Keine Zeugen!«
In Todesangst versuchte der Mann, sich zu befreien. Die Sportliche übersetzte im selben gehässigen Tonfall wie der Anführer ins Spanische. Augenblicklich stach der Kämpfer zu. Wie durch ein Stück Walseife drang die Messerscheide durch den Brustkorb des Mannes. Über sein Todesröcheln legte sich der schreiende Sturmwind.
*
»Jetzt brauch ich einen SCHNAPS.«
Die Intonation war Mist.
»JETZT brauch ich einen Schnaps.«
Auch Mist.
»Jetzt brauch ICH einen Schnaps.«
Erst recht Mist.
Die Frau in Jeans und Wolljacke warf das Textbuch auf den Wohnzimmertisch. Gleich darauf nahm sie es wieder an sich. Nervös überflogen die braunen Augen die markierten Stellen, die sie auswendig zu lernen hatte. Mist, alles Mist, der viele Dialog und überhaupt alles. In zwei Wochen war Premiere der Laientheatergruppe »Antjemöh« und sie stand zum ersten Mal in ihrem Leben auf der Bühne.
»Schnaps«, seufzte sie. »Ich brauch jetzt wirklich was.«
Tanja Krüger holte eine Flasche aus dem Schrank und stellte sich ans Fenster in ihrer Dienstwohnung. Draußen tobte ein Unwetter, wie sie es auf Juist noch nicht erlebt hat. Am Nachmittag hatte die Sonne noch freundlich auf die Insel geschienen, und sie beim Streifengang durch das Dorf den Reißverschluss der Dienstjacke geöffnet. Und jetzt herrschte draußen Weltuntergangsstimmung.
Der erste Februarmonat als Dienststellenleiterin hatte die einzige Polizeibeamtin auf Juist auf Trab gehalten. Die Dienstzeiten waren ziemlich klar geregelt. 24 Stunden täglich – mehr oder weniger. Schlägerei unter Frauen in der Dienstags-Yogagruppe. Ein Kutscher hatte Juists Straßen mit einer Formel-1-Rennstrecke verwechselt. Zugestellte Pakete hatten sich in Luft aufgelöst. Und da war ein Inselschüler, der im Supermarkt von einem Kumpel gefilmt wurde, wie er Zigaretten und Bierdosen klaute. Das dazugehörige Schulungsvideo für Kaufhausdiebe hatte sie auf YouTube vor dem Einschlafen im Bett entdeckt.
Sie hob die Flasche mit dem Wacholderbrand an die Lippen, merkte, wie ihr übel wurde, und verzichtete auf das Hochprozentige. Ein Blitzschlag ließ sie zusammenzucken.
Mittlerweile war es schon nach Mitternacht geworden. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen, entschied sie und fuhr ihrem Border Collie Emma durch das schwarz-weiße Fell. Die junge, verspielte Hündin folgte ihr bis zu den Treppen und jaulte beleidigt, als sie zurück ins Körbchen geschickt wurde.
*
Die sieben Gestrandeten waren am menschenleeren Strand unterwegs. Schwarze Kampfmaschinen, bewaffnet bis an die Zähne. Das unbrauchbare Motorboot trieb auf dem offenen Meer. Irgendwann und irgendwo würde es gefunden werden und die Welt sie für tot halten.
Flankiert von den beiden Frauen trabte der Anführer an der Spitze. Die Holländerin studierte auf dem Tablet die Umgebungskarte. Die einzige Daseinsberechtigung für das Schmuckstück von Nordseeinsel schienen die Vögel zu sein, die hier brüteten und unter Artenschutz standen. Sie hob die Hand, woraufhin die Männer dahinter stoppten. Alle waren durchfroren und hungrig, alle wollten aus den durchnässten Klamotten und Stiefeln und sehnten sich nach einem Bier und ein paar Stunden Schlaf.
Der Anführer blickte mit auf die Karte. In der Nähe befand sich das »Seeferienheim«, das aus mehreren Backsteingebäuden bestand und einer Kaserne ähnelte. Er wandte sich der Sportlichen zu: »Nimm zwei mit und spähe das Areal aus.«
Die Dreiergruppe trabte zum Strandweg vor. Der frei zugängliche Grund lag im Dunkeln, aus keinem der Fenster schien Licht.
In dem Ferienheim, las der Anführer auf dem Tablet, machten Schulklassen und Erwachsenengruppen Urlaub. 17 Kilometer Sandstrand, eine verdammte Naturidylle mit Meer drum herum, auf der sie gestrandet waren, fluchte er. Was ihn besonders störte, war der stolz vorgetragene Hinweis, dass die Insel autofrei sei. Er liebte motorisierte Fahrzeuge in jedweder Form.
Die Späher zeigten sich. Die Luft war rein. Die Truppe marschierte weiter. Als der Anführer zur Sportlichen aufschloss, informierte sie ihn, dass der Hausmeister sie entdeckt habe.
