dass der Verstorbene die schwergliedrige Kette mit dem kunstvoll emaillierten Familienwappen um den Hals trug, die er zu Lebzeiten nur bei besonders wichtigen und großen Anlässen präsentiert hatte. Dem verstorbenen Regenten diese Kette umzulegen, war eine der vornehmlichen Aufgaben des designierten Nachfolgers gewesen, ebenso sie ihm kurz vor der Einsargung wieder abzunehmen, um sie für kommende Generationen verwahren und zu gegebener Zeit an sie weitergeben zu können.
»Ach, Bruder!«, hatte Manegold trotz der Freude über das auf ihn zukommende Erbe geseufzt, als er seinem Vorgänger in Amt und Würde die Wappenkette umgelegt hatte. Zuvor hatte er seinem Bruder das Amulett abnehmen müssen, das ihm anlässlich der Kirchenweihe in villa Ysinensi vom Konstanzer Bischof überreicht worden war.
Manegold erinnerte sich noch daran, dass Wolfrad dieses Amulett so lange als wertlos eingestuft hatte, bis ihm sein in Arithmetik und Astronomie erfahrener Sohn Hermann die geheimnisvolle Welt der Zahlen erschlossen hatte, die auf dem Revers des Amuletts zu sehen waren. Und nicht nur das; der kluge und belesene Reichenauer Benediktinermönch hatte auch die Symbolik auf dem Avers des Amuletts zu deuten gewusst. »Laut den Abbildungen und Aufzeichnungen eines alten Buches aus einem fernen Land namens China könnte es sich bei der Darstellung der Leiche in der Mitte des Amuletts um einen verstorbenen ›Huang‹, eine Art ›erhabenen Gottkönig‹ handeln!«, hatte er gesagt und dazu ergänzt, dass die zu beiden Seiten des Toten abgebildeten menschlichen Innereien darauf hindeuten könnten, dass man dem König die lebenswichtigen Organe entnommen hatte, um ihn für die Unendlichkeit einbalsamieren zu können. Nachdem er dies gesagt hatte, waren Manegold und die anderen Zuhörer derart entsetzt gewesen, dass sie allesamt das Kreuz geschlagen hatten und ihm nicht mehr hatten zuhören wollen. Aber Hermann war stur geblieben und hatte das Auditorium, das um ihn herum versammelt gewesen war, weiter aufgeklärt: »In China wurden schon vor dreitausend Jahren Leichenöffnungen vorgenommen, einerseits zum Zwecke der Wissenschaft. Andererseits …«, bevor er weitergesprochen hatte, war von ihm das Amulett so hochgehalten worden, dass es alle hatten sehen können, »… ist dies auch geschehen, um die Erinnerung an bedeutende Menschen für Jahrhunderte oder sogar über Tausende von Jahren hinweg aufrechtzuerhalten. Dabei spielte die Religion schon immer eine wichtige Rolle. Die Abbildungen auf beiden Seiten dieses Amuletts sollen den Betrachtern wohl sagen, dass sie sich ebenfalls der Verbreitung wissenschaftlichen Gedankengutes und dessen Umsetzung zuwenden sollen«
Als wenn es nicht schon still genug im Wappensaal des Altshausener Schlosses gewesen wäre, warnte Hermann seine Zuhörerschaft davor, die Kraft des Amuletts zu unterschätzen. »… denn dort, wo dieses ›Magische Amulett‹ ist, lauert der Tod! Es wird wohl das Beste sein, wenn niemand weiß, wo es sich befindet! Es aber leichtsinnig irgendwo zu vergraben oder auf eine andere Art loszuwerden, würde noch mehr Unheil über den Besitzer und seine Familie bringen!« Er räusperte sich und beendete seinen kurzen Vortrag mit den Worten: »Es ist wie ein böser Fluch!«
Von da an hatten Hermanns Zuhörer gewusst, dass sie ihre Familien auch über die kommenden Generationen hinweg vor diesem Amulett warnen mussten. Wolfrad selbst hatte es bis zu seinem Tod Tag und Nacht an einem Lederriemen um seinen Hals getragen. »Damit es nicht in falsche Hände gerät und somit kein Unheil mehr angerichtet werden kann!«, hatte er in Erinnerung an die grausamen Morde am Ortsvorsteher von villa Ysinensi und an seinem Leibdiener gesagt, bevor er mit einem gequälten Lächeln ergänzt hatte, dass derjenige, der ihm das Amulett abnehmen wolle, ihn umbringen müsse.
Auf Nachfrage hatte Hermann seiner Familie auch die Mythologie und die Symbolik der Zahlen Eins bis Neun, die innerhalb des »Magischen Quadrates« auf der Rückseite zu sehen waren, genau erklären wollen, war aber im Trubel dieser familiären Zusammenkunft nicht damit fertig geworden. So hatte er es zunächst bei der Eins belassen müssen: »Genau so, wie es nicht möglich ist, halbtot zu sein, kann die Zahl Eins nicht geteilt werden. Aber von ihr nimmt jede weitere Zahl ihren Ausgang …«, war alles, an was sich Manegold angesichts seines toten Bruders und dessen ebenfalls toten Leibdieners hatte erinnern können. Was für eine Bedeutung mag dann die Zahl Zwei haben?, hatte er sinniert, während er dem Bruder sanft den Kopf angehoben hatte, um ihm das Amulett abzunehmen und ihm stattdessen das Familienwappen umzulegen.
