Eva Weissweiler

Das Echo deiner Frage


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      Ungefähr zehn Prozent aller Studierenden der Chemie in dieser Zeit waren Frauen, die aus allen Kronländern der Monarchie kamen. Sie waren überwiegend jüdisch. In ihren »Nationalen« (so heißen in Österreich die Studienbücher), die sie selbst auszufüllen hatten, gaben sie als Muttersprachen Deutsch, Russisch, Ruthenisch, Rumänisch, Polnisch, Italienisch, Kroatisch, Ungarisch und sogar »Jüdisch« an, obwohl »Jüdisch« nicht als Sprache, sondern nur als »Jargon« galt, was für großes Selbstbewusstsein dieser jungen Frauen spricht.

      Pünktlich zum Studienbeginn ließ Dora sich fotografieren von Rudolf JobstJobst, Rudolf, einem bekannten Porträt-Fotografen, der besonders bei Bühnenkünstlern beliebt war. Das Bild zeigt eine ernst und entschlossen wirkende junge Frau mit hellen Augen, gerader Nase und vollen, schön geschwungenen Lippen. Das üppige blonde Haar ist in der Mitte gescheitelt und an den Seiten kunstvoll hochgesteckt, ihr Kleid – Samt mit Spitzeneinsatz – verhüllt weitaus mehr als es frei gibt. Trotzdem lässt das Bild ahnen, dass viele Männer von ihrer »Schönheit und starken Präsenz«[137] tief beeindruckt waren und sich reihenweise in sie verliebten.

      Aus den Studienbüchern der Universität Wien kann man relativ genau ablesen, was sie im Einzelnen belegt und gehört hat:

      Im Wintersemester 1909/10 Differenzial- und Integralrechnung, chemische Übungen für Anfänger, Experimentalchemie und »hygienische Pädagogik«, aber auch eine »Einleitung in die Philosophie«. Im zweiten Semester organische Chemie, chemische Thermodynamik, Laborarbeiten für »Vorgeschrittene« und »praktische Mittelschulpädagogik«, im dritten Semester »theoretische und physikalische« Chemie. Mit einem Seminar über Arthur SchopenhauerSchopenhauer, Arthur taucht wieder das Fach »Philosophie« auf. Dieses Interesse lässt sich bis 1912 mit Veranstaltungen über FeuerbachFeuerbach, Ludwig, René DescartesDescartes, René und die »Geschichte der Philosophie« weiter nachweisen. Das Thema ließ sie offenbar nicht mehr los und stand schließlich gleichberechtigt neben genuin chemischen Lehrstoffen.

      Dora hat in ihren Wiener Jahren vor allem bei Friedrich JodlJodl, Friedrich, dem Doktorvater von Stefan ZweigZweig, Stefan und Egon FriedellFriedell, Egon Philosophie gehört. Ein weiterer Lieblingsdozent, Wilhelm JerusalemJerusalem, Wilhelm, vertrat ein modernes interdisziplinäres Konzept, bestehend aus Philosophie, Soziologie, Reformpädagogik und Psychologie. Er hatte eine Lehrerlaubnis als Rabbiner und stand jahrelang der jüdischen Loge B’nai B’rith in Wien vor. Es ist also nicht nur diskreditierend, sondern auch objektiv falsch, wenn Zeitzeugen wie die ehemaligen Benjamin-Freunde Franz SachsSachs, Franz und Herbert BlumenthalBlumenthal, Herbert die spätere Dora Benjamin als »ehrgeizige Gans« oder »Alma MahlerMahler, Alma en miniature« bezeichnen, die ihrem Mann keine intellektuelle Partnerin habe sein können.[138]