»So eine Scheiße!«, krakelte er. »Wehe, du hast das Problem nicht beseitigt!«
»Dafür werde ich doch bezahlt, oder?«, antwortete sie seelenruhig.
Er grinste zufrieden. »Weißt du was? Ich nenne dich Carmen, das passt zu dir«, sagte er und entschied: »Wir verbringen die Nacht dort.«
*
Am nächsten Morgen wütete das Unwetter unverändert weiter. Tanja Krüger saß vor einer Tasse Kaffee am Küchentisch. Die ersten dienstlichen Telefonate hatte sie hinter sich. Die Seenot berichtete, Thomas Koch, der das Monopol auf Buchhandlungen auf Juist innehatte, schlafend über einen Krimi in seinem Motorboot vor dem aufziehenden Sturm gerettet zu haben. Fährverbindungen waren bis auf Weiteres abgesagt. Der Flugverkehr war zum Erliegen gekommen. Die Handvoll Touristen, die sich in der Vorsaison auf der Insel aufhielt, waren dazu verdammt zu bleiben. Dieses Schicksal teilten sie jetzt mit den Insulanern.
Tanja war freiwillig gekommen. Nachdem sie sich auf der Insel umgesehen hatte, entschloss sie sich, in der Mitte ihres Lebens eine Weiche zu stellen. Seit einem halben Jahr war die Oberkommissarin der Arm der Gerechtigkeit auf Juist. Sie allein sorgte für Recht und Ordnung. Zwischen ihrem Hoheitsgebiet und dem Festland lag die unberechenbare Nordsee. Dass vom Festland und den umliegenden Inseln keine schnelle Hilfe zu erwarten war, sollte sich ein Vorfall ereignen, den sie nicht selbst regeln konnte, hatte sie inzwischen gelernt. Allen voran das Missgeschick verwirrter Kontinentalplatten namens Norderney.
Bei der zweiten Tasse Kaffee läutete das Telefon. An dem Samstag hatte sie offiziell keinen Dienst. Aber was hieß das schon. Rufbereitschaft nannte sich das, wenn sie keinen Dienst schob, aber arbeiten sollte. Imke Jacobs, eine aufgeregte ältere Insulanerin, war am Apparat. Tanja kannte sie von Abenden im Heimatverein und hörte sich ihr Anliegen an. Die Dame bemühte sich trotz ihrer Aufgeregtheit um ein verständliches Hochdeutsch.
»Jan?«, fragte Tanja nach. »Der Barmann aus der ›Spelunke‹?«
»Ja, genau, mein Sohn«, verfiel die ältere Dame ins Plattdeutsch. »Ich habe geläutet, er macht nicht auf.«
»Warst du denn im Haus?«
»Natürlich«, antwortete sie. »Ich weiß doch, wo der Schlüssel liegt. Aber oben war ich nicht, Treppen schaffe ich mit dem Rollator nicht.«
»Ist Jan vielleicht unterwegs?«, fragte sie aufs Geratewohl.
»Bei dem Sturm? Wo soll er da hin?«, erwiderte Imke. »Jan bringt mir freitags Brötchen. Immer. Jeden Freitag.« Die Dame überlegte. »Seit 23 Jahren.«
Tanja redete beruhigend auf die besorgte Mutter ein und versprach, bei Jan im Loog nach dem Rechten zu sehen.
Mit Thermounterwäsche und Wetterzeug bestieg sie das Dienstfahrrad. Auf der Billstraße nach Westen trieb sie Rückenwind an. Die Augen tränten. Den zwei Menschen, die ihr auf dem Dammweg entgegen kamen, schenkte sie in der Eile keine Beachtung.
Der Anführer und die Holländerin, die er auf den Namen Antje getauft hatte, waren zum Dorf unterwegs. Er fühlte sich pudelwohl in den Klamotten. Die Schirmmütze mit »Juist sehen und sterben«-Schriftzug war eine Zumutung, aber wichtig, um nicht erkannt zu werden. Die Jacke war etwas weit, die Ärmel etwas zu lang, aber alles in allem hatte er einen guten Fang gemacht. Antje hatte weniger Glück beim Durchstöbern der Kleidungsstücke, die von Urlaubern im Seeferienheim zurückgelassen oder vergessen wurden. Mit der zu engen Windjacke und den Jeanshosen kam sie sich sonderbar deutsch vor. Waffe und Messer lagen griffbereit in der Gürteltasche.
»Ich halte mich zurück, du redest«, wies er sie an. »Nicht, dass mich einer der Inselaffen erkennt.«
*
Die Polizistin hatte Jans Häuschen erreicht und läutete. Sie kannte ihn als flinken, trinkfreudigen, höflichen Barmann aus der »Spelunke«. Wie die verstörte Mutter gesagt hatte,