Wolfgang Armin Strauch

Der dicke Mann


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vom Garderobenständer. Mit ein paar Rempeleien an den voll besetzten Stehtischen gelangte er zur Tür. Ohne sich umzudrehen, stieß er sie auf, sprang die Treppe hinab und mischte sich unter die Passanten. Ein Pappschild mit einer Losung zum Nationalfeiertag versperrte die Sicht zur Gaststätte.

      Hatte ihn jemand verfolgt? Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte dabei, den Ausgang im Blick zu behalten. Die Frauen kamen heraus.

      Jadwiga drehte sich um. Hatte sie ihn doch gesehen oder bildete er sich das nur ein?

      Die Hände zitterten, das Herz schmerzte. Ihm wurde schwarz vor Augen. Sein starkes Übergewicht trieb den Blutdruck in die Höhe. Die Lunge schrie nach Sauerstoff. Gestützt an einem Straßenpoller versuchte er, sich zu beruhigen. Tief sog er die Luft ein, griff in seine Tasche und holte die Pipette mit dem Nitroglyzerin heraus. Nach einigen Tropfen normalisierte sich sein Zustand. Die Gedanken wurden wieder klarer.

      Der dicke Mann überlegte: Sollte er in eine der altertümlichen Gassen flüchten? Das hätte aber nur Sinn, wenn er nicht entdeckt worden war, denn sein Körpergewicht verhinderte jede schnelle Bewegung. Wegzulaufen löste das Problem nicht, das sich vor ihm wie eine dunkle Wand auftürmte.

      Es war Sonnabend, der 22. Juli 1967, Polens Nationalfeiertag. Überall auf der Straße gab es Buden mit Essen, Trinken und dem üblichen Touristenkitsch. Von Bühnen dröhnte Musik, die sich mit dem Gemurmel der Passanten vermischte. Bisher war nichts geschehen. Die beiden Frauen liefen langsam durch die Ulica Grodzka in Richtung Wawel. Der Mann taxierte seine Chancen. Falls sie ihn nicht gesehen hatten, blieb immer noch die Tatsache, dass zwei gefährliche Zeugen am Leben waren.

      Während er die Frauen in gehörigem Abstand verfolgte, suchte der dicke Mann die Umgebung nach Milizionären ab. Viele Leute waren auf der Straße. Sicherheitshalber blieb er am Schaufenster eines Juweliers stehen und beobachtete in den Spiegeln der Auslagen die vorbeilaufenden Passanten. Scheinbar hatte er keine Verfolger. Er beeilte sich, um die Frauen nicht aus dem Blick zu verlieren.

      Jadwiga war zwar modisch angezogen, doch bemerkte man ihr Alter am etwas schleppenden Gang. Eva steckte in einem festlichen Kostüm. Für seine Begriffe war es zu modern. Wollte sie mit den Studentinnen mithalten, die die Straßen belebten? Er bekam einige Zweifel. War sie das wirklich? Möglicherweise täuschte er sich. Doch die Statur und ihr Gang ließen seine Unsicherheit wanken.

      Bei Jadwiga war er sich sicher. Er könnte einfach weggehen. In Krakau kannte ihn niemand. Eine Suche wäre aussichtslos. Doch aus Eitelkeit hatte er einen Fehler begangen, der nicht mehr zu revidieren war. Bei der Besichtigung des Wawels hatte ihn nämlich jemand fotografiert und er war so unvorsichtig, seinen Namen zu nennen. Als ihm der Mann seine Karte reichte, begriff er den Fauxpas. Der Fotograf war von der „Trybuna Ludu“. Vielleicht würde sein Bild in der Zeitung landesweit abgedruckt. Das Risiko, dass ihn jemand erkannte, hatte er zunächst aber beiseitegeschoben. Jetzt war es anders. Aufgrund seiner Größe und Statur war er unverwechselbar.

      Krakau war voller Touristen. Doch er überragte die meisten Menschen. So fiel es ihm leicht, den beiden Frauen aus einigem Abstand zu folgen. Falls sie sich umsahen, gab es genügend Möglichkeiten, in einen Hauseingang zu schlüpfen. Außerdem dämmerte es. Er hatte noch keinen Plan, war sich aber sicher, dass er handeln würde.

      Der Aufstieg zum Wawel kam in Sicht. Die Frauen blieben stehen. Er gesellte sich zu einer Gruppe Passanten, die einem Akkordeonspieler zuhörten. Um nicht aufzufallen, griff er in die Tasche und warf dem Musiker eine Münze in den Hut. Dieser sah auf und bedankte sich bei ihm. Der dicke Mann hätte gern zugehört, doch er musste aufpassen, dass die beiden Frauen nicht aus seinem Gesichtsfeld verschwanden. Er konnte gerade noch sehen, wie sich Eva verabschiedete. Sie ging in Richtung Wawel, drehte sich dann aber noch einmal um und winkte der Begleiterin zu.

      Der Aufstieg zum Wawel bot keine Möglichkeiten zur Tarnung und war außerdem zu steil. Erst sah es so aus, als ob Jadwiga zum Markt zurückgehen würde, doch sie nahm den Weg in den Park, der die Altstadt umschloss. Einige Schritte hinter einem Restaurant bog sie ab, überquerte eine breite Straße und schwenkte schließlich in einen Durchgang zwischen zwei Häusern. Er war schmal und reichte knapp für eine Person. Kletterpflanzen wucherten an den Wänden und schienen die Frau zu verschlucken.

