Wolfgang Armin Strauch

Der dicke Mann


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tut mir leid.“

      Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen.

      „Ihr Großvater ist heute in den frühen Morgenstunden verstorben. Es sieht wie ein natürlicher Todesfall aus.“

      Mazur versuchte, möglichst sachlich den Ablauf der Ereignisse zu schildern. Sie verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen. Im Radio lief Chopin.

      Der Streifenwagen brachte Mazur und Alina Klimek zum Krankenhaus. Er setzte sich zu ihr auf die Rückbank. Den ganzen Weg über blieb sie stumm.

      Der alte Mann lag noch auf dem Seziertisch, da die Obduktion gerade erst abgeschlossen war. Der Tote wirkte entspannt.

      „Soll ich Sie mit ihm etwas allein lassen?“

      „Nein, ich möchte bitte gehen.“

      Alina weinte nicht.

      „Jetzt bin ich allein. Ich habe keine weiteren Verwandten.“

      Mazur verkrampfte sich das Herz. Als letztes Jahr sein Vater verstarb, hatte er eine tiefe Trauer gespürt. Es war diese Leere, die zurückbleibt, wenn die Worte fehlen, das Unsagbare zu beschreiben, und sinnlose Fragen das Hirn beschäftigen.

      Seine Mutter war nicht in der Lage, ihn zu trösten, da sie mit sich selbst beschäftigt war. Sein Motorrad hatte ihn auf andere Gedanken gebracht. Er fuhr mit der Jawa Hunderte Kilometer bis zur Ostsee, um sich am Strand von Sopot in den Sand zu legen und in den Nachthimmel zu blicken.

      Am Morgen weckte ihn eine Möwe, die seine Mütze nach Futter durchsuchte. Hohe Wellen hatten in der Nacht Algen sowie allerlei Unrat an den Strand gespült. Das Meer tat jetzt unschuldig und der Himmel versprach einen schönen Sommertag. Bernsteinsammler liefen vorbei. Sie hofften auf Beute. Einige Urlauber hatten sich ins Wasser gewagt. Es war wie eine andere Welt, in die er eingetaucht war. Er fühlte sich befreit. Wieder zu Hause stellte er fest, dass Mutter seine Abwesenheit nicht bemerkt hatte. Damals fühlte er sich schuldig, sie allein gelassen zu haben.

      Alina Klimek hatte sich im langen Flur des Krankenhauses auf eine Bank gesetzt und starrte ins Leere.

      Mazur fragte: „Darf ich Ihnen helfen? Es gibt Psychologen, die in solchen Fällen …“

      Sie winkte ab. „Danke, es geht schon.“

      Er brachte sie ins Wohnheim und bat ihre Mitbewohnerin, auf sie achtzugeben. Zum Abschied gab er Alina die Hand, die sie etwas zu lange festhielt. Sie sah zu ihm auf.

      Der Kommissar in ihm sagte: „Ich werde mich morgen bei Ihnen melden. Es müssen einige Formalitäten erledigt werden.“

      „Na dann, bis morgen!“

      Im Hausflur hatte er Zweifel, sie allein zu lassen. Dann hörte er Klaviermusik. Es war ein ruhiges Stück, dessen Komponist er nicht kannte.

      Am nächsten Morgen traf er bereits um sechs Uhr auf der Dienststelle ein. Er hatte einen Bericht vorzulegen. Doch was sollte er schreiben? Ein Raubmord kam für ihn wegen der Brutalität und der geringen Beute nicht infrage. Es musste eine Beziehungstat sein. Sein Chef war der Ansicht, dass Tadeusz Klimek seine Schwester im Delirium umgebracht hatte. Diese Version passte aber nicht mit der Spur des Fährtenhundes und dem Ergebnis der Obduktion zusammen.

      Klimek war körperlich kaum belastbar. Die Frau hatte sich gewehrt. Bei ihrem Bruder fanden sich bei der Obduktion keine Verletzungen. Er passte nicht ins Bild. Warum sollte er extra in die Gasse gelaufen sein, um sie umzubringen? Volltrunken zu warten, bis sie kommt? Außerdem fehlte ein handfestes Motiv. Wegen der Wohnung konnte es nicht sein, denn die erbte seine Enkelin, mit der er sich zerstritten hatte.

      Mazur brachte seine Einwände vor. Sie waren für ihn stichhaltig. Doch die Vorgesetzten in Krakau drangen auf einen schnellen Ermittlungserfolg. Angeblich hatte Warschau einen Bericht abgefordert.

      Der Vorabbericht, in dem Klimek als möglicher Täter genannt wurde, kam dort überhaupt nicht gut an. Ermittlungen gegen einen ehemaligen Offizier waren stets kritisch. Es war zu befürchten, dass das Innenministerium den Fall an sich zöge, um politischen Schaden zu vermeiden. Die Folge wäre womöglich, dass mit den Särgen auch die Wahrheit begraben wurde und der wahre Täter straffrei bliebe.

