Eva Weissweiler

Das Echo deiner Frage


Скачать книгу

Franz, Fasanenstr. 74, melden, einem Schulkameraden von Walter Benjamin.[169] Für Dora und MaxPollak, Max muss das sehr aufregend gewesen sein. Denn der »Sprechsaal« war eigentlich eine Wiener Erfindung. Ihr Initiator war ein Kommilitone, eben jener Siegfried BernfeldBernfeld, Siegfried, den sie beide im philosophischen Seminar der Universität kennengelernt hatten, ein hellwacher, rhetorisch hochbegabter junger Mann, der gerade seine Doktorarbeit über den »Begriff der Jugend« schrieb.

      Im Wiener »Sprechsaal« wurde leidenschaftlich über Kunst, Literatur, Sexualmoral, Frauen- und Friedensbewegung, vor allem aber über Erziehung diskutiert, ein Thema, das BernfeldBernfeld, Siegfried besonders am Herzen lag. Das Ganze war so spannend und provokativ, dass alsbald nicht nur, wie ursprünglich beabsichtigt, »Wiener Mittelschüler« zu den Versammlungen kamen, sondern auch junge Künstler und Intellektuelle wie der Komponist Ernst KrenekKrenek, Ernst und die Mathematikerin Hilda GeiringerGeiringer, Hilda, eine Absolventin der Eugenie-Schwarzwald-Schule.

      Nun gab es eine solche Institution also auch in Berlin. Eine glückliche Fügung für Dora und MaxPollak, Max, wenn der Berliner Sprechsaal auch viel unpolitischer war als der Wiener und weniger auf FreudFreud, Sigmund und MarxMarx, Karl als auf FichteFichte, Johann Gottlieb, NietzscheNietzsche, Friedrich und GeorgeGeorge, Stefan Bezug nahm, vor allem aber auf die »Wandervogel«-Tradition, die eine Reihe völkisch-antisemitischer Elemente enthielt, auch wenn viele Juden unter den Mitgliedern waren. Wortführer war ein Mann, der um diese Zeit schon mittleren Alters war: Gustav WynekenWyneken, Gustav, Lehrer, promovierter Philosoph, Sohn eines protestantischen Pfarrers, der Schulreformer der Vorkriegsära und für einige Zeit geistiger Ziehvater Walter Benjamins, den er in Deutsch und Geschichte unterrichtet hatte. Er war Herausgeber der Zeitschrift Der Anfang, des Organs der Jugendkultur- und Sprechsaalbewegung, das allerdings von zwei wesentlich jüngeren Männern redigiert wurde, Siegfried BernfeldBernfeld, Siegfried in Wien und Georges BarbizonBarbizon, Georges in Berlin. Die Beiträge stammten von jungen Leuten, die sich nirgendwo adäquat vertreten fühlten, weder im Elternhaus noch in Schule, Presse oder Universität.

      »Der Anfang ist die einzige Zeitschrift, in der die Jugend völlig unbevormundet zu Wort kommt« hieß es im Juli-Heft 1914. »Der Anfang gehört der Jugend, die sich nach eigener Bestimmung […] in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben zu gestalten sucht.«[170]

      Auch Walter Benjamin zählte von Beginn an zu den Autoren. Schon im ersten Heft machte er sich unter dem Pseudonym »Ardor« über einen Deutschlehrer lustig, der zu seinen Oberprimanern gesagt habe:

      Weiter als bis KleistKleist, Heinrich von gehe ich mit Ihnen nicht. Modernes wird nicht gelesen! […] IbsenIbsen, Henrik – wenn ich schon det Schimpansengesicht sehe![171]

      Obwohl WynekenWyneken, Gustav seine pädagogischen Bemühungen auf »Knaben«, die er über alles liebte, konzentrierte, fanden sich in den Sprechsälen viele junge Frauen ein. An der Zeitschrift Der Anfang wirkten Studentinnen und sogar Schülerinnen mit, die zum Teil herzerfrischend selbstbewusste Beiträge schrieben. Im Januarheft 1914 heißt es zum Beispiel:

