Jürgen Herres

Friedrich Engels


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und Zeitungen. Immer wieder kündigte er an, „der journalistischen Tätigkeit die allerengsten Grenzen ziehn“ zu wollen, um nicht weiter die „milchende Kuh“ – heute würde man sagen: die eierlegende Wollmilchsau – der sozialdemokratischen Partei und Presse zu sein.14 Die Bandbreite der Themen, die er während seines Lebens bearbeitete, war bemerkenswert breit; sie reichte von politischen, ökonomischen und zeitgeschichtlichen Themen bis hin zu sprachgeschichtlichen, philosophischen und naturgeschichtlichen. Dabei war Europa für ihn Ereignis-, Wahrnehmungs- und Denk-Raum.

      Wenn wir einen genaueren Blick auf Engels’ Liste werfen, so sehen wir einen westeuropäischen Gesellschaftskritiker, der sich intensiv mit den dramatischen Umbrüchen seiner Zeit auseinandersetzte. Als junger Republikaner und Kommunist, der Industrialisierung aus eigener Anschauung kannte, wollte er die im Wandel begriffene Welt neu sehen und erklären. Den Begriff „Revolution“ verwendet er als Beschreibungskategorie für die erlebbaren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, aber zugleich drückte sich in ihm sein politisches Konzept der Beschleunigung sowie die Perspektivierung der Zukunft aus. Die Revolution von 1848/49 war die einzige wirklich europäische Revolution, die Engels miterlebte und deren Scheitern ihn wie seine Zeitgenossen tief prägte. Der geflüchtete Achtundvierziger, der in den 1850er und 1860er Jahren als Angestellter und dann als Teilhaber eines Textilunternehmens in Manchester tätig war, konnte nur in seiner knappen Freizeit publizistisch tätig sein. Mit seinem Rückzug aus dem Berufsleben im Jahre 1869 begann sein zweiter Frühling als Publizist und Privatgelehrter. Nach Marx’ Tod 1883 wurde er zudem zum Spin-Doctor der europäischen Sozialdemokratie. Es gelang ihm, die Erwartung am Leben zu halten, Marx (und er) habe die DNA der modernen Gesellschaft entschlüsselt. Wir sehen einen Sozial- und Gesellschaftskritiker, der vielschichtiger war, als er im 20. Jahrhundert dargestellt wurde, aber auch widersprüchlicher.

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      Carl Wilhelm Hübner, Die schlesischen Weber, 1846.

       Friedrich Engels schrieb über das 1844 in Berlin, Köln und Halberstadt ausgestellte Gemälde von Hübner:

      „Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit ein Bild von Hübner, einem der besten deutschen Maler, erwähnen, das wirksamer für den Sozialismus agitiert hat als 100 Flugschriften. Es zeigt einige schlesische Weber, die einem Fabrikanten gewebtes Leinen bringen, und stellt sehr eindrucksvoll dem kaltherzigen Reichtum auf der einen Seite die verzweifelte Armut auf der anderen gegenüber. Der gut genährte Fabrikant wird mit einem Gesicht, rot und gefühllos wie Erz, dargestellt, wie er ein Stück Leinen, das der Frau gehört, zurückweist; die Frau, die keine Möglichkeit sieht, den Stoff zu verkaufen, sinkt in sich zusammen und wird ohnmächtig, umgeben von ihren zwei kleinen Kindern und kaum aufrecht gehalten von einem alten Mann; ein Angestellter prüft ein Stück, auf das sein Eigentümer in schmerzlicher Besorgnis auf das Ergebnis wartet; ein junger Mann zeigt seiner verzagten Mutter den kärglichen Lohn, den er für seine Arbeit bekommen hat; ein alter Mann, ein Mädchen und ein Knabe sitzen auf einer Steinbank und warten, daß sie an die Reihe kommen; und zwei Männer, jeder mit einem Packen zurückgewiesenen Stoffes auf dem Rücken, verlassen gerade den Raum, einer von ihnen ballt voll Wut die Faust, während der andre die Hand auf des Nachbarn Arm legt und zum Himmel zeigt, als ob er sagt: Sei ruhig, es gibt einen Richter, der ihn strafen wird. Die ganze Szene spielt sich in einem kalt und ungemütlich aussehenden Vorsaal mit Steinfußboden ab; nur der Fabrikant steht auf einem Stück Teppich, während sich auf der anderen Seite des Gemäldes, hinter einer Barriere ein Ausblick in ein luxuriös eingerichtetes Kontor mit herrlichen Gardinen und Spiegeln öffnet, wo einige Angestellte schreiben, unberührt von dem was hinter ihnen vorgeht, und wo der Sohn des Fabrikanten, ein junger Geck, sich auf die Barriere lehnt, eine Reitgerte in der Hand, eine Zigarre raucht und die unglücklichen Weber kühl betrachtet. Dieses Gemälde ist in mehreren Städten Deutschlands ausgestellt worden und hat verständlicherweise so manches Gemüt für soziale Ideen empfänglich gemacht.“ Friedrich Engels, ‚Rascher Fortschritt des Kommunismus in Deutschland‘, ursprünglich in The New Moral World vom 13. Dezember 1844, deutsche Übersetzung nach MEW Bd. 2, S. 510f.

