Peter Gerdes

Stahnke und der Spökenkieker


Скачать книгу

Blick seines Vorgesetzten sah: »Natürlich sind beide Augen noch da, aber sie kann nur auf einem sehen. Das andere ist praktisch blind.«

      »Das tut mir Leid.« Stahnkes Stimme klang brüchig.

      »Ja.« Kramer fuhr fort: »Sie war erst sechs Monate alt, als mir etwas auffiel. Beim Füttern, wissen Sie. Da saß ich mit ihr im Kinderzimmer, nur die Nachttischlampe brannte, die Kleine war ganz entspannt, saugte mit Hingabe und schaute mich dabei an, die Augen weit offen und die Pupillen riesengroß. Ich konnte alles darin sehen, mich selbst, das Zimmer, alle meine Träume. Und plötzlich diese kleine Galaxis in ihrem rechten Auge.«

      Mein Gott, Kramer, dachte Stahnke. Die Ratio auf zwei Beinen, beherrscht bis zum Gehtnichtmehr, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Dachte ich immer. Dieser Gegenbeweis war nun wirklich nicht nötig. Er wandte sich ab, als sein Kollege das Taschentuch zückte, und drehte sich erst wieder um, als Kramer weitersprach.

      »Im selben Moment, als ich diesen Nebel bemerkte, wusste ich auch schon, was das war. Ich wusste es, aber ich konnte es nicht glauben. Statt genauer hinzusehen, wollte ich es einfach nicht wahrhaben, verstehen Sie?«

      »Verstehe ich«, sagte Stahnke. »Und dann gingen Sie zu Wohlmann?«

      »Er hat mir genau das erzählt, was ich mir zu hören gewünscht hatte. ›Ach, das kennen wir ja, überängstliche Eltern, die bilden sich alles Mögliche ein. Nicht wahr, hahaha, das wollen wir mal nicht so ernst nehmen, was besorgte Eltern so zu sehen glauben.‹ Tja. Ich hab’s ihm geglaubt, weil ich ihm glauben wollte, weil es ja so schön gewesen wäre, wenn es gestimmt hätte.« Kramer schluckte. »Hat aber nicht gestimmt.«

      »Was war es denn?«

      »Ein Blutgefäß, das da nicht hingehörte. Habe mich später über die Zusammenhänge informiert. Während der Entwicklung eines Embryos werden sozusagen Versorgungsleitungen für bestimmte Organe aufgebaut, zum Beispiel für die Augen. Und wenn die dann fertig aufgebaut sind und nur noch zu Ende wachsen müssen, werden diese Leitungen, also die Adern, wieder abgebaut. Eben aufgelöst. Ihre Substanz geht in den kleinen Körper mit ein.«

      »Schlau«, sagte Stahnke.

      Kramer lächelte: »Ja, nicht wahr? Ist schon eine tolle Sache, das Leben, so rein planungstechnisch. Nur leider wurde diese eine Versorgungsleitung nicht wieder abgebaut. Sie blieb bestehen, dort, wo sie nicht mehr hingehörte. Echter Planungsfehler.«

      »Genetischer Defekt?«

      »Vermutlich.« Kramers Blick ging an Stahnke vorbei ins Leere. »Die Ader saß als Fremdkörper an der Linse, weiß und gekrümmt, wie eine winzig kleine Galaxis, und hat sie getrübt. Wenn man rechtzeitig operiert hätte, wäre die Linse zwar wohl auch nicht mehr zu retten gewesen, auf jeden Fall aber hätte man die Sehfähigkeit des Auges annähernd erhalten können, und dann hätte Steffi die Möglichkeit gehabt, sich eines Tages als Erwachsene eine künstliche Linse implantieren zu lassen. Das kann sie jetzt abhaken.«

      »Kann Steffi denn mit dem rechten Auge gar nichts mehr sehen?«

      »Praktisch nichts. Selbst die restliche Sehfähigkeit, die paar Prozent, die anfangs noch nachzuweisen waren, wurde nicht erhalten. Das hat Wohlmann auch versaut. Falsch therapiert, zu spät, zu halbherzig. Der Augenarzt, zu dem wir später gegangen sind, hat’s gar nicht glauben wollen. Aber da war der Schaden schon angerichtet.«

      »Und was hat dieser … dieser Doktor Wohlmann dazu gesagt?« Stahnke bekam seine Kiefer nur mit Mühe auseinander. Die verkrampften Muskeln schmerzten.

