Lothar Gassmann

Die Lehren der Zeugen Jehovas


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der Wachtturm-Bewegung vermittelt das Buch Der Gewissenskonflikt (amerik. 1983, deutsch 1988) von Raymond Franz. Als ein Mann, der alle Ebenen der Wachtturm-Hierarchie durchlaufen hat und die letzten neun Jahre vor seinem Ausschluss Mitglied ihres Führungsgremiums, der „Leitenden Körperschaft“, war, hat er Zugang zu Insider-Informationen, die bisher nur wenigen bekannt gewesen sind.

      In seiner 1994 veröffentlichten Biographie Charles T. Russell – der unbelehrbare Prophetbeschäftigt sich Franz Graf-Stuhlhofer ausführlich mit der Frühzeit der heutigen Zeugen Jehovas, nämlich mit der Person ihres Gründers. Als Historiker interessiert er sich darüber hinaus aber auch für die Voraussagen der Wachtturm-Gesellschaft über Russells Zeit hinaus – bis 1975 und danach – und unterzieht sie einer kritischen Prüfung.

      1995 erschien das Werk Der Wachtturm-Konzern der Zeugen Jehovas – Anspruch und Wirklichkeit von Hans-Jürgen Twisselmann. Hier wird das Schwergewicht auf die Entstehung, die Entwicklung und das Geschäftsverhalten der Wachtturm-Gesellschaft gelegt. In diesem Rahmen findet sich eine Reihe aufschlussreicher Enthüllungen über die Wachtturm-Präsidenten C. T. Russell, J. F. Rutherford, N. H. Knorr, F. W. Franz und M. G. Henschel.

      Kürzere geschichtliche Darstellungen enthalten zahlreiche Schriften von Wachtturm- und gegnerischer Seite. Als neuere kritische Darstellungen von Originalität und Gewicht seien noch erwähnt: Hutten 1982, S. 80-135; Martin 1985, S. 38-51; Obst o. J., S. 262-298; Stevenson 1968 u.a. (siehe das Literatur-Verzeichnis). – Viele der folgenden Daten sind – neben Originalquellen – den genannten Werken entnommen.

      Die Anfänge

      Am Anfang der Bewegung steht Charles Taze Russell. Er wurde am 16. Februar 1852 in Allegheny/Pennsylvanien geboren. Seine Eltern Joseph L. und Anna Eliza Russell, geb. Birney, gehörten der Presbyterianischen Kirche an. Als Charles neun Jahre alt war, starb seine Mutter. Er wurde zunächst von Privatlehrern unterrichtet, dann besuchte er eine öffentliche Schule am Ort.

      Für die spätere Gründung der Wachtturm-Gesellschaft ist es von Bedeutung, dass Charles Taze Russell bereits als Elfjähriger Teilhaber der väterlichen Firma, eines immer mehr expandierenden Textilunternehmens, wurde (so die meisten Quellen; andere, z. B. Hoekema 1972, S. 9, sagen: als Fünfzehnjähriger). Große Kapitalmengen für die religiöse Wirksamkeit waren vorhanden.

      Die Presbyterianische Kirche, der Charles zunächst angehörte, zeichnete sich durch ihre calvinistische Prägung, insbesondere im Blick auf die doppelte Vorherbestimmung (Prädestination) von erwählten und verworfenen Menschen sowie die Leitung durch Älteste aus. Dem jungen Charles gefiel beides nicht – und so trat er 1866 mit 14 Jahren der Kongregationalistischen Kirche bei. In dieser begegneten ihm ein demokratisches Gemeindeverständnis und das Kollegialitätsprinzip von der einzelnen Gemeinde bis hinauf zur Synode. Allerdings fand sich auch hier die Lehre von buchstäblich aufgefassten ewigen Höllenstrafen. Zugleich war damals die Bibelkritik in diese Kreise eingedrungen, was den jungen Charles in seinem Glaubensleben tief verunsicherte. So wandte er sich mit 17 Jahren auch von der Kongregationalistischen Kirche ab.

      Seine Suche brachte ihn 1870 mit einer Splittergruppe aus der adventistischen Bewegung, den Second Adventists („Zweite Adventisten“), in Berührung, welche die ewigen Höllenstrafen nicht lehrte und sich der Bibelkritik gegenüber ablehnend verhielt. Durch diesen Kreis um den freien Prediger Jonas Wendell wurde Russells Denken in apokalyptische (endzeitliche) Bahnen gelenkt. Der Begründer der Adventisten, William Miller, hatte die Wiederkunft Jesu Christi auf das Jahr 1844 festgelegt. Als diese Erwartung sich nicht erfüllt hatte, gab es zahlreiche Abspaltungen im adventistischen Lager mit unterschiedlichen Deutungsversuchen. Eine dieser Gruppen war der Kreis um Jonas Wendell.

      Eine weitere Etappe war die Bekanntschaft Russells mit dem Herausgeber der adventistischen Zeitschrift „The Herald of the Morning“, Nelson H. Barbour, im Jahre 1876. Barbour behauptete, dass Christus seit 1874 unsichtbar auf der Erde anwesend sei. Weiter meinte er, die wahren Adventgläubigen würden gesammelt und 1878 entrückt werden. Russell schloss sich Barbour an und nannte sich seit 1876 „Pastor“. Diesen Titel trug er ohne jegliche theologische Ausbildung und Ordination. Im Folgenden betrachten wir die drei maßgeblichen Gruppen der Anfangszeit etwas näher.