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      Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, gegen Bruno Bauer & Consorten, Frankfurt am Main, Literarische Anstalt, Februar 1845.

       IN ERWARTUNG EINER „REVOLUTION“

      Engels, ältester Sohn eines tatkräftigen gleichnamigen Barmer Textilindustriellen im Wuppertal, dem „deutschen Manchester“, kannte die industrielle Revolution und ihre Folgen aus eigener Anschauung. Im britischen Manchester, einem der ersten Industriezentren der Welt, in dem Dampfk raft und Maschinerie längst die Produktion revolutionierten, vollendete er von 1842 bis 1844 seine kaufmännische Ausbildung und radikalisierte sich vom demokratischen Republikaner zum Kommunisten. Mit seinem Aufsatz Umrisse zu einer Kritik der Nationaloekonomie, der 1844 in den von Arnold Ruge und Marx in Paris redigierten Deutsch-französischen Jahrbüchern15 erschien und Marx stark beeindruckte, wurde er zum ersten Repräsentanten der deutschen philosophischen Linken, der die Diskussion auf das Feld der politischen Ökonomie brachte und der auf die durch das Privateigentum hervorgerufenen Widersprüche aufmerksam machte.16

      Ausgerechnet dieser Aufsatz fehlt in Engels’ Liste. Sie setzt vielmehr mit dem Buch Die heilige Familie ein, der ersten Schrift, die er 1845 gemeinsam mit Marx veröff entlichte, an der er selbst jedoch nur geringen Anteil hatte. Das im Handwörterbuch gedruckte Schriftenverzeichnis, das gegenüber der handschriftlichen Liste einige Ergänzungen enthält, verwies allerdings auf den kurz zuvor – anlässlich des 70. Geburtstags von Engels – erfolgten Wiederabdrucks in der sozialdemokratischen Zeitschrift Die Neue Zeit.17

      Engels in Manchester und Marx in Paris hatten eine ähnliche intellektuelle Wandlung vollzogen. Als sie 1844 zunächst briefl ich in Kontakt traten und sich dann zehn Sommertage lang in Paris trafen, sahen beide im Sozialismus und Kommunismus ihre gesellschaftsverändernde Perspektive. In den Mittelpunkt ihres Denkens begann „die moderne bürgerliche Gesellschaft“ zu rücken, „die Gesellschaft der Industrie, der allgemeinen Concurrenz, der frei ihre Zwecke verfolgenden Privatinteressen, der Anarchie, der sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Individualität“, wie Marx in der Heiligen Familie schrieb. Die Französische Revolution von 1789 sei keineswegs ein dem 18. Jahrhundert angehörendes Experiment, wie Marx als gemeinsame Quintessenz formulierte, vielmehr betrachteten sie die aus ihr hervorgegangene „kommunistische Idee“ als „die Idee des neuen Weltzustandes“.18

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      V. Poljakov, Karl Marx und Friedrich Engels bei der Arbeit am Kommunistischen Manifest, 1961.

      Die zweite Publikation, die Engels auflistet, ist sein Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England, das er nach seiner Rückkehr im heimatlichen Wuppertal von Herbst 1844 bis März 1845 niederschrieb und das im Mai 1845 erschien. Es machte ihn im deutschen Sprachraum bekannt.19 Für die englische Übersetzung, zu der es erst viel später, 1885/87, kam, verfasste er eine Vorrede und ein Appendix, die er ebenfalls in seinem Schriftenverzeichnis aufführt.20 Am Beispiel der Baumwollverarbeitung in England zeichnet er die Entwicklung der großen Industrie sowie die Herausbildung eines verelendeten Industrie- und Ackerbauproletariats nach. Er untersucht die Wohn-, Gesundheits-, Ernährungs- und Bildungssituation in den gettoisierten Elendsvierteln der großen Städte, in denen ein brutaler sozialer Krieg herrsche. Sein Buch ist eine soziologische Monografi e, aber zugleich auch eine moralische Anklageschrift. Noch 2007 führte Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Spe Salvi Engels als Kronzeugen für die „grauenvollen Lebensbedingungen“ der Industriearbeiter an, die er „in einer erschütternden Weise“ geschildert habe.21

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