. Emma sprang heraus und rannte los. Glücklich schnüffelte sie den Boden ab, während Tanja und die Feuerwehrleute rot-weiße Absperrgitter um das Motorboot stellten. Mit einem daran befestigten polizeilichen Absperrband war die Fundstelle ordentlich gesichert. Das Plastik flatterte und pfiff im Sturm, als sie das Polizeikommissariat Norden über den Fund informierte und per Handy Fotos schickte. Wie Tanja schon vermutete, der Rückruf eines diensthöheren Beamten ließ auf sich warten. Als die Kameraden von der Feuerwehr mit der Arbeit fertig waren, wäre sie am liebsten mit ihnen zurückgefahren. Doch Emma war wie vom Erdboden verschluckt. Weit und breit konnte sie die Hündin nicht entdecken. Wohl oder übel musste Tanja den Sicherungskoffer an Peter und seine Leute weitergeben. Sie verabschiedete die Helfer, wartete, bis der Motorenlärm verebbt war, und rief im Rauschen des Sturmes nach ihrem Border Collie.

      Die Hundedame war in den Dünen beschäftigt. Aufgeregt buddelte sie mit den Pfoten im Sand. Der Geruch, den sie wahrnahm, beflügelte sie. Wie von Sinnen grub und grub sie, weit weg von Frauchen, die nach ihr suchte. Keine Menschenseele spazierte am Strand, der in der Hochsaison Scharen von Touristen und Juistliebhabern anlockte. Unwirtlich zeigte sich der Polizeibeamtin die Heimat, die sie sich ausgesucht hatte. Die Hände in die Jacke vergraben, suchte und rief sie weiter nach Emma. Alles gäbe sie dafür, jetzt im Warmen zu sein, zu Hause einen ostfriesischen Tee zu trinken. Selbst für den Preis, das ganze Textbuch zu lernen.

      *

      Die vier Männer in der Gemeinschaftsdusche schnatterten in ihrer Muttersprache, bewunderten gegenseitig ihre Tattoos und teilten sich eine zurückgelassene Shampooflasche.

      Am Flur vor der Dusche hielt Carmen Wache. »Beeilt euch«, schrie sie auf Spanisch. »Wir sind nicht auf einer Ferienfahrt!«

      Dengel und Antje kehrten mit Frühstück und einem genialen Fluchtplan zurück. Beim Frühstück saßen alle sieben in einem der Säle an einem langen Tisch zusammen und gingen den Plan durch.

      »Ist mir zu unsicher«, sagte Carmen. »Boote gibt es genug, mit denen wir rüberkommen.«

      »Und uns abschießen lassen von der Marine?«, zischte Dengel mit vollem Mund. »Also, welcher von den Jungs sollte uns nach Rotterdam fliegen?«

      Carmen nickte zu einem der Männer, der keine Ahnung hatte, worüber gestritten wurde. Dengel grinste ihn an. »Guter Junge! Wenn der Sturm nachlässt, fliegst du uns mit dem Hubschrauber von dem Scheiß Inselkaff.«