      Die „Second Adventists“ hießen auch Age-to-Come-Adventists („Adventisten des kommenden Zeitalters“). Jonas Wendell, der Prediger dieser nur wenige Dutzend Leute umfassenden Gruppe, hatte die Jahreswende 1872/73 (später 1874) als den Zeitpunkt bezeichnet, an dem die Welt verbrennen sollte. Nach seiner Berechnung würden dann sechstausend Jahre seit Adam enden. Solche Berechnungen, die für Russell prägend werden sollten (siehe hierzu den Teil „Letzte Dinge“), gehen von den sieben Wochentagen aus, welche jeweils mit tausend Jahren gleichgesetzt werden. Nach sechs Tagen im Sinne von sechstausend Jahren tritt der siebte Tag, das siebte Jahrtausend (Millennium) ein, in welchem Christus regiert. Dieses Millennium oder Tausendjährige Reich sollte nach Wendells Berechnungen 1873 oder 1874 beginnen.

      Die zweite zu betrachtende Gruppierung ist der Kreis um Charles Taze Russell selber. Dieser Kreis traf sich in Pittsburgh und Allegheny seit etwa 1870. Bis 1873 konnte dieser Kreis als ein Ableger der Wendellschen Gemeinde gelten. Später nahm Russell eine eigene Entwicklung.

      Die dritte Gruppe war der Kreis um N. H. Barbour. Zwischen Barbour und den Second Adventists bestand ein wesentlicher Lehrunterschied. Dieser betraf nicht den Zeitpunkt der Wiederkunft Jesu Christi, sondern die Art seines Kommens. Im Unterschied zu Wendell erwartete Barbour die Wiederkunft Christi nicht sichtbar nach dem Weltenbrand 1873/74, sondern als eine unsichtbare Gegenwart. Hier berührte sich Barbour übrigens mit der Ansicht der „Prophetin“ der „Siebenten-Tags-Adventisten“, Ellen G. White. Auch diese behauptete (erstmals fast 30 Jahre vor Barbour und Russell!), Christus sei unsichtbar wiedergekommen – allerdings schon 1844, im von W. Miller berechneten Jahr – und habe mit der „Reinigung des Heiligtums im Himmel“ begonnen. White schreibt in ihrem Buch „Der große Konflikt“:

      „Wie die Sünden des Volkes vor alters durch den Glauben auf das Sündopfer gelegt und bildlich durch dessen Blut auf das irdische Heiligtum übertragen wurden, so werden im neuen Bund die Sünden der Bußfertigen durch den Glauben auf Christum gelegt und tatsächlich auf das himmlische Heiligtum übertragen. Und wie die vorbildliche Reinigung des irdischen durch das Wegschaffen der Sünden, durch die es befleckt worden war, vollbracht wurde, so soll in der Tat die Reinigung des himmlischen durch das Wegschaffen oder Austilgen der daselbst aufgezeichneten Sünden bewerkstelligt werden … Auf diese Weise erkannten die, welche dem Licht des prophetischen Wortes folgten, dass Christus, anstatt am Ende der 2.300 Tage im Jahre 1844 auf die Erde zu kommen, damals in das Allerheiligste des himmlischen Heiligtums einging, um das Schlußwerk der Versöhnung, die Vorbereitung auf sein Kommen, zu vollziehen“ (White 1888, S. 395 f.).

      Barbour und Russell vertraten die Lehre von der unsichtbaren Wiederkunft Christi (öffentlich) erst nach 1874. Im Jahre 1877 erschien ihr gemeinsames Werk Three Worlds, and the Harvest of This World (anderer Titel: Three Worlds or Plan of Redemption), in dem sie ihre Ansicht niederlegten. Sie schrieben, dass die Ankunft Christi 1874 angefangen habe und nun die Erntezeit, die Sammlung der Heilsgemeinde, eingeleitet sei, die 1914 zu ihrem Ende gelange. Die Erntezeit betrage also 40 Jahre. 1914 werde das Weltende erreicht sein. Außerdem fanden sich in diesem frühen Werk bereits die Lehren vom „Ganztod“ des Menschen, von Jesus als dem „Erzengel Michael“ und vom „Loskaufopfer“. Die Realität der Hölle als „Strafort der Verdammten“ wurde geleugnet.

      Nach einiger Zeit kam es zu Streitigkeiten zwischen Russell und Barbour, und zwar vor allem in zwei Punkten. Zum ersten: Barbour erwartete, dass die lebenden Gläubigen oder Heiligen 1878 leiblich entrückt würden. Nachdem diese Erwartung nicht eingetroffen war und sich unter den Anhängern Russells Enttäuschung breitmachte, stellte dieser die Lehre auf, diejenigen, die nach 1878 noch lebten, würden in ihrer Todesstunde sofort verwandelt und müssten nicht bewusstlos im Grab liegen. Gegenüber späteren Lehren der Zeugen Jehovas finden sich in der Frühzeit