Im Herminenhof
Eines hatten all diese Einrichtungen gemein, seien es Krankenhäuser, Reha- oder Kurkliniken sowie Seniorenheime: Alle Mahlzeiten gab es wahnsinnig früh. Das Morgengedeck kam zwischen sechs und halb sieben, zu Mittag gegessen wurde spätestens um halb zwölf und das Abendbrot stand schon kurz nach fünf auf dem Tisch. Da tranken manche Leute noch Kaffee, überlegte Wolf, als er sich um 11:27 Uhr im Speisesaal einfand. Heute, wo er vom aufregenden Morgen im Park ganz durchgefroren war, kam ihm die lauwarme Hühnersuppe zu dieser Uhrzeit allerdings wie eine Erlösung vor. Selbst den halb garen Blumenkohl neben einem Kartoffelpüree aus der Tüte verschmähte er nicht, denn er hatte Hunger. Kälte und Anspannung hatten seinen Kreislauf in Schwung gebracht. Seit Langem hatte er sich nicht mehr so lebendig gefühlt.
Das Essen hier war in der Tat keine Offenbarung, aber gelegentlich brachte ihm seine Moni etwas richtig Leckeres mit. Doch er hatte den Aufenthalt hier gewollt, um ihr in der ersten Zeit nicht zu sehr zur Last zu fallen und natürlich, um körperlich durch die Turbo-Physiotherapie einen enormen Schritt nach vorn zu machen. Wenigstens hoffte er das. Sie würde morgen endlich beginnen. Das war für ihn eine große Erleichterung. Trotzdem freute er sich mehr als alles andere wieder auf sein Zuhause.
Nach dem Essen legte er sich hin. Richtig schlafen konnte er nicht, dafür war der Vormittag zu aufregend gewesen, aber er döste so vor sich hin. Im Halbdämmerzustand kamen die Erinnerungen der nahen Vergangenheit zurück. Gespräche, die er vor der Organtransplantation geführt hatte, Blicke und Gesten von Ärzten und Schwestern, die sorgenvollen Gesichter seiner Angehörigen und Freunde.
All das hatte er dem Mörder seines letzten Falles zu „verdanken“. Er war es gewesen, der seinen Sohn in einen tiefen Regenschacht im Höppenfeld angekettet und sie alle nur mit einem Rätsel zurückgelassen hatte. Wäre Moni Kahlert, seine Nachbarin und Verlobte, nicht gewesen, hätte er die Todesangst um Niklas verwinden können? Ihrer beider Liebe, die vielen Gespräche hatten ihn durch diese schwere Zeit getragen. Obwohl er seinen Sohn erst als Erwachsenen kennengelernt hatte, war er ihm mehr als er ahnte ans Herz gewachsen. In den schlimmsten Stunden war er sich dessen erst wirklich bewusst geworden.
Als er nach Niklas’ Bergung aus dem Schacht mit Seppi von der Spurensicherung dort hinuntergestiegen war, hatte ihn das Grauen gepackt. Man konnte sagen, dass er hinterher nicht mehr derselbe gewesen war. Die Kratzer, das Blut, die Hautreste an den Betonwänden hatte selbst der hartgesottene Techniker schwer ertragen. Es war etwas anderes, wenn man den Menschen kannte, der dort gelitten hatte. Man fühlte die Verzweiflung fast greifbar, mit der der junge Mann versucht hatte, sein Leben zu retten. Wäre das Gitter im Schacht nicht gewesen, hätte er sich in die Beeke spülen lassen können. Die Röhre wäre vom Durchmesser wohl groß genug. Doch er hatte die Stäbe nicht lösen können – nicht mit Steinen, nicht mit bloßen Fingern. Wolf seufzte. Vielleicht auch ein Glück, denn wenn er in dem Betonrohr stecken geblieben wäre, hätte man ihn niemals gefunden. Auch so war es allerhöchste Eisenbahn gewesen. Kurz vor dem Multiorganversagen hatte man ihn geborgen und sofort intensivmedizinisch versorgt. Was folgte, waren quälende Wochen des Hoffens. Jetzt konnte man sagen, dass Niklas dem Tod durch die Leberteillappenspende von Wolf, die beide gut überstehen sollten, von der Schippe gesprungen war. Zumindest hatte es so ausgesehen. Aber Niklas war immer noch sehr schwach. Eine Niereninsuffizienz war das zweite Übel. Da es zu gefährlich gewesen war, mit dem Leberfragment gleichzeitig eine Niere zu transplantieren, verschob man diese zweite, schwere Operation auf unbestimmte Zeit, was regelmäßige Blutwäschen mittels Dialyse zur Folge hatte. So konnte man sich ein paar Monate behelfen, aber im Herbst wurde man sich bewusst, dass eine zügige Lösung gefunden werden musste. Zwar stand Niklas schon seit seiner Einlieferung ins Krankenhaus auf der Liste von Eurotransplant, aber bisher hatte sich kein Spenderorgan finden lassen. Vater und Sohn wussten, dass eine erneute Lebendspende für Niklas unvermeidbar, ja seine einzige Chance war. Wer hätte ahnen können, dass der Eingriff Wolfs Leben erneut und auf andere Weise verändern würde? Selbst wenn man über die möglichen Risiken aufgeklärt wird, glaubt man doch kaum, dass sie eintreten werden. Man hält die Beschreibungen des Arztes, was eventuell passieren könnte, für eine Absicherung der Krankenhausleitung und vergisst das Ganze schnell, nachdem man unterzeichnet hat. Wer zieht schon gerne „Worst Case“ in Betracht, wenn er sich dazu entschlossen hat, einem anderen Menschen das Leben zu retten, vor allem, wenn es sich dabei um den eigenen Sohn handelt?
