Nané Lénard

SchattenSchnee


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aber glücklicherweise hatten sie beide überlebt.

      Im Gegensatz zu ihm war Niklas längst wieder hergestellt und im Dienst. Gesundes Essen, Sport sowie eine liebende Frau an seiner Seite, hatten ihn ruckzuck zu alter Form zurückfinden lassen. Natürlich musste man auch sein jugendliches Alter bedenken. Da wurde man einfach schneller wieder fit. Vielleicht war er durch die Tortur etwas ernster geworden, aber das schadete nicht. Und Nadine, die anfänglich an seinem Bett gewacht hatte, tat es auch jetzt noch mit Argusaugen. Wolf schmunzelte. Sie hatte ihn auf positive Art im Griff. Um seinen Sohn musste er sich keine Sorgen mehr machen, was den Alltag anging. Der Erziehungsauftrag war beendet.

      „Mann, Mann, Mann, ist das lausig kalt hier draußen, richtig schattig“, schimpfte Peter, der seinen Kollegen Detlef beneidete, weil er mit Lammfell gefütterte Stiefel trug. Er beschloss, sich auch welche zuzulegen. Warum nur zu Hause Lammfellpuschen tragen?

      „Moin, Wolf, du siehst auch schon ganz schön verfroren aus, fast wie die Schönheit im Schnee“, begrüßte Detlef ihn.

      „Kein Wunder, ihr kommt aus dem Warmen, und ich sitze schon seit Längerem hier“, sagte Wolf.

      „SpuSi und Rechtsmedizin sind auch gleich da“, kündigte Peter an. „Krasse Nummer.“ Er zeigte auf die Tote.

      Detlef betrachtete sie, als suche er irgendetwas. „Hmm, ich kann gar keine Verletzung erkennen. Das viele Blut. Wo kommt es her? Wirkt wie ein Muster oder so. Komisch.“

      „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, erwiderte Wolf. „Ich kann mir allerdings keinen Reim drauf machen, aber es geht mich im Grunde gar nichts an.“

      Peter stöhnte. „Jetzt komm mir nicht mit der Mitleidsnummer. Nur weil du im Moment im Rolli sitzt …“

      „Schön, wenn es nur ein Moment wäre“, wandte Wolf mit bitterer Stimme ein.

      „Unterbrich mich nicht“, meckerte Peter. „Nur weil du also zeitweise im Rollstuhl sitzt, muss doch dein Hirn nicht auch geschoben werden, oder? Das wird ja wohl intakt sein. Falls nicht, lass es mich wissen. Vielleicht hat dir der Schlag ja die grauen Zellen zerdeppert. Ich glaube aber eher, das ist der miese Versuch, uns deutlich zu machen, dass wir bei diesem Fall auf deine Mithilfe nicht zu hoffen brauchen.“

      „Ja, aber, äh …“, begann Wolf. „Ich bin doch nicht im Dienst und werde auch längere Zeit ausfallen, wenn ich überhaupt wiederkommen kann.“

      „Und wen interessiert das jetzt?“, fragte Peter. „Hier liegt jetzt eine Tote. Glaubst du, wir wollen auf deine langjährige Erfahrung verzichten?“ Er sah Detlef an.

      Der schüttelte den Kopf. „Wollen wir keineswegs!“

      „Zumindest inoffiziell möchten wir dich an unserer Seite wissen“, bohrte Peter weiter. „Können wir mit deiner Unterstützung rechnen?“

      „Klar könnt ihr mich jederzeit fragen“, antwortete Wolf gerührt.

      „Ich spreche nicht nur vom Fragen, sondern davon, dass wir die Teambesprechungen gelegentlich in dem Seniorenknast abhalten können, wenn du nicht runter in die Ulmenallee rollen kannst oder möchtest“, erklärte Peter.

      „Vergesst nicht, dass ich krankgeschrieben bin“, erinnerte Wolf die beiden.

      Peter verdrehte die Augen. „Schon klar, du kommst uns dann nur besuchen, Mann. Wie ein einsamer, alter Krüppel, der sich nach der Gesellschaft seiner ehemaligen Kollegen sehnt.“

      „Arschloch“, zischte Wolf. „Du machst aus mir einen bedauernswerten Tattergreis.“

      „Wenn du dich so benimmst“, sagte Peter und zuckte mit den Schultern. „Wo ist dein Biss, Alter? Der Ehrgeiz, der dich immer angetrieben hat? Klar, du hast in der letzten Zeit viel Scheiße erlebt. Ja, und? Kopf in den Sand stecken, oder was? Das passt doch gar nicht zu dir. Reiß dich gefälligst zusammen.“

      Wolf schwieg.

