Und als Moeller dann versucht hatte, sein Saxophon und alles, was er an Aufnahmetechnik investiert hatte, als besondere Belastung anerkannt zu wissen, hatte der Kommissar seinen Ruf als Querulanten weg.
Auch wenn das natürlich niemand aussprach.
Im Dienstleistungszeitalter nannten selbst Ämter ihre Querulanten inzwischen Klienten. Zu deutsch: Kunden. Leider war Moeller an jenem Tag in einen Laden geraten, in dem es üblich war, nur zu bezahlen, aber nichts dafür zu bekommen.
"Sie fühlen sich also ungerecht behandelt", hatte ihn der Finanzbeamte - sicherlich auf zahlreichen Fortbildungen inzwischen psychologisch geschult - dann angesäuselt.
Wenigstens die Audiokassetten hatte Moeller schließlich durchsetzen wollen. "Damit hören wir Gangsterbosse ab", hatte Moeller behauptet. "Sie haben doch sicher die Debatte über den großen Lauschangriff verfolgt!"
"Und Sie wollen mir allen ernstes weismachen, dass die Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen dabei auf IHRE Kassetten angewiesen ist? Nee, nee, das ist Ihr Privatvergnügen, Herr Moeller."
Moeller hatte gedroht zu prozessieren, was er aus irgendeinem Grund dann aber doch nicht gemacht hatte.
Mann, Simitsch, musst du unbedingt einen Weg fahren, der so voll unguter Erinnerungen ist? dachte Moeller in diesem Augenblick.
Bevor sich die Gasstraße in Werdohler Straße umbenannte, bog Simitsch nach rechts ab.
Vorschriftsmäßig machte Simitsch das Licht an, bevor er in den Oberstadttunnel einfuhr. Dann ging es über die Staberger Straße weiter bis zum Bräucken-Kreuz, wo sich insgesamt fünf Straßen trafen.
Simitsch fuhr in die Bräuckenstraße, eine gut ausgebaute Hauptverkehrsader der Stadt. Nach etwa 800 Metern bog Simitschs Volvo nach links Richtung Wefelshohl. Anschließend gleich wieder nach rechts, vorbei an einem von Grünanlagen umgebenen Altenheim und einem Jugendheim.
Dann waren sie AM HEBBERG, einer Straße, die relativ steil hinaufführte und wenig von der Idylle der Altenwohnanlage aufwies.
Simitsch parkte den Volvo am Straßenrand. Sie stiegen aus.
Moeller blickte die trostlose Häuserzeile entlang. Die Farbe blätterte von den Wänden. Der letzte Anstrich musste schon Jahre zurückliegen. Ein Fenster war mit Spanplatte vernagelt.
Das entsprach nicht gerade Moellers Vorstellung von 'Schöner Wohnen'.
"Da ist es", sagte Simitsch, der auf seinem Zettel die Hausnummer nachschaute.
Die Tür stand offen. Im Flur roch es nach Urin. Sie stiegen die steile Treppe hinauf. Die PVC-Beschichtung der Stufen war ziemlich abgewetzt. An manchen Stellen kam der Untergrund zum Vorschein. Sarows wohnten im dritten Stock. Moeller schwitzte, als sie dort anlangten. Simitsch drückte auf die Klingel an der Tür. Der Knopf blieb stecken. Defekt.
Also klopfte er.
"Wer stört?", rief eine heisere Männerstimme.
"Kriminalpolizei!", sagte Moeller. "Wir wollen zu Herrn Ferdinand Sarow! Machen Sie bitte auf."
Polternde Schritte waren hinter der Tür zu hören. Eine Kette wurde gelöst. Und dann sprang die Tür auf. Ein riesiger Kerl stand da im Unterhemd. Er stank nach Erbrochenem und noch etwas anderem, zweifellos Alkoholischem. Moeller versuchte vergeblich zu erschnüffeln, ob es Maria Cron oder Wodka Gorbatschow war.
"Was wollen Sie von mir?", dröhnte der Mann akzentschwer.
Hinter ihm erschien eine kleine, etwas hilflos wirkende Frau in einem rosa Kittel.
"Von Ihnen gar nichts", sagte Moeller.
"Aber ich bin Ferdinand Sarow. Falsch geparkt habe ich nicht! Ich habe nämlich seit gestern kein Auto mehr!"
"Wir wollen zu Ihrem Sohn", sagte Moeller ruhig. "Der heißt doch auch Ferdinand, oder?"
