Eva Weissweiler

Das Echo deiner Frage


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Eifersucht. Jedenfalls noch nicht.

      Bei Tisch wurde weiter von Doras Thema, von »Hilfe«, gesprochen. Franz SachsSachs, Franz versuchte zu provozieren. Es missfalle ihm, vor so vielen Menschen über so etwas Intimes zu reden. Es verletze sein Schamgefühl. »Drob erhob sich brennender Streit«, berichtet Dora an BlumenthalBlumenthal, Herbert. Alle hätten ihn, HerbertBlumenthal, Herbert, herbeigesehnt, weil er so etwas Versöhnendes und Vermittelndes habe. Benjamin habe versucht zu moderieren, indem er gesagt habe:

      Man müsse über alles sprechen können. Lähme das Gespräch die Hilfsmöglichkeit, so sei es eben nicht die richtige Hilfe gewesen. Sprechen und Handeln seien koordinierte Begriffe – nicht das Sprechen dem Handeln subordiniert. […] Also dürfe das Sprechen die Hilfe nicht erschweren, sondern sei im Gegenteil schon selbst Hilfe.

      Nun kamen FranzSachs, Franz u. ich, die schon vorher sehr ans Persönliche, an den Einzelfall gedacht hatten, gänzlich in den Bann des heißen Wunsches, dies Gespräch als Mittel zum Zweck, zur Klarheit über gewisse schwebende Beziehungen zu benutzen. Und zwar sagte Benjamin: Helfen sei nur möglich, wenn man sich liebe. Mir blieb das Herz still stehen, ich erfasste ganz, was dies bedeute: dass man nur helfen dürfe, wenn man liebe und geliebt werde. Immer hatte ich die Möglichkeit gefühlt.[176]

      Hilfe und Liebe. Hilfe aus Liebe. Benjamin hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Für Dora hatte Liebe viel mit »Hilfe« zu tun. War sie immer noch bei PollakPollak, Max, weil sie ihm »helfen« wollte? Fühlte sie sich so stark zu Franz SachsSachs, Franz hingezogen, weil er ihr leidtat? Er, der eifrige Jurastudent, war der am wenigsten Poetische in diesem Kreis, so berichtet es Wieland HerzfeldeHerzfelde, Wieland, ebenfalls Mitglied in der Gruppe, in seinem Tagebuch.[177] Er sei so spröde, so glatt rasiert gewesen, habe fast ein bisschen zu resigniert für sein Alter gewirkt. Außerdem habe er gar nicht »blond und stürmisch« wie ein Wandervogel ausgesehen, sondern sehr schwarz und sehr jüdisch, weshalb er bei jeder Gelegenheit auf sein Deutschtum zu sprechen gekommen sei. Über die Liebe sagte er, dass sie, wenn sie nicht erwidert werde, Abscheu, ja sogar Hass erzeugen könne. Als Dora schmerzlich berührt reagierte, fuhr er sie an:

      Ja, Dora, Erkennen ist bitter.[178]

      Später, auf dem Nachhauseweg, gingen sie nebeneinander durch die Nacht. Franz SachsSachs, Franz wurde plötzlich wieder ganz weich und erinnerte sie an gewisse Momente, die sie im Spreewald miteinander erlebt hätten, auf einem der traditionellen Ausflüge des Sprechsaals. Dora war »stumm und wie gelähmt vor Freude«. War er vielleicht doch nicht »hart wie Marmor«? War es vielleicht doch möglich, ihn ohne »Schmerzen« zu lieben und »von Seele zu Seele« mit ihm zu sprechen, ohne dass ein »Vorhang« zwischen ihnen herabfiel? War sie ihm gegenüber bisher nur zu »feige«, nein, zu »empfindlich« gewesen, weil sie sich so sehr vor »Freundschaft aus Pflichtgefühl« fürchtete?[179]

      Wo war die Härte und die Kälte geblieben! Ich besaß einen Menschen, durfte ihm liebend helfen – gibt es je größere Wonne, größeres Licht für den, der eben in Nacht einherging![180]

      In diesem Moment glaubte sie, ihre große Liebe gefunden zu haben: Franz SachsSachs, Franz. Sie lud ihn ein, sie besuchen zu kommen, sie und ihren Mann, Max PollakPollak, Max. Sie würden sich ans Klavier setzen und arbeiten, »praktisch, mit Musikvorträgen«, auf der Grundlage eines Buches von August HalmHalm, August, des führenden Musiktheoretikers der Jugendkulturbewegung. Auch LisaBergmann, Lisa, die Freundin von MaxPollak, Max, sollte dabei sein.