      Auch Peter begann langsam zu frösteln. „Mann, brauchen die lange!“ Er stapfte auf der Stelle herum. „Meine Füße sind langsam Eiszapfen.“

      „Musst du Lammfellstiefel anziehen“, schlug Detlef vor und grinste.

      „Gleich haue ich dir was hinter die Löffel, du Klugscheißer“, lachte Peter.

      „Hast du zu Hause nicht diese überdimensionalen Puschen?“

      Peter brummte nur und freute sich, als er Nadja durch den Torbogen am seitlichen Eingang des Parks kommen sah. Ihr folgte, einen Koffer an jeder Seite, Joseph von der Lancken, auch Seppi genannt.

      „Hi. Schön, dich zu sehen, Wolf. Endlich wieder unter den Lebenden.“ Sie zwinkerte Hetzer zu. „Seppi und ich haben uns bei den Parkbuchten getroffen“, sagte Nadja. „Na, dann zeigt uns mal euer Engelchen!“ Sie trat näher. „Oh“, sagte sie und reckte den Hals. „Jetzt hätte ich gerne eine Drohne oder zumindest eine Leiter.“

      „Wozu das denn?“, wollte Peter wissen.

      „Na ja, weil ich glaube, dass da jemand was mit Blut in den Schnee geschrieben hat. Und ich bin zwar groß, aber fliegen kann ich nicht“, erklärte Nadja.

      „Ich könnte dich auf die Schultern nehmen“, schlug Peter vor.

      „Damit ich hinterher deinen Bandscheibenvorfall pflege?“, konterte sie. „Kommt nicht infrage.“

      „Räuberleiter?“, versuchte Peter weiter.

      „Wie wär’s denn, wenn ihr einfach im Heim nachfragt, ob uns der Hausmeister eine Leiter borgen kann?“, kam es aus dem Rollstuhl.

      „Praktisch wie immer, unser Wolf“, freute sich Nadja und inspizierte den Leichnam.

      „Ich geh dann mal los und organisiere eine, entweder aus dem Herminenhof oder dem Palais“, beschloss Detlef. „Irgendwo werde ich schon fündig.“

      Alle anderen warteten gespannt auf die erste Beurteilung der Rechtsmedizinerin.

      Spätfolgen

      Wolf Hetzers Sohn, Oberkommissar Niklas Müller, und seine Kollegin Nadine Michels waren auf der Dienststelle geblieben. Auch wenn Niklas kaum noch etwas von der Organtransplantation spürte, war er doch empfindlich, was die momentane Kälte anging. Niemand hatte nach den letzten milden Wintern schon Ende November mit Schnee und Minusgraden gerechnet. Und er hatte nur noch diese eine Niere, die, wenn man es genau nahm, bis vor Kurzem nicht einmal ihm gehört hatte. Sie war ein Geschenk, das es zu bewahren galt, wenn er noch ein paar Jahre leben wollte.

      Wahrscheinlich wäre Niklas aus reiner Neugier trotzdem mit zum Fundort der Leiche gefahren, aber Nadine hatte ihn nur einmal schräg von der Seite angesehen, um ihn von solchen Gedanken abzubringen. Sie war seine gute Fee. Nachdem er erkannt hatte, dass die Rechtsmedizinerin Anke Seiler keine Frau war, mit der er seine restliche Lebenszeit verbringen wollte, war ihm endlich aufgefallen, dass jemand anders um ihn herum ständig dafür sorgte, dass es ihm gut ging. Tagelang hatte Nadine an seinem Bett gesessen, nachdem man ihn aus der kalten Grube gefischt und mühsam am Leben erhalten hatte. Wenn sie als Spenderin von Niere und Leberteil infrage gekommen wäre, hätte sie sich sofort dazu bereit erklärt, aber sie passte nicht. Zum Glück war Wolf aufgrund seiner engen genetischen Verwandtschaft geeignet gewesen, auch wenn die unvorhersehbaren Folgen ihn schwer gezeichnet hatten. Nadine wusste genau, er hätte es auch in dem Wissen getan, was er würde erleiden müssen. Nichtsdestotrotz: So ein Schlaganfall während der Operation und das anschließende Koma waren nicht leicht zu verkraften.

      Beide freuten sich wie alle hier, dass Wolf überhaupt wieder aufgewacht war. Und das meinten sie nicht nur körperlich. Sein Lebenswille schien ebenso mit neuer Kraft ans Licht zu dringen wie Schneeglöckchen aus dem winterfahlen Boden. Sie hatten direkt schmunzeln müssen, dass ausgerechnet Wolf im Herminenpark auf eine Tote gestoßen war. Es hätte jeden treffen können. Jetzt jedoch würde er sich verantwortlich fühlen, an der Aufklärung mitzuwirken. Und das konnte ihm nur guttun – in jeder Hinsicht!

      Alles