Im Dämmerschlaf sah er Doktor Till Niederegger vor sich. Er sah blöd aus mit seiner Eulenspiegelkappe anstatt der OP-Haube. Wolf schüttelte sich. Als Mundschutz hatte er eine grinsende Zahnreihe getragen. Aus dem Fernsehen wusste er, dass es die Dinger tatsächlich gab. Was ihm das Unterbewusstsein aufgrund eines Vornamens vorgaukelte … Beinahe schämte er sich. Der Spezialist für Transplantationsmedizin, den Nadja extra aus dem Klinikum Neuperlach bei München organisiert hatte, hatte etwas Besseres verdient, als so in seinen Träumen zu erscheinen. Er war ein früherer Studienkollege der Rechtsmedizinerin und hatte hervorragende Arbeit geleistet. In Kooperation mit der Medizinischen Hochschule Hannover war der Eingriff durchgeführt worden. Dass Wolf dabei einen Schlaganfall erlitten hatte, war ihm nicht zuzuschreiben. In der MHH hatte er so einen guten Eindruck hinterlassen, dass ihn der Chef der Abteilung für Transplantationschirurgie, Professor Doktor Severin Pichlmayr, vom Fleck weg abgeworben hatte. Gegen eine nicht unerhebliche Summe, wie es in Fachkreisen geheißen hatte. Und da das Transplantationszentrum in Hannover deutschlandweit den besten Ruf genoss, war Niederegger nicht abgeneigt gewesen, dem Locken des Professors Folge zu leisten. Es war quasi eine Art Ritterschlag. Viele Ärzte bewarben sich dort tagtäglich ohne Erfolg.
Niederegger hatte die Nierentransplantation auf Bitten und Drängen von Rechtsmedizinerin Nadja und dem Leiter der Operativen Fallanalyse des LKA Niedersachsen, Thorsten Büthe, in der MHH durchführen dürfen. Allerdings nur unter den strengen Augen des Oberarztes. Pichlmayr und Büthe kannten sich seit Jahren, nachdem der ebenfalls als Hochzeitsfotograf tätige Hauptkommissar den Professor und dessen zweite Braut an ihrem schönsten Tag abgelichtet hatte.
Wolf seufzte im Halbschlaf. Operation gelungen, Spender ein Wrack – eigentlich nur noch zum weiteren Ausschlachten gut, überlegte er und rief sich sofort zur Räson, denn solche Gedanken wollte er überhaupt nicht mehr zulassen. Was immer nun aus ihm werden mochte, auf etwas in seinem Dasein konnte er stolz zurückblicken: Er hatte seinem Sohn das Leben gerettet. Niklas konnte ohne Einschränkungen alt und glücklich werden. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Ja, auch glücklich, denn Nadine war die Richtige für ihn – warmherzig, klug und ein echter Kumpel. Darüber hinaus war sie hübsch anzusehen, was Wolf in waghalsigen Momenten auf niedliche Enkel hoffen ließ. So weit war es also schon. Er dachte daran, Opa zu werden.
Als Wolf wieder auf die Uhr sah, war es kurz vor drei. Potzblitz! Da musste er doch tatsächlich bei seinen wirren Gedanken noch eingeschlafen sein. Zum Kaffeetrinken brauchte er nun nicht mehr zu gehen. Die räumten bestimmt ohnehin längst ab. Aber er sollte sich fertig machen. Bis er sich restauriert hatte und auf die Dienststelle gerollt war, würde es seine Zeit dauern. Und just in dem Moment, als er am schlechtesten abheben konnte, klingelte sein Smartphone.
Unglaubliches
Während Wolf seinen Gedanken und dem Schlaf nachgejagt hatte, war Nadja in der Rechtsmedizin des Schaumburger Großklinikums mit der Sektion der Frauenleiche beschäftigt gewesen.
Zeitgleich beriet sich die SoKo „Engel“ zu den bisher bekannten Einzelheiten. Man trug zusammen, was man hatte und rätselte über die Schrift oder die Buchstaben. Nadine war davon überzeugt, dass sie es mit den Anfangsbuchstaben eines Satzes oder einer Phrase zu tun hatten. Dass es ein Name sein könnte, diese Idee war schnell verworfen worden. Dann schon eher die Theorie, dass das letzte Wort hätte „MOR…D“ heißen sollen, aber der Täter gestört worden war, weswegen das D fehlte. Machte denn dann das erste Wort „ALDRIG“ überhaupt Sinn?
„Ein Eigenname?“, schlug Detlef vor. „Das könnte doch möglich sein.“
Niklas schüttelte den Kopf. „Hab ich gerade mal deutschlandweit bei ,Das Örtliche’ eingegeben. Es gibt niemanden, der so heißt.“
„Was? In ganz Deutschland nicht?“, wunderte sich Peter. „Dann gib das doch mal so ein,