      FranzSachs, Franz dankte mir bewegt, dass ich LisaBergmann, Lisa eingeladen. Ich sagte: »Das ist wohl nur selbstverständlich.« Er weiß, dass ich alles weiß. Donnerstag will Ben kommen. HerbertBlumenthal, Herbert, fühlst Du, wie wir Dich lieben! Dora.[181]

      Zu Besuch in Benjamins Elternhaus

      Walter Benjamin, geboren am 15. Juli 1892 in Berlin, war zu dieser Zeit nicht einmal 22 Jahre alt, zweieinhalb Jahre jünger und etwas kleiner als Dora. Er studierte in Berlin Philosophie, aber auch Literatur- und Kunstgeschichte und wohnte noch bei seinen Eltern EmilBenjamin, Emil und Pauline Elise BenjaminBenjamin, Pauline Elise, geborene Schoenflies, die in der Delbrückstraße 23 in Grunewald eine prächtige Villa besaßen. Auch Benjamin war jüdisch, wenn auch auf völlig andere Weise als Dora. Sein VaterBenjamin, Emil hatte einen gewissen Hang zur Orthodoxie, während die Mutter eher dem Reformjudentum zuneigte. Aber niemand in diesem Haus war Zionist. Niemand sprach Jiddisch oder war in Kreisen aufgewachsen, in denen man noch Schläfenlocken und Gebetsriemen trug wie die Vorfahren von Dora. Die Benjamins gehörten also dem assimilierten Berliner Judentum an. Sie gingen zwar an hohen Feiertagen in die Synagoge, entzündeten aber auch zu Weihnachten einen Christbaum,[182] was bei den Kellners völlig undenkbar gewesen wäre. Sie verkörperten genau den Typus von Juden, den Leon KellnerKellner, Leon immer wieder anprangerte: den »Jom-Kippur-Juden«, der die »Urwüchsigkeit des jüdischen Geistes« eingebüßt und die Verbindung zu seinen Wurzeln verloren habe.[183]

      Walter Benjamin war stets korrekt, aber nicht auffällig gekleidet und trug wegen seiner Kurzsichtigkeit eine dicke Brille, die er im Gespräch gelegentlich abnahm, um den Partner mit ernsten, dunkelblauen Augen zu fixieren. Er war zwar schlank, aber nicht so sportlich, wie es den Idealen des »Wandervogels« entsprochen hätte. Sein langsamer, etwas unbeholfener Gang schien eher zu einem älteren Herrn als zu einem Studenten zu passen. Bis auf den dichten Schnauzbart war sein Gesicht glatt rasiert. Er hatte sehr weiße Haut, die manchmal zu leichten Rötungen neigte, besonders, wenn er sich aufregte, was er allerdings eher in Briefen als im Gespräch tat. Seinem akzentfreien Hochdeutsch merkte man an, dass er kaum mit den unteren Schichten Kontakt gehabt hatte. Das »Berlinische« beherrschte er zu dieser Zeit nur ansatzweise, das Jiddische noch weniger, wenn auch, so sein Freund Gershom ScholemScholem, Gershom (Gerhard), »der Gesamteindruck der Physiognomie […] durchaus jüdisch« war.[184]

      Er hatte zwei jüngere Geschwister, die GeorgBenjamin, Georg und DoraBenjamin, Dora (Schwester) hießen, eine seltsame Koinzidenz. DoraBenjamin, Dora (Schwester) war damals erst 13, fast noch ein Kind, zu jung, um am Sprechsaal teilzunehmen. GeorgBenjamin, Georg, knapp 19, tauchte gelegentlich auf. Doch er stand kurz davor, nach Genf zu gehen, wo er Mathematik studieren wollte. Außerdem war sein Verhältnis zur Jugendkulturbewegung sehr distanziert. Das war ihm alles zu »intellektualisiert«. Er wollte nicht mit »Ideen und Phantomen« zusammensitzen, sondern mit »lebendigen Menschen«. Noch gehörte er keiner Partei oder politischen Richtung an. Doch er träumte davon, eines Tages »eine soziale Tätigkeit« auszuüben.[185]

      Benjamins