Kollegen hatten Mazur den Spitznamen „Jawa“ verpasst. Er wehrte sich nicht dagegen. Vielleicht war er sogar etwas stolz darauf. Ihn regte eher die Überheblichkeit einiger altgedienter Milizionäre auf, die ihn mit seinen achtundzwanzig Jahren immer noch als Frischling ansahen. Dabei besaß er einen Hochschulabschluss und war bereits in bedeutende Fälle einbezogen worden. Dass er jetzt zu einem Mord gerufen wurde, war allerdings der Tatsache geschuldet, dass am Sonntag nach dem Feiertag viele Kollegen freihatten. Es war ihm recht. Mord ist Mord.
Der Tatort war leicht abzusichern, da die schmale Gasse lediglich zwei Zugänge hatte. Die Streife hatte einige Böcke der nahen Baustelle dazu genutzt. Zusätzlich standen Milizionäre auf beiden Seiten. Scheinwerfer beleuchteten den Tatort. Kriminaltechniker suchten alles nach Spuren ab. Angesichts des Schotterwegs, der unverputzten Hauswände und der Kletterpflanzen schien die Mühe aber sinnlos zu sein. Trotzdem prüften sie Zentimeter für Zentimeter. Der Gerichtsmediziner wartete bereits.
Das Opfer war eine ca. 50-jährige gepflegt wirkende Frau mit ausgesprochen stark ausgeprägten Würgemale am Hals. Weitere Verletzungen zeigten sich im Gesicht und am Oberkörper. Abgebrochene Fingernägel sowie Hämatome an Armen und Beinen wiesen darauf hin, dass sich das Opfer gewehrt hatte. Dr. Zeman schloss für den Moment ein Sexualdelikt aus. Er beugte sich über das Gesicht der Leiche.
„Riechen Sie das? Ich würde sagen, es ist ‚Kölnisch Wasser 4711‘.“
Auch Mazur vernahm den süßlichen Duft, doch mit Parfüm kannte er sich nicht aus.
Ein Krankenwagen stand am Straßenrand. Rettungshelfer kümmerten sich um einen Mann, der sichtbar nach Luft rang. Er hatte die tote Frau entdeckt.
Mazur ließ sich die Angaben zu Zeitpunkt und Fundort bestätigen. Da keine Papiere bei der Leiche gefunden wurden, bat er den Zeugen, einen Blick auf die Leiche zu werfen.
„Es ist Jadwiga Klimek aus der 32.“
Bei der Nummer 32 handelte es sich um ein dreigeschossiges altes Bürgerhaus mit einem kleinen Portal und einer riesigen Tür, die mit Elementen des Jugendstils umrahmt war. Das verschnörkelte Klingelbrett war aus Messing. Das Opfer wohnte in der zweiten Etage. Erst nach langem Klingeln öffnete sich ein Fenster. Ein angetrunkener Mann brüllte unverständliche Worte auf die Straße. Als Mazur trotzdem noch einmal klingelte, meldete sich jemand aus der Erdgeschoßwohnung.
„Klimek ist besoffen. Versuchen Sie es morgen Mittag. Vielleicht ist er dann wieder klar.“
Mazur ließ nicht locker und rief: „Wir sind von der Miliz und müssen Herrn Klimek unbedingt sprechen. Bitte öffnen Sie die Tür!“
Der Nachbar öffnete die Haustür. „Ist etwas passiert?“
Der Kriminalist sowie zwei uniformierte Milizionäre betraten das Haus.
„Wann haben Sie Frau Klimek das letzte Mal gesehen?“
Der Nachbar zögerte.
„Ich weiß nicht. Vielleicht gestern Nachmittag.“
Nach langem Klopfen und Klingeln öffnete sich die Tür der Wohnung, in der Opfer gelebt hatte, einen Spalt.
„Was wollen Sie?“
Mazur zeigte seinen Ausweis. „Wir sind von der Miliz, Herr Klimek. Es geht um Ihre Schwester.“
Der Mann glotzte ihn an, als käme er aus einer anderen Welt. Er stank nach Alkohol und Urin. Sein Nachthemd war mit Erbrochenem bekleckert.
„Was soll das? Lasst mich in Ruhe, ihr Hunde!“
Ohne abzuwarten, schob sich Mazur an Klimek vorbei in die Wohnung.
„Wann haben Sie ihre Schwester das letzte Mal gesehen?“
„Weiß ich nicht. Wenn sie nicht im Zimmer ist, ist sie nicht da.“
Er wies auf eine Tür. Sie war verschlossen. Klimek behauptete, keinen Schlüssel zu haben. Mit etwas Gewalt gelang es einem Milizionär, die Tür zu öffnen. Das Zimmer war sehr ordentlich. Ein Bücherregal dominierte den Raum. An den Wänden hingen einige Familienfotos. Mazur suchte nach Ausweisen oder sonstigen Papieren für eine Identifizierung. In einem Schubfach fand sich ein Betriebsausweis mit Lichtbild. Das Opfer war Jadwiga Klimek.