"Was weiß ich, wie der heißt. Der ist ja so selten hier!", grunzte der Riese.
Kann ich verstehen, dachte Moeller. Aber er verkniff sich eine Bemerkung.
"Wenn Sie nichts dagegen haben, möchten wir uns gerne selbst überzeugen", erklärte Moeller so sachlich wie möglich. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, dass Simitsch unter seinem Jackett herumnestelte. Wahrscheinlich, um sich zu vergewissern, wo seine Dienstwaffe momentan ihren Sitz hatte. Dieser Angsthase, dachte Moeller.
"Vielleicht zeigen Sie mir erstmal Ihren Ausweis", grunzte Sarow. Er rülpste ungeniert. "Da kann ja jeder kommen..."
Moeller hielt ihm erst die Marke, dann den Ausweis unter die Nase.
Sarow runzelte die Stirn.
"Dass sind Sie, da auf dem Bild?"
"Ich kann es selbst kaum glauben!"
"Woll!"
"Jetzt lassen Sie uns bitte rein."
"Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl!"
Moeller fluchte innerlich. Die Leute sehen zu viele Fernsehkrimis, ging es ihm grimmig durch den Kopf. Zwei-dreimal pro Abend werden dem Ottonormalkriminellen seine Rechte vorgelesen, kein Wunder, dass er glaubt, er könnte sich alles herausnehmen!
Moeller atmete tief durch.
Simitsch öffnete den Mund zu einer hochoffiziellen und sehr korrekten Belehrung.
Sarow öffnete auch den Mund. Die Absicht war nicht ganz klar. Moeller hoffte, dass der Riesenkerl sich nicht gerade jetzt erbrechen musste.
Aber die kleine Frau im Hintergrund kam allen Anwesenden zuvor.
"Jetzt lass sie rein, Ferdi", sagte sie, noch akzentschwerer als ihr Mann. Der Tonfall war sehr bestimmt und erinnerte Moeller an den einer sowjetischen Volkskommissarin.
Jedenfalls machte ihr Mann den Weg frei. Er grunzte irgend etwas Unverständliches vor sich hin, aber das war auch schon alles, was er ihr an Widerstand entgegensetzte.
Die Waffen der Frauen, dachte Moeller sarkastisch.
Er ging als erster in die Wohnung.
Simitsch folgte und schien dabei vor allem die Sorge zu haben, dass sein gutes Jackett keinen Flecken bekam. Die Sorge war im übrigen nicht ganz unbegründet.
"Was hat er denn wieder ausgefressen, der Junge?", wandte sich die zierliche Frau an Moeller.
"Vielleicht gar nichts", erwiderte Moeller.
Simitsch sagte: "Moeller, das unterliegt dem Datenschutz. Der Gesuchte ist über achtzehn, du kannst seiner Mutter nicht einfach..."
"Ja, ja", sagte Moeller. Nervensäge, dachte er. Das Gesetz hatte seine Logik, der Datenschutz auch - und das Leben manchmal eben eine andere. Aber, weil Simitsch sich dieser Erkenntnis standhaft verschloss, waren seine dienstlichen Beurteilungen um Längen besser als die von Moeller und das wiederum würde dazu führen, dass Simitsch irgendwann auf der Karriereleiter an Moeller vorbeiziehen würde. Das stand so fest wie das Amen in der Kirche. Moeller wusste es, aber er hatte auch nicht vor, irgend etwas zu tun, um den Dingen einen anderen Verlauf zu geben.
Die Frau sah Moeller mit großen Augen an. Moeller wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht, die es irgendwie geschafft hatte, sich aus seinem Pferdeschwanz herauszustehlen.
Aus den Augenwinkeln heraus sah Moeller die zerfledderten Lüdenscheider Nachrichten auf dem Tisch. Der Brand bei Dörner war Thema Nummer eins. Die Bilder wirkten wie Werbeplakate für die digitalisierte Neufassung eines Films wie FLAMMENDES INFERNO.
"Es geht um die Sache bei Dörner. Sie werden davon gehört haben."
"Mein Sohn?" Ihr rutschten ein paar Worte auf Russisch heraus. Sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. "Ich habe es immer gewusst, es wird ein böses Ende nehmen. Alles wird ein böses Ende nehmen! Ich habe es immer gewusst! Hier gibt es keinen Gott nicht und keinen Glauben in diesem Land!"
Ihr