      Max Pollak

      Um Wilhelm JerusalemJerusalem, Wilhelm und die anderen Professoren des philosophischen Instituts scharten sich eine Reihe junger Männer, die der Psychoanalyse nahestanden oder gar Schüler von Sigmund FreudFreud, Sigmund waren, Theodor ReikReik, Theodor[139] und Siegfried BernfeldBernfeld, Siegfried zum Beispiel. Man diskutierte über die »Traumdeutung«, frühkindliche Libido, Kindheitserinnerungen, Scham, Ekel und Inzest, über Bisexualität, Eltern-Kind-Beziehungen, den Ödipus-Komplex und neue Konzepte der Pädagogik, wobei BernfeldBernfeld, Siegfried neben dem Namen FreudFreud, Sigmund immer wieder den von Karl MarxMarx, Karl ins Spiel brachte, dessen Werk der Grundpfeiler einer künftigen Erziehungswissenschaft sei. Hatte Dora Beziehungen oder Affären in diesem Kreis? Vielleicht mit BernfeldBernfeld, Siegfried, der nicht nur als mitreißend klug, sondern auch als groß und schön beschrieben wird, »mit […] pechschwarzen zurückliegenden Haaren und […] riesigen schwarzen Augen«, ein Mensch, der »alles Zeug zu einem Jugendführer in sich hatte«?[140]

      Sehr verwunderlich wäre es nicht, denn durch die vielen Gespräche über die »Seele« wurde man schnell vertraut miteinander. Konkret nachzuweisen ist es allerdings auch nicht, da es keine persönlichen Aufzeichnungen aus dieser Zeit gibt. Die ersten nachweisbaren Briefe von Dora stammen aus dem Jahr 1914, lassen aber keinen Zweifel daran, dass es wenigstens zwei Beziehungen gab, die sie unter Schmerzen gelöst hat: In der einen war der Mann »adelig, aber hart wie Marmor«, in der anderen »gut«, aber ohne »Adel«.[141] Das klingt nach großer emotionaler Verwirrung, wenn nicht Überspanntheit, kein Wunder nach den Jahren bei Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie, die nicht nur Dora in Not und Verwirrung zurückließen. Sie mischte sich buchstäblich in alles ein, ließ sich Freunde und Verlobte ihrer Schülerinnen vorführen, gab ihre Zustimmung oder auch nicht und sorgte, wie Carl ZuckmayersZuckmayer, Carl Frau Alice HerdanHerdan-Zuckmayer, Alice, ebenfalls Schwarzwald-Schülerin, einmal schrieb, für eine Atmosphäre, in der »es knisterte und funkte wie von ungesicherten elektrischen Leitungen, die im nächsten Augenblick ein Feuer entzünden könnten«.[142]

      Die Kellners waren, wie Doras MutterKellner, Anna (geb. Weiß) einmal schreibt, eine »Kletten-Familie«.[143] Jeder machte sich Gedanken über jeden, ob es nun um Gesundheit, Finanzen oder das Liebesleben ging. »Wir sind eine zahlreiche und über die Maßen zärtliche Familie«, schrieb Leon KellnerKellner, Leon in einem autobiographischen Text. »Wir sind über weite Länderstrecken zerstreut, aber das hat unser Gefühl der Zusammengehörigkeit eher gestärkt als vermindert. Wenn das Kind unserer Pariser Nichte Zähne bekommt, so stört das unsere Nächte in Wien. Ist die Ernte eines Vetters in der Slowakei durch andauerndes Regenwetter bedroht, so kommen wir alle um den Appetit.«[144]

      Als AnnasKellner, Anna (geb. Weiß) VaterWeiß, Salomon 1899 starb, versammelten sich alle erwachsenen Kinder in Bielitz. Die MutterWeiß, Klara beschwor sie, immer füreinander da zu sein, jeder für jeden.[145] Nach seinem Tod übernahm sie das unbestrittene Kommando, unterstützt von MoritzWeiß, Moritz, ihrem zweitältesten Sohn. Sie schrieb fast täglich an jedes ihrer zwölf Kinder, witzig, liebevoll, anteilnehmend, aber auch streng und ermahnend. Der einen Tochter schrieb sie, dass sie zu dick sei, der anderen, dass sie schütteres Haar habe, der dritten, dass sie zu viel Geld ausgebe und der vierten, dass sie ihren Mann durch ihr zänkisches Wesen aus dem Haus treibe. Wie viele ihrer Töchter sie unter Zwang verheiratet hat, ist nicht bekannt, bis auf Anna wahrscheinlich alle. RosaSchanzer, Rosa (geb. Weiß), die Älteste, die als unschön und schwer vermittelbar galt, wurde