Eine Befragung ihres Bruders hatte keinen Sinn. Der Kriminalist legte eine Visitenkarte auf den Tisch, auf der er einen Termin für 13: 00 Uhr vermerkte.
Die Kriminaltechnik und der Gerichtsmediziner hatten nichts Überraschendes zu berichten. So schrieb Mazur einen Kurzbericht für seinen Chef. Auf dem Deckblatt stand „Mordsache Jadwiga Klimek“.
Gegen acht Uhr wurde er zu seinem Chef gerufen, der ihn zum bisherigen Ermittlungsstand befragte. Angesichts der großen Brutalität vermutete Mazur eine Beziehungstat. Wäre es ein Raub, hätte der Täter die Tasche gegriffen und das Weite gesucht. Erdrosseln ist allerdings eine andere Kategorie: Man kommt dem Opfer sehr nah und es besteht immer die Gefahr, dass es um Hilfe ruft und sich massiv wehrt.
Der Täter war offensichtlich körperlich überlegen. Dafür sprachen die intensiven Würgemale. Die Hände hatten in der Haut große tiefblaue Spuren hinterlassen. Eine Sexualstraftat hatte der Gerichtsmediziner sicher ausgeschlossen. Wie erwartet, fanden sich am Tatort keine Fingerabdrücke oder Fußspuren.
„Kommt der Bruder des Opfers für die Tat infrage?“
„Auszuschließen ist es nicht. Er war volltrunken. Für 13: 00 Uhr ist eine Befragung geplant.“
Der Chef übertrug Mazur offiziell den Mordfall. Drei Leute standen ihm als Mordkommission zur Verfügung. Hinzu kamen Milizionäre, die für das Stadtviertel zuständig waren. Unter ihnen befand sich Adam Krawczyk, der bereits mit seinen Kollegen die Befragung der Nachbarn aufgenommen hatte. Da die Tote keine Tasche bei sich hatte und der Schlüssel unauffindbar war, suchten die Einsatzkräfte die Umgebung ab. Sonntag früh waren wenige Passanten unterwegs, daher sah Mazur gute Chancen für den Einsatz eines Fährtenhundes.
Die Befragung der Nachbarn ergab nur, dass Frau Klimek in der Bibliothek der Universität arbeitete. Für die meisten war sie die nette Schwester eines ehemaligen Offiziers, der ständig betrunken war.
Über die Universitätsleitung erhielt die Mordkommission Einsicht in die Personalakte. Jadwiga Klimek hatte bereits vor dem Krieg in der Bibliothek gearbeitet. Laut einer amtlichen Bescheinigung war sie von der Gestapo 1944 festgenommen worden. Sie gehörte zu den Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Nach dem Krieg bekam sie ihre alte Arbeit in der Bibliothek wieder. Die Beurteilungen schilderten sie als fleißig, freundlich und zuvorkommend. Ursprünglich kam sie aus einem kleinen Ort bei Graudenz, lebte aber seit den 30er-Jahren in Krakau unter der gleichen Adresse. Die Wohnung hatte sie von einer Tante geerbt.
Zu ihrem Bruder Tadeusz Klimek fanden sich im Archiv der Miliz einige Einträge. Vor dem Krieg war er bei den Stadtverwaltungen in Graudenz und in Krakau tätig. 1939 wurde er zur polnischen Armee eingezogen. Nach der Niederlage Polens lebte er in der Sowjetunion. Über diese Zeit waren keine Unterlagen auffindbar. Ab 1943 gehörte er als Offizier zur 1. polnischen Armee. Unter Divisionsgeneral Stanisław Popławski nahm er an einigen Schlachten teil. Nach dem Krieg arbeitete er im Bauamt der Stadt Krakau, wurde aber aufgrund einer Kriegsverletzung 1963 invalidisiert. Ein Gesprächsprotokoll ließ darauf schließen, dass Alkoholismus der eigentliche Grund seiner Entlassung war.
In der Stadtverwaltung fand sich ein Beleg, wonach er Erziehungsberechtigter für seine Enkelin Alina Klimek war, die aber nicht mehr hier wohnte. Im Archiv der Miliz gab es zahlreiche Beschwerden wegen Ruhestörung. Mehrfach hatte er unter Alkohol Nachbarn beleidigt. Es kam zu Gewalttätigkeiten, in deren Ergebnis er zu Geldstrafen verurteilt wurde.
Gegen 10: 00 Uhr kam der Fährtenhund. Mazur setzte große Hoffnungen auf „Alex“. Der Hund nahm am Tatort die Spur auf, stoppte kurz an der Nr. 32, bewegte sich aber weiter. An einer Parkbank schnüffelte er am Papierkorb. Über einige Umwege landeten sie in die Nähe der Marienkirche am Marktplatz. Dort verlief sich die Spur. Um sicherzugehen, kehrte der Hundeführer an den Tatort zurück und führte ihn zur anderen Seite der Gasse. Von hier aus lief