Schon wenige Tage später sollte er eine zwar nicht ganz zufriedenstellende, aber doch eine Antwort auf seine Frage erhalten. Denn mit Arnulf war ein Neffe nach Altshausen gekommen, der nicht nur Abschied von seinem Oheim nehmen wollte, sondern sich beruflich voll und ganz der Arithmetik verschrieben hatte. Manegold lud Arnulf auf ein persönliches Gespräch zu sich.
»Zwei Dinge – das Gute und das Böse – sind keine gegensätzlichen Pole! Und die Welt ist eine zerrissene Welt! Da wird etwas getrennt, was eigentlich zusammengehört!«, hatte Arnulf ihm gleich zu Beginn dieses Gespräches erklärt.
Das geht ja gut los, dachte sich Manegold. Zum Zeichen dafür, dass er nichts verstanden hatte, zuckte er mit den Schultern und zog die Augenbrauen hoch, während er gleichzeitig die Mundwinkel nach unten schob.
Dann begann sein hochgebildeter Neffe zu dozieren: »Das Bewusste und das Unbewusste, das Harte und das Weiche, das Gerade und das Ungerade, das Offene und das Verborgene, das Hintere und das Vordere, das Oben und das Unten, Licht und Schatten, sowie der rhythmische Wechsel von Tag und Nacht, der mit Helligkeit und Dunkelheit einhergeht, sind Gegensätze, die zwar eine Spannung erzeugen, aber dennoch aufeinander bezogen sind! Das eine kann nicht ohne das andere!«
Bevor der aufmerksame Manegold eine Frage stellen konnte, fuhr Arnulf fort: »Wenn die Zwei aber zu einem Widerspruch führt, dann stehen die soeben genannten Beispiele wie zwei streitbare und unversöhnliche Kontrahenten zueinander! Gerade das Gute und das Böse sind keine Gegensätze, die sich gegenseitig bedingen!«
»Nein?«, kam es versehentlich aus dem Mund des staunenden Zuhörers.
»Nein!«, bestätigte Arnulf, bevor er fortfuhr: »Sie stellen sich sogar gegenseitig infrage: Das Gute ist doch das, was sein soll, oder?«
Weil er auch dies verstanden hatte, nickte Manegold.
»Und das Böse ist das, was nicht sein darf, … aber allgegenwärtig ist!«
Arnulf hatte zwar gemerkt, dass ihm ein gleichsam fassungsloser wie ratloser Mann gegenübersaß. Trotzdem beendete er seine Ausführungen, obwohl es zur Bedeutung der Zahl Zwei noch viel zu sagen gäbe. Denn er hatte sich gut gemerkt, was er während seines Studiums über die Mythologie und die Symbolik der Zahlenfolgen gelernt hatte. »Langer Rede kurzer Sinn!«, sagte er und kam zum Schluss: »Die Zwei ist Zweifel, Zwist, Zwietracht, Zwiespalt; sie ist eine Zwillingsfrucht am Zweig eines Baumes, gleichsam süß und bitter!« Er schaute seinem Oheim warnend in die Augen, dann sagte er abschließend: »Die Zwei bleibt nie allein!«
»Das … das heißt, mein Bruder und dessen Leibdiener sind nicht die letzten …«
Noch bevor Manegold das Unfassbare ausgesprochen hatte, nickte Arnulf und spreizte den Daumen, den Zeige- und den Mittelfinger seiner rechten Hand, die er seinem Onkel warnend entgegenstreckte.
*
Nachdem Gott den Grafen Wolfrad von Altshausen, den gottesfürchtigen Kirchenstifter, in den Himmel abberufen hatte, war laut Erbrecht die um Veringen erweiterte Grafschaft Altshausen mitsamt den Herrschaften Trauchburg und Ysinensi auf seinen Bruder Manegold und seine verwitwete Schwester Irmengard übergegangen. Manegold I. war nun der uneingeschränkte Herr des traditionsreichen Hauses Altshausen, das sich um einiges erweitert hatte.
Dem umsichtigen Grafen gelang es mit dem nötigen Weitblick, das Erbe seines Bruders Wolfrad so erfolgreich fortzusetzen, dass sich sein Herrschaftsgebiet in jeder Hinsicht prächtig entwickelte.
Klosterstiftung bringt Unheil, Dorfentwicklung Fortschritt
Altshausen und Ysinensi – Anno Domini 1090, 1096, 1100 und 1104
Die magische Zahl III
Kapitel 4
Aus Dankbarkeit für seine glückliche Hand und auf Wunsch des längst verstorbenen Benediktinermönchs Hermannus Contractus mochte Manegold zusammen mit seiner Gemahlin Liutphild und mit seiner Schwester Irmengard