      »Was er gesagt hat? ›Glückwunsch zu Ihrer Diagnose, Sie hatten ja wohl doch Recht.‹ Das hat er gesagt. Wirklich wahr. Steffi hat den doch überhaupt nicht interessiert. Ich bin damals aus dieser Praxis rausgegangen wie betäubt. Und nie wieder hingegangen. Wir haben sofort danach den Kinderarzt gewechselt. Wer weiß …«

      »Ja«, sagte Stahnke. Nicht, dass er Kramer eine Affekthandlung zugetraut hätte. Eine Gewalttat schon gar nicht. Aber verstanden hätte er es. Was sicher ein Fehler war, überlegte er, denn schließlich war Rache keine Privatsache, sondern – tja, seine. Seine Sache. In gewisser Weise. Als Sachwalter des staatlichen Gewaltmonopols. Aber immerhin wäre dies schon Motiv Nummer drei. Erstens religiöser Wahn, zweitens Eifersucht, drittens Rache. Ein nettes Sortiment. Man musste nur noch seine Wahl treffen. »Rache«, murmelte er vor sich hin.

      »Was?« Kramer schreckte hoch.

      »Wir sollten uns doch mal die Patientenkartei durchschauen«, sagte Stahnke. »Vielleicht mit Mergner zusammen, der sieht bestimmt Dinge, die wir nicht sehen. Oder nicht verstehen. Wo sind denn die Akten hier?«

      »In den Metallschränken nebenan«, sagte Kramer. »Steht jedenfalls dran. Die Dinger sind abgeschlossen. Aber da kommen wir schon ran. Soll ich den Przybilski rufen?«

      »Przybilski.« Stahnke stutzte.

      »Ja, Sie wissen doch, den Hausmeister …« Er unterbrach sich, weil Stahnke ungeduldig abwinkte. Da war etwas, kein Gedanke, keine Erinnerung, sondern nur ein Zipfelchen davon, irgend etwas Erhaschtes. Was?

      »Die Zeitung«, sagte er. »Her das Ding.«

      Kramer fragte nicht, sondern schob das Blatt wortlos über den Tisch.

      Der Sportteil. Regionalsport, Bundesliga, Lokalsport? Nein. Huren- und sonstige Anzeigen auch nicht. Was war es?

      Geboren, geheiratet, gestorben. Das war es. Die Todesanzeigen. Schnell überflog er die fett gedruckten Namen in den schwarz umrandeten Annoncen. Blätterte um, schaute, blätterte zurück. Nein, das war es nicht. Kein Przybilski. Kein kleines Kind dieses Namens, gestorben wegen ärztlicher Interesselosigkeit und Selbstüberschätzung, kein kleiner Engel, der nach Rache schrie.

      Oder? Nicht so hastig, Stahnke, nicht so luschig. Schau genauer hin.

      Er las die Lebensdaten der Verstorbenen. Erstaunlich, wie alt die Leute in Ostfriesland wurden … aber hier, geboren 1990, ein kleiner Junge. Aber er trug einen ganz anderen Namen und hatte auch nicht in Leer gelebt. Die Anzeige war mit einem Kreuz versehen und mit einem Spruch. Nein, kein Bibelwort: »Enttäuschtes Hoffen brennt heißer als die Hölle.« Ach herrje, wer ließ sich denn so was einfallen?

      Stahnke sah zu Kramer hinüber. Der Oberkommissar hatte sich wieder hingesetzt, die Beine gespreizt, den Oberkörper geneigt, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, die Handflächen gegeneinander gepresst und den Blick zu Boden gerichtet. Oh ja, auch er hatte gehofft. Obwohl er gesehen hatte und wusste. Aber da war einer, der hatte seiner Hoffnung Nahrung gegeben. Nicht aus Bosheit, nein, aus reiner Bequemlichkeit und Besserwisserei. Was war wohl schlimmer?

      Stahnke wandte sich ab. Sein Blick streifte den Heizkörper. Schau genau hin, verdammt noch mal.

      Wieder las er die Anzeige: »Enttäuschtes Hoffen brennt heißer als die Hölle. Viel zu früh … nach langem Leiden … in Liebe…«, dann die Namen der Eltern und Großeltern, Geschwister gab es offenbar keine, aber da: »Dein Patenonkel.« Und dahinter der Name.

      »Also doch«, sagte Stahnke. »Erich Przybilski.« Das Bauerngesicht. Er hatte genau hingeschaut: Die Augen hinter den vorgehaltenen Händen waren trocken gewesen.

      »Was?« Wieder wurde Kramer aus seinen Gedanken hochgeschreckt.

      »Holen Sie Przybilski her«, sagt Stahnke. »Bitte. Und seien Sie höflich zu ihm.«

      DAS BLINZELN DES AUTOMATEN

      Als er den Automaten sah, konnte sich Stahnke eines Grinsens nicht erwehren. »Kottan«, murmelte er leise vor sich hin. Tatsächlich erinnerte der ungeschlachte beigefarbene Kasten stark an den sadistischen Apparat aus der österreichischen Krimiserie. »Kein Kaffee für den Präsidenten«, zitierte der Hauptkommissar leise und stellte sich dabei seinen eigenen Chef vor, wie er versuchte, den Getränkeautomaten von einer Felsklippe zu stürzen.

      »Wie bitte?«

      Stahnke zuckte zusammen, aber es war nur Kramer.

      »Nichts, nichts. Lassen Sie sich nicht stören.«

      Kramer