      Wie können Jungens es wagen, von uns Kameradschaft zu fordern, wenn sie in ihrer egoistischen Passivität und Bequemlichkeit nicht mal auf die Idee kommen, Professoren zu boykottieren, die die Kameradinnen von ihren Collegs ausschließen? […] Die Ehefrau rangiert nach dem heutigen Gesetz neben dem besoldeten Hausgesinde, das ebenso wie sie ungestraft von dem »Herrn« geprügelt werden kann, soweit nicht Körperverletzung im strafrechtlichen Sinn vorliegt. (Das Hausgesinde hat allerdings gegenüber der Ehefrau den Vorteil der Freizügigkeit: die monatliche Kündigung!) […] Fünfhundert Jahre vollständiger politischer, juristischer und sozialer Gleichberechtigung – das ist die unerlässliche Vorbedingung für jedes Debattieren über geistige oder sittliche Verschiedenheit der Geschlechter.[172]

      Liebe und Hilfe

      Am 4. Mai 1914 erwähnt Dora zum ersten Mal den Namen Walter Benjamins. In einem Brief an Herbert BlumenthalBlumenthal, Herbert schreibt sie:

      Gestern war ich den ganzen Tag zu Hause. Heute Abend ist Benjamins Rede.[173]

      Als Vorsitzender der »Freien Studentenschaft« würde er über das Thema »Hilfe« sprechen, das sie selbst vorgeschlagen hatte. Am nächsten Tag, dem 5. Mai 1914, berichtet sie BlumenthalBlumenthal, Herbert, der zu dieser Zeit gerade in London war:

      Benjamins Rede – Du kennst ihn. Es war wie eine Erlösung. Man atmete kaum. Er wird Dir wohl selbst eine Abschrift senden. Unser Kreis fühlte: wäre nur Herbert hier![174]

      Nach Benjamins Rede, deren Text nicht überliefert ist, stürmte Dora auf ihn zu und überreichte ihm Rosen, die sie vorsorglich eingekauft hatte. Sie erklärte, das tue sie, weil seine Freundin, Grete RadtCohn-Radt, MargareteRadt, GreteRadt, Grete, derzeit Studentin der Philosophie, nicht in Berlin sei. Benjamin reagierte darauf nicht etwa verstimmt, sondern begeistert. Noch nie hätten ihn Blumen so beglückt, schrieb er an Herbert BlumenthalBlumenthal, Herbert, mit dem auch ihn eine enge Freundschaft verband.[175] Dora habe ihm die Rosen stellvertretend für GreteRadt, Grete gegeben, »gleichsam von Grete«. Auf die Idee, dass sie sich selbst etwas davon versprach, kam er wohl nicht.

      Später am Abend saßen sie noch zu mehreren zusammen: Dora, Max PollakPollak, Max, Walter Benjamin, dessen Freunde Franz SachsSachs, Franz und Fritz HeinleHeinle, Christoph Friedrich »Fritz«, einige Frauen, darunter die aus Köln stammende Geschichtsstudentin Helene WieruszowskiWieruszowski, Helene und noch ein paar andere. Eine junge Frau namens Lisa BergmannBergmann, Lisa ging vorzeitig nach Hause, weil sie glaubte, nicht mitdiskutieren zu können, da sie aus einfachen Verhältnissen stammte und nicht studierte. Außerdem bahnte sich zwischen ihr und Max PollakPollak, Max eine Affäre an, was Dora wusste. Aber das war nicht so schlimm. Das war in diesem Kreis ganz normal. Fast alle waren ein bisschen verliebt ineinander. Franz SachsSachs, Franz zum Beispiel hatte ein Verhältnis mit einer Frau namens Genia, flirtete aber trotzdem mit Helene WieruszowskiWieruszowski, Helene und führte so intensive Gespräche mit Dora, dass jeder normale Ehemann eifersüchtig geworden wäre. Aber Max PollakPollak,