      Der dicke Mann befürchtete, dass er sie verloren hatte, doch auf Höhe des Eingangs erkannte er ihre Statur im Gegenlicht einer Straßenlaterne, die gerade zündete. Noch flackernd zögerte sie, ihre Strahlen auf die Straße zu werfen. Die Dämmerung ließ alles schemenhaft erscheinen. Im spärlichen Restlicht des Tages sah er die Kontur der Frau. Er beeilte sich. Bevor sie ins Licht treten konnte, flüsterte er: „Jadwiga!“

      Die Frau drehte sich um. Die Verzögerung reichte. Seine kräftigen Hände schlangen sich um ihren Hals. Sie versuchte, den Griff zu lösen, schlug mit den Armen um sich, kratzte ihn und strampelte mit den Beinen. Doch sie hatte keine Chance. In ihren Augen spiegelte sich Entsetzen.

      Sein fetter Körper presste sie gegen die Wand. Die Blätter der Kletterpflanze raschelten. Seine Daumen zerbrachen die empfindlichen Strukturen des Zungenbeins. Noch einmal verstärkte er den Druck. All sein Hass brach in diesem Moment aus ihm heraus. Die Frau war bereits tot.

      Der Angreifer löste seine Hände. Ein Rest Luft entwich mit einem Röcheln aus der Lunge. Der Mund hatte sich leicht geöffnet. Der Hilfeschrei blieb lautlos. Das Gehirn hatte schon die Arbeit eingestellt. Der Zerfall des Körpers setzte bereits ein.

      Es war vollbracht. Erst jetzt nahm der Mann die tiefen Falten in ihrem Gesicht wahr. Etwas Schminke und Lippenstift versuchten, das Alter zu verbergen. Er bemerkte den Duft des deutschen Parfüms „Kölnisch Wasser 4711“, das auch seine Frau benutzte. Wie ein Sack fiel Jadwiga zu Boden. Skurril verdrehten sich die Beine. Der dicke Mann stieß mit den Füßen gegen das Gesicht, dessen offene Augen ihn anglotzten. Er riss ihr die Kette mit einem großen Bernstein vom Hals und hob ihre Tasche auf. Die Beute schob er unter sein Jackett. Es war wie ein Rausch.

      Nun erst dachte er an mögliche Zeugen und einen Fluchtweg. Er sah sich um. Hinter sich auf der Straße huschten ab und zu Passanten vorbei. Dass sie ihn sahen, war unwahrscheinlich. Er stand im Dunkeln. Als ein LKW vorbeifuhr, trat er auf den Gehweg. Nur kurz sah er zurück. Die Gasse verbarg den Tatort. Nichts verriet, dass er gerade einen Menschen getötet hatte.

      Nach etwa zweihundert Metern setzte er sich auf eine Bank. Wie beiläufig prüfte er die Umgebung. Dann durchsuchte er die Tasche. Er entnahm ihr die Geldbörse, einen Ausweis und den Wohnungsschlüssel. Den Rest warf er in den Papierkorb. Die Kette steckte er in die Jackentasche. Es war seine Trophäe. Sie würde ihn an den Sieg über die Vergangenheit erinnern.

      Zehn Minuten später saß er wieder im Restaurant. Sein Glas war gefüllt. Er stand auf und stieß mit seinen Bekannten an. Mehrere Runden Wodka bestellte er auf seine Rechnung. Dann bezahlte er und ging. Die Unterkunft war nicht weit entfernt. Trotz des Alkohols fühlte er sich fit. Auf den Armen waren einige Kratzer von Jadwigas Fingernägeln. Im Halbschlaf dachte er an Eva.

      2. Kapitel

      Der Anruf kam um 02: 00 Uhr. Mühsam drehte sich Andrzej Mazur zur Seite, um das nervige Klingeln zu beenden. Der Diensthabende der Miliz meldete den Mord an einer älteren Frau. Der Tatort sei in der Innenstadt und bereits abgesichert. Gerichtsmediziner und Kriminaltechnik waren informiert.

      Während er sich anzog, tauchte seine Mutter auf. Ihr feines Gehör hatte sie geweckt.

      „Musst du los?“

      „Ja. Pack mir bitte noch ein paar Brote ein! Ich weiß nicht, wie lange es dauert.“

      Er rasierte sich, um halbwegs zivilisiert zu wirken. Sein Hemd war frisch gebügelt und eine passende Krawatte hatte seine Mutter bereitgelegt. Statt das Jackett anzuziehen, nahm er die Lederjacke vom Haken. Auf dem Motorrad war sie praktischer. Im Dienstzimmer würde er sich umziehen.

      Dann steckte er Brote und eine Thermoskanne in die Aktentasche. Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete er sich von ihr und verschwand im Hausflur. Von einer kleinen Erbschaft hatte er ein tschechisches Motorrad gekauft. Die „350er Jawa“ war weinrot. Chromteile spiegelten die Straßenbeleuchtung. Beim ersten Tritt sprang der Motor an. Kraftvoll