      Mazur hatte keine andere Wahl. Er wollte die Fäden in der Hand zu behalten. Für Alina wollte er den Fall lösen. Immer öfter ließ er den Nachnamen weg, wenn er an sie dachte.

      Die Ermittlungen drehten sich im Kreis. Die Tasche der Toten wurde sichergestellt. Sie lag in der Nähe des Papierkorbes, den der Hund angezeigt hatte. Am Fundort fanden sich einige weitere Utensilien. Kamm, Lippenstift und eine kleine Flasche „Kölnisch Wasser 4711“ trugen die Fingerabdrücke der Toten. Geldbörse und Schlüssel fehlten. Auf der Schließe war allerdings ein halber Daumenabdruck, der sich nicht zuordnen ließ.

      Alina hatte gesagt, dass das Opfer eine Goldkette mit einem Bernstein getragen hatte. Da sie nicht gefunden wurde, hatte man bei Schmuckhändlern nachgefragt. Selbst einschlägige Hehler wurden aufgesucht. Alle bestritten, passende Angebote bekommen zu haben. Schmuck aus einem Mordfall war zu heiß. Mazur musste noch einmal die Wohnung aufsuchen. Möglicherweise hatte man etwas übersehen. Er hatte einen Durchsuchungsbefehl für die gesamte Wohnung, wollte aber Alina dabeihaben.

      Sie öffnete die Tür in T-Shirt und Jeans. Ihr Studentenzimmer war unaufgeräumt, wofür sie sich gleich entschuldigte.

      „Wissen Sie, ich musste irgendetwas tun und habe daraufhin angefangen, meine Sachen zu sortieren. Aber bei jedem Gegenstand fallen mir immer Dinge aus der Vergangenheit ein. Irgendwann habe ich aufgegeben. Übermorgen ist Projektabschluss und ich habe noch nicht eine Seite vom Abschlussbericht geschrieben. Wenn das Jadwiga wissen würde.“

      Sie stockte. Jadwiga war tot. Sie würde es nie erfahren. Tränen liefen über ihr Gesicht.

      „Ich wollte unbedingt Geschichte studieren, weil sie es nicht durfte. Sie hatte so große Hoffnungen in mich gesetzt.“

      Mazur zögerte erst, aber er durfte keine Rücksicht nehmen.

      „Alina, wir müssen noch einmal in die Wohnung.“

      Sie schaute ihn an. Sie hatte gemerkt, dass er zum Du übergegangen war. Es war ihr recht.

      „Muss das wirklich sein?“

      „Wir haben immer noch nicht den Mörder gefunden. Ich möchte ausschließen, dass es dein Großvater war.“

      „Wird er denn verdächtigt?“

      Mazur informierte sie über die bisher bekannten Informationen zu ihrem Großvater. Alina hörte aufmerksam zu.

      „Ich kann es mir nicht vorstellen. Er hat es nicht einmal geschafft, die Kohlen aus dem Keller zu holen. Es stimmt schon, dass er laut war und viel getrunken hat. Aber Mord …“

      Mazur befürchtete, dass er ihr Vertrauen verloren hatte. Doch sie reagierte anders.

      „Ich werde dir helfen.“

      Sie schaute auf. „Ich habe auch noch so viele offene Fragen.“

      Mit dem Dienstwagen fuhren sie zur Wohnung der Toten. Unterwegs teilte Mazur ihr mit, dass ein Testament gefunden wurde, in dem sie als Alleinerbin eingesetzt war.

      „Ich wusste es. Sie hatte es aufgesetzt, als ich ausgezogen bin. Die Wohnung war das einzige Druckmittel gegen meinen Großvater. Als ich klein war, hatte er immer gedroht, mich in ein Heim zu geben. Das wollte sie auf keinen Fall.“

      Sie machte eine Pause, ehe sie weitersprach.

      „Ich habe viele Streitereien der beiden angehört. Aber er hat sie nie geschlagen. Es begann meistens damit, dass er mit seinen Kriegserlebnissen prahlte. Jadwiga konnte das nicht ertragen. Obwohl sie sonst eher still war, meinte sie dann oft, dass die polnische Armee die Zivilisten 1939 schutzlos zurückgelassen habe. Erst unter Stalin sei er wieder vorgekrochen. Er habe im beheizten Zelt gesessen, als sie in Auschwitz fast erfroren sei. Mein Großvater begann dann immer zu brüllen und verwies auf seine angeblichen Heldentaten. Am Ende zogen sie sich jeweils in ihr Zimmer